Russländischer Drohnenangriff auf einen Kindergarten in Charkiv, 22.10.2025
Russländischer Drohnenangriff auf einen Kindergarten in Charkiv, 22.10.2025

Meter um Meter

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 184.-185. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 29.10.2025

Russlands Volkswirtschaft zeigt Krisenerscheinungen. Neue US-Sanktionen gegen die beiden größten Ölunternehmen des Landes werden diese verschärfen. Die Auswirkungen ukrainischer Luftangriffe auf Raffinerien in Russland bleiben hingegen begrenzt. Die immer schwereren Luftangriffe Russlands haben hingegen die Infrastruktur der Ukraine bereits so stark beschädigt, dass ein sehr schwerer Kriegswinter zu befürchten steht. Immer wieder sterben bei diesen Angriffen überall in der Ukraine Zivilisten. Besonders dramatisch ist die Lage der Zivilbevölkerung jedoch in den frontnahen Gebieten, insbesondere in Cherson. An der Front ist die ukrainische Armee weiter in Bedrängnis, die Besatzungstruppen kämpfen sich Meter um Meter vor.

US-Präsident Trump hat nach dem gescheiterten Treffen in Anchorage einen neuen Anlauf genommen, Russland zu einem Waffenstillstand an der aktuellen Frontlinie zu bewegen. Doch ein geplantes Treffen mit Russlands Präsidenten Putin in Budapest wurde am 21. Oktober abgesagt. Der zentrale Grund ist, dass Russland nicht zu einer Einstellung des Kriegs bereit ist. Russlands Außenminister Lavrov stellte das Nichtzustandekommen des Treffens so dar: Trump sei „unter dem Einfluss der Falken aus der EU“ von der Idee eines grundsätzlichen Friedens zwischen Russland und der Ukraine abgerückt. In den USA wurden in der Folge Details über das Treffen in Alaska an die Presse durchgestochen. Putin habe Trump mit einem historischen Vortrag zugetextet, statt über konkrete Fragen zu sprechen. Dies habe Trump so erzürnt, dass er ein geplantes Essen abgesagt habe und abgereist sei.

Nach der Absage der Zusammenkunft in Budapest belegten die USA die beiden größten Ölkonzerne Russlands Rosneft‘ und Lukojl sowie 34 Tochterunternehmen mit Sanktionen und begründete dies explizit damit, dass Russland sich nicht zu einem Friedensprozess bekenne, der zu einem Ende des Kriegs in der Ukraine führt. Ziel ist es, Russlands Deviseneinnahmen stark zu beschränken. Ob dies gelingt, ist offen. Indien hat zumindest offiziell die Einfuhr von Öl aus Russland stark heruntergefahren; China verspricht, dies zu tun. Die Frage ist aber, ob es den beiden Konzernen nicht schon bald gelingt, ihr Öl an Zwischenhändler zu verkaufen, die nicht auf der Sanktionsliste stehen. Weiter im Raum steht die Frage, ob die USA der Ukraine Tomahawk-Marschflugkörper verkauft. Unabhängig davon ist nicht klar, ob diese erheblichen Einfluss auf den Fortgang des Krieges hätten. Es handelt sich um eine vor 40 Jahren entwickelte Waffe, deren Bekämpfung bereits Hauptaufgabe der sowjetischen Flugabwehr war.

Die Hoffnung, dass Russlands Volkswirtschaft in die Knie gezwungen werden könne, ist hingegen keineswegs so aussichtslos, wie es gelegentlich dargestellt wird. Bereits seit Frühjahr ist die Produktion in vielen Sektoren um 10–30 Prozent eingebrochen. Nun gibt es Hinweise, dass auch die Rüstungsproduktion nach einem Wachstum von 15–61 Prozent in unterschiedlichen Teilsektoren leicht zurückgegangen ist. Dies deutet darauf hin, dass die Haushaltslage angesichts der extensiven Militärausgaben immer schwieriger wird. Seit September ist in einigen Regionen auch der Sold für Vertragssoldaten massiv gekürzt worden. Angehörige einiger Berufsgruppen erhalten überhaupt keinen erhöhten Sold mehr, wenn sie in die Armee wechseln, etwa Polizisten, die zur Armee herangezogen werden.

Die Lage an der Front

Am 26. Oktober rapportierte der Generalstabschef der Streitkräfte Russlands Valerij Gerasimov Oberbefehlshaber Putin über die Lage an der Front. In dem veröffentlichten Teil des Rapports behauptete er, Russlands Armee habe bei Pokrovs’k und Kupjans’k je 5000 ukrainische Soldaten eingekreist, in Sivers’k und Kostjantynivka würde im Stadtzentrum gekämpft und die bei Lyman gelegene Siedlung Jampol‘ sei eingenommen worden. Nicht nur ukrainische Quellen, sondern auch die russländischen Militärkanäle berichten von nichts dergleichen. Von zehn Punkten, die Gerasimov zur Lage an der Front vortrug, entsprachen zwei den Tatsachen, eine wenigstens teilweise, eine ist schwer zu prüfen. Sechs waren jedoch glatt gelogen – und diese standen im Zentrum des Rapports.

Dies bedeutet nicht, dass die Lage der ukrainischen Armee gut wäre. Von Nord nach Süd betrachtet, gestaltet sich die Situation so:

Im Norden des Gebiets Sumy wird weiter gekämpft, die ukrainischen Truppen unternehmen gelegentliche Versuche, verlorene Dörfer wieder einzunehmen. Russland bindet hier vor allem ukrainische Kräfte.

Im Norden des Gebiets Charkiv greift Russland weiter an vier Stellen von russländischem Territorium aus an. Die ukrainische Armee steckt hier in erheblichen Schwierigkeiten. Das völlig zerstörte Stadtzentrum von Vovčans’k ist offenbar zu drei Vierteln in der Hand der Okkupanten. Die russländischen Einheiten hatten hier im September den Fluss Vovča überschritten, der für mehr als ein Jahr die Frontlinie gebildet hatte.

Am 20. Oktober schuf die Ukraine eine neue Gruppe „Vereinigte Kräfte“ unter dem Befehl von Generalmajor Michajlo Drapatyj, der früher die Gruppierungen „Chortyca“ und „Dnipro“ kommandierte. Alle Einheiten der Armee, der Nationalgarde und des Grenzschutzes im Gebiet Charkiv unterstehen jetzt direkt Drapatyj. Erstes Ergebnis der Umgruppierung war ein ukrainischer Angriff mit Himars-Raketen auf die 1985 errichtete Staumauer des größten Stausees im russländischen Gebiet Belgorod. Der 23 km² große Stausee floß rasch ab, was wahrscheinlich dazu geführt hat, dass die Schützengräben der russländischen Truppen am Südufer der Vovča in Vovčans’k überflutet wurden und die dort stehenden Einheiten von der Versorgung abgeschnitten wurden. Ob dies den ukrainischen Truppen ermöglicht hat, die Okkupationstruppen vom südlichen Ufer zu vertreiben, ist unklar.

In Kupjans’k im Osten des Gebiets Charkiv dauern die schweren Straßenkämpfe an. Die Besatzer konnten in der zweiten Oktoberhälfte jedoch nur geringfügig tiefer in bebautes Gebiet eindringen und kontrollieren weiterhin nur den Nordwesten der Stadt. Die ukrainischen Truppen im Ostteil der Stadt und am Ostufer des Oskil‘ können weiter gut versorgt werden. Sollte eine Fortsetzung der Kämpfe aussichtslos sein, ist eine Evakuierung durchführbar.

Größere Probleme hat die ukrainische Armee weiter südlich im Bereich des Übergangs zwischen dem Gebiet Charkiv und dem Gebiet Donec’k. Nordwestlich von Lyman umgehen die Besatzungstruppen durch die dortigen Wälder die entlang des Sivers‘kyj Donec‘ stehenden Einheiten der ukrainischen Verteidigung. Möglicherweise gelingt es ihnen im Verlauf der kommenden zwei Wochen, zum östlichen Stadtrand von Svjatohirs’k vorzustoßen. Gegenwärtig versperrt eine letzte Siedlung den russländischen Truppen noch den Weg. In Lyman halten die ukrainischen Verteidiger die Frontlinie und den russländischen Einheiten ist es auch nach zweimonatigen Kämpfen nicht gelungen, das östlich davon gelegene Dorf Jampol‘ einzunehmen.

Südöstlich von Lyman gehen die Kämpfe um die Stadt Sivers’k weiter, die den östlichsten von der Ukraine gehaltene Punkt an der Front bildet. In den vergangenen sechs Wochen hatten sich die russländischen Truppen von Nordosten und von Süden an die Stadt herangekämpft und stehen seit der vorletzten Oktoberwoche nun auch nordwestlich der Ortschaft. Gehen die Kämpfe wie bislang weiter, kann die Ukraine Sivers’k noch mindestens zwei Monate halten. Eine rasche Aufgabe kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Weiter südlich haben die russländischen Truppen im Raum Torec’k offenbar die Einheit der ukrainischen Armee eingeschlossen, welche die am Westrand der Stadt gelegene Kohlegrube Matrona Moskovs’ka hält. Die genaue Lage ist unklar, fest steht aber, dass die russländischen Truppen nun auch von Südosten auf die ohnehin bereits von drei Seiten eingeschlossene Siedlung Kostjantynivka vorrücken.

Pokrovs’k

Im Raum Pokrovs’k ist ein ständiges Hin- und Her zu beobachten. Nach dem Durchbruch der Besatzungstruppen bei Dobropillja hatten ukrainische Einheiten seit Ende August recht erfolgreich versucht, diese von dort wieder zu vertreiben. Ende September gelang den russländischen Einheiten jedoch ein neuer Durchbruch, bei dem sie die Dörfer Nove Šachove und Kučeriv Jar unter ihre Kontrolle brachten. Am 14. Oktober versuchten die Besatzungstruppen mit einer Kolonne aus 30 Fahrzeugen von der westlich von Malynivka gelegenen großen Kreuzung an der Straße Pokrovs’k-Kostjantynivka in den Rücken der ukrainischen Einheiten zu gelangen, die den russländischen Vorstoß bei Nykanorivka abzuschneiden versuchte. Solche gewagten Manöver haben die russländischen Truppen im vergangenen Jahr immer wieder unternommen, etwa bei Vuhledar, in mehr als der Hälfte der Fälle sind diese aber gescheitert. So auch in diesem Fall: die ukrainische 3. Sturmbrigade griff die Kolonne mit Drohnen und Artillerie an, rund 20 Fahrzeuge wurden zerstört, Dutzende Soldaten getötet. Am 22. Oktober eroberten ukrainische Einheiten Kučeriv Jar zurück und nahmen 50 Gefangene, womit der Durchbruch von einst 15 Kilometer auf nunmehr nur noch vier eingedämmt ist.

Doch dieser Erfolg ändert nichts an der Lage der ukrainischen Truppen, die Pokrovs’k, Myrnohrad und einige weitere Siedlungen der Agglomeration halten. Diese sind seit Mitte Oktober fast vollständig eingeschlossen, die Gefahr ist groß, dass die Besatzer den Ring bald vollständig schließen können. Am 20. Oktober nahm die russländische Armee die Ortschaft Rodyns’ke nördlich von Pokrovs’k ein und schnitt damit eine der wichtigsten ukrainischen Versorgungslinien ab. Zugleich greift sie mit Drohnen Fahrzeuge auf den Feldwegen südwestlich von Pokrovs’ka an, wo stellenweise „Autofriedhöfe“ mit Dutzenden schwer beschädigten PKWs entstanden sind. Andererseits gab die ukrainische Armee am 25. Oktober bekannt, das Dorf Suchec’ke nordwestlich von Rodyns’ke zurückerobert zu haben. Ob dies aber dazu führt, dass sie die von Pokrovs’k nach Norden führende Straße wieder unter Kontrolle bringen können, ist völlig offen.

In Pokrovs’k selbst ist die Lage der ukrainischen Einheiten äußerst prekär. Die Besatzer sind in kleinen Gruppen mit insgesamt rund 250 Soldaten in die westlichen und zentralen Bezirke eingedrungen und haben die wichtigsten Verbindungen aus der Stadt in Richtung Westen unter ihre Kontrolle gebracht. Sie machen Jagd auf ukrainische Trupps, insbesondere die Drohneneinheiten, auf die sich die Verteidigung im wesentlichen stützt. Am 20. Oktober etwa fanden bereits Gefechte im Bereich des zentral gelegenen Bahnhofs statt. Der ukrainische Generalstab stuft die Situation als „kritisch“ ein und die Ukrajins’ka Pravda veröffentlichte eine Reportage, in der Soldaten aus der Stadt berichten, dass die Einheiten wegen der am Himmel hängenden Drohnen nur noch zu Fuß versorgt werden und Verwundete praktisch nicht mehr evakuiert werden können. In einer solchen Lage hatten sich die ukrainischen Einheiten in Bachmut, Avdijivka und Vuhledar befunden, bevor diese Städte fielen. Nun versuchen rasch verlegte Spezialeinheiten des Militärischen Aufklärungsdiensts HUR, die russländischen Soldaten aus der Stadt zu vertreiben. Ziel könnte es sein, die Evakuierung der verbliebenen Trupps zu ermöglichen.

Der Südabschnitt

Südwestlich von Pokrovs’k hält die ukrainische Verteidigung bei Novopavlivka dem Ansturm der Besatzer weitgehend stand. Die Lage hat sich jedoch nach dem Verlust von sechs Siedlungen auch dort verschlechtert. Am 17. Oktober stießen die Besatzer von Verbove kommend in südliche Richtung zu dem kleinen Fluss Jančul vor und nahmen das Dorf Privil’ne ein. Auch wenn die russländischen Truppen Ende Oktober bei Jehorivka gestoppt wurden, zeichnet sich hier ein sehr gefährlicher Durchbruch ab. Die ukrainische Armee hat ihre zentralen Verteidigungsanlagen in diesem Raum 30 Kilometer weiter südlich bei Huljaj-Pol‘e gegen die seit 2022 von Süden her geführten Angriffe errichtet. Der direkt auf die Großstadt Zaporižžja zielende Vorstoß der Besatzungstruppen zwingt sie, dort ganz neue Verteidigungslinien zu errichten.

Auch aus dem weiter südwestlich gelegenen Raum Orichiv gibt es keine guten Nachrichten für die Ukraine. Dort sind die Besatzungstruppen mit einer Panzerkolonne ins Zentrum der Siedlung Mala Tokmačka vorgestoßen. Dort wurden sie zwar von ukrainischen Truppen gestoppt, die aus Orichiv herbeigeeilt waren. Doch der Vorfall zeigt, dass Panzer, die angesichts der Entwicklung in der Drohnentechnik schon vollkommen abgeschrieben worden waren, durchaus noch eine Rolle in diesem Krieg spielen können.

Ganz im Süden des aktuellen Kampfgebiets haben sich die russländischen Truppen in der einstigen Uferzone des abgelaufenen Kachovka-Stausees nach dreimonatigen Kämpfen in der Siedlung Plavni festgesetzt und können somit ihre im eroberten südlichen Stadtteil von Stepnohirs’k stehenden Einheiten besser versorgen. Auch dies vergrößert die Gefahr für Zaporižžja. Die Stadt wird bereits jetzt mit Kampfdrohnen und Raketen angegriffen, von Stepnohirs’k aus liegt sie in der Reichweite der Artillerie und die südlichen Stadtteile auch im Einsatzradius von über Glasfaserkabel gesteuerten Kleindrohnen.

Der Luftkrieg und die ukrainische Energieinfrastruktur

Beide Kriegsparteien setzen die Luftangriffe auf Ziele im Hinterland des Gegners fort. Der ukrainische Präsident Zelens’kyj hatte zwar im September davon gesprochen, dass es notwendig sei, den Luftkrieg einzustellen, zeigte sich nun aber Ende Oktober bei einem Treffen mit der Militärführung mit den Ergebnissen der ukrainischen Attacken zufrieden. Russlands Ölindustrie bezahle bereits einen hohen Preis und dieser würde noch steigen.

Die ukrainischen Angriffe

So wurden etwa bei Angriffen auf Ölanlagen bei Feodossija auf der besetzten Krim elf Tanks vollkommen zerstört und einige weitere so schwer beschädigt, dass eine Reparatur wohl nicht möglich ist. Am 16. und 17. Oktober folgten erneute Angriffe mit Flug- und Seedrohnen sowie Raketen auf Öllager und Umspannwerke auf der Krim. Vor allem bei Feodossija kam es zu Großbränden, in einigen Landkreisen fiel der Strom aus. Der größte Erfolg war der Absturz eines russländischen SU-30 Kampfbombers, der möglicherweise bei der Jagd auf Seedrohnen von der eigenen Flugabwehr abgeschossen wurde.

Zwar hat die Ukraine mit solchen Attacken einigen Quellen zufolge in 40 Prozent aller Raffinerien Russlands Schäden verursacht. Nahezu jede Nacht gehen irgendwo in Russland Treibstofflager in Flammen auf, deutlich seltener brennen auch einmal Raffinerieanlagen, die besser geschützt werden. In einer wachsenden Zahl von Regionen herrscht Benzinmangel und die Treibstoffpreise steigen. Doch tiefgreifende Schwierigkeiten konnte auf diese Weise Russlands ölverarbeitender Industrie nicht bereitet werden. Auch der Export konnte mit Luftangriffen nicht reduziert werden. Weder die Bewohner der Millionenstädte noch die Armee sind mit Treibstoffengpässen konfrontiert.

Große Probleme verursachen die Attacken nur auf der Krim und im Gebiet Belgorod, insbesondere in den dortigen grenznahen Landkreisen. Die Stadt Belgorod geht dem Militärkanal „Dva majora“ zufolge „in die Verdunklung“, immer mehr Einrichtungen legen sich Generatoren zu.

Die Ukraine versucht auch, mit systematischen Drohnenangriffen auf Betriebe, die Komponenten für Raketen und Drohnen herstellen, Russlands Fähigkeiten zur Kriegsführung zu beeinträchtigen. Diese Betriebe befinden sich in einer Vielzahl von Klein- und Mittelstädten im europäischen Teil Russlands und sind kaum von Luftabwehr geschützt. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise darauf, dass die Attacken die Produktion eines Unternehmens für längere Zeit lahmgelegt oder die Zahl der hergestellten Raketen beeinflusst hätten. Ausnahmen sind Produktionsstätten in den grenznahen Gebieten Brjansk und Belgorod. Bei einem Angriff auf die Chemiefabrik Brjansk am 21. Oktober mit Storm-Shadow-Raketen wurde diese nach ukrainischen Angaben vollständig zerstört.

Die Angriffe Russlands

Anders sieht die Bilanz der russländischen Angriffe aus. Die ständigen Attacken der letzten Wochen auf Umspannwerke sowie auf Erdgasförderanlagen könnten zu einer schweren Energiekrise in der Ukraine im Winter führen. Obwohl Russland seit drei Jahren solche Angriffe führt, sind immer noch nicht alle Anlagen ausreichend geschützt. Dies machen sowohl Politiker als auch Fachleute aus dem Energiesektor zum Thema.

40 Prozent der Förderanlagen im Gebiet Poltava, wo der größten Teil des ukrainischen Erdgases gefördert wird, sind zerstört. Einen besonders schweren Angriff gab es am 16. Oktober. Zu schweren Schäden führte der Angriff auf die Kraftwerke Nr. 5 und Nr. 6 in Kiew am 10. Oktober sowie auf Umspannstationen in den Gebieten Kiew und Černihiv. Dies beeinträchtigt die Stromversorgung der Gebiete Černihiv und Sumy im Nordosten der Ukraine.

Auch Eisenbahnlagen geraten zunehmend ins Visier der russländischen Armee, insbesondere die zentralen Routen, die von Kiew nach Westen und Osten führen. Attackiert werden Bahnumspannwerke, Bahnhofsgebäude, Triebwagen und selbst Gleisanlagen. In den vergangenen dreieinhalb Kriegsjahren hatte es zwar einige Angriffe mit vielen Toten gegeben – etwa jener auf den Bahnhof von Kramatorsk am 8. April 2022 –, doch der Zugverkehr funktionierte fast reibungslos. Jetzt jedoch häufen sich die Ausfälle und Verspätungen.

Die Ausweitung der russländischen Drohnenproduktion und die Modernisierung der Raketen, von denen heute wesentlich mehr die Luftabwehr überwinden als noch vor zwei Jahren, verschlimmert die Situation. Die Lage verschärft sich dadurch, dass Russland beginnt, die eingesetzten Gleitbomben mit einem Raketenantrieb auszustatten. Dies ermöglicht es, eine Sprengladung von mehr als einer Tonne auf eine Entfernung von mehr als 200 Kilometer hinter der Front zu bringen. Gefährdet sind somit Kraftwerke, Industrieanlagen und selbst große Brücken. Am 18. Oktober wurden solche Bomben bei Angriffen auf Mykolajiv und Kamens’ke, beides Städte im frontnahen Hinterland, eingesetzt.

Am 25. Oktober verkündete Russlands Fernsehaufwiegler Vladimir Solov’ev, der als Putins Sprachrohr für Drohungen fungiert, in Charkiv, Odessa und Kiew werde es kein Leben geben, falls die Ukrainer nicht Zelens’kyj stürzen.

Dies kann man entweder als tatsächliches Ziel der aktuellen Angriffe betrachten oder als Drohkulisse für Verhandlungen. Fest steht, dass ungeachtet der aggressiven Rhetorik aus dem Mund führender russländischer Politiker und ihrer Propagandisten Absprachen über konkrete Fragen weiter möglich sind. So stellten etwa auf der Basis einer von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) vermittelten lokalen Waffenruhe beide Seiten am 22. und 23. Oktober 2023 in der Gegend des AKW Zaporižžja das Feuer ein, was eine Reparatur der zu dem Kraftwerk führenden Stromleitung ermöglichte. Zuvor waren die sechs abgeschalteten Reaktoren mehr als einen Monat lang mit Hilfe von Notstromaggregaten gekühlt worden. Am 23. Oktober tauschten Russland und die Ukraine die Leichen umgekommener Soldaten aus –1000 Gefallene aus der Ukraine gegen 31 aus Russland. Auch die Übereinkunft, zivile Schiffe in den Schwarzmeer-Häfen des Gegners nicht anzugreifen, wird eingehalten. Zwar gibt es keine offiziellen Belege, doch man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es solche Absprachen auch in Sachen Raketen- und Drohnenangriffe gab. Diese werden nicht mehr eingehalten und es sieht danach aus, als hätten beide Seiten kein besonderes Interesse an einer Erneuerung.

Zivile Opfer der russländischen Luftangriffe

Am 22. Oktober schrieb der Filmwissenschaftler und Mönch des im Gebiet Černihiv gelegenen Klosters Novohorod-Sivers’kyj Irinej (Usenko) auf seiner Facebook-Seite:

„Am gestrigen Tag wurde ein weiteres trauriges Kapitel in der Geschichte unseres lange Zeit ruhigen Städtchens geschrieben. Vier Tote und (nach jüngsten Angaben) zehn Verletzte. An die Drohnen hatten wir uns schon fast gewöhnt. Der Herbst kündigte sich dann aber mit einer systematischen Ausschaltung des Strom- und Eisenbahnnetzes an. Licht gibt es für ein paar Stunden am Tag, und noch ist es nicht Abend, im Sinne: es ist erst Oktober. Tagelang den Generator laufen lassen können sich die wenigsten leisten. Aber kein Strom ist das eine. Ein Artillerieangriff mit Streumunition am hellichten Tag auf einen Park mit Spielplatz – das ist etwas ganz anderes. Von einem Versehen kann keine Rede sein. Die ganze Zeit hing eine Aufklärungsdrohne über der Stadt. Der Angriff auf einen Ort, wo sich Jugendliche treffen und Kinder spielen, war ganz gezielt. Mein Bauernverstand sagt mir: Das war der Auftakt zur Schaffung der sogenannten Pufferzone, eines Landstrichs, wo kein Leben möglich ist. Wir befinden uns in der 30-Kilometer-Zone. Ein kleiner ,Hinweis' von der anderen Seite: ,Packt Eure Sachen, hier wird es sehr übel.'“

Fast täglich sterben Zivilisten durch die massiven Drohnen- und Raketenangriffe auf kleine und große Städte. Dies sind alleine die Fälle vom Oktober 2025, die für Aufmerksamkeit in den ukrainischen Medien gesorgt haben: Am 5. Oktober schlug eine Rakete in ein Haus in der Siedlung Lapaevka westlich von L’viv ein. Unweit davon befand sich das Flugzeugreparaturwerk L’vov. Eine fünfköpfige Familie, darunter ein 15-jähriges Mädchen, kam ums Leben, zwei weitere Bewohner des Hauses wurden schwer verletzt. Am 22. Oktober starben in der am nordöstlichen Stadtrand von Kiew gelegenen Siedlung Pohreby ein sechs Monate alter Säugling, die Mutter des Mädchens und deren 12-jährige Nichte durch einen Drohnenangriff. Am 26. Oktober erstickten eine 19-jährige Studentin und ihre Mutter in ihrer Kiewer Wohnung, nachdem ein Drohnenangriff einen Brand ausgelöst hatte.

Ebenfalls am 22. Oktober schlug eine russländische Drohne in Charkiv in einen Kindergarten ein. Die 48 Kinder befanden sich im Luftschutzkeller und wurden aus dem brennenden Gebäude gerettet. Ein Passant wurde getötet, sieben verletzt. Angeblich habe dieser Vorfall US-Präsident Trump dazu bewegt, den Erlass über die neuen Sanktionen zu unterzeichnen.

Weniger beachtet als diese Angriffe, wie sie ausschließlich von Russland geführt werden, steht der Alltag der Bevölkerung in den frontnahen Regionen – sowohl auf dem besetzten als auch auf dem von der Ukraine gehaltenen Territorium. Diese ist in einem auf beiden Seiten der Kontaktlinie mehr als 20 Kilometer tiefen Kriegsgebiet täglichen Drohnen- und Artillerieangriffen ausgesetzt. Ein typischer Fall ereignete sich am 26. Oktober im Gebiet Sumy. Eine russländische Drohne griff mitten am Tag nahe der Ortschaft Mykolajivka einen Kleinbus an, die 15 Insassen des in Flammen aufgegangenen Busses, darunter ein achtjähriges Kind und ein Jugendlicher, wurden teils schwer verletzt. Russländische Militärkanäle veröffentlichten das aus der Drohne aufgenommene Video. Es zeigt klar erkennbar einen Kleinbus für Überlandverbindungen, doch der Drohnenführer ließ das Flugobjekt gleichwohl in den Bus stürzen, und dies 60 Kilometer von der Front entfernt.

Besonders schlimm ist die Situation in Cherson, das von der am linken Ufer des Dnipro stehenden russländischen Armee angegriffen wird. Der Militärkanal Dva majora schreibt ganz offen, dass „Russlands Streitkräfte jedes Fahrzeug in der Uferzone als legitimes Ziel betrachten und den Gegner vernichten“. Dass immer wieder weit entfernt vom Ufer des Dnipro Zivilisten in der Stadt sterben, weil Sprengsätze aus Drohnen auf sie abgeworfen werden, erwähnt der Kanal nicht. Als legitim wird aber offenbar erachtet, dass „Russlands Streitkräfte mit einer erheblichen Zahl von Fliegerbomben, darunter solche mit Luftdetonation, Schläge gegen Cherson geführt haben.“

Am 24. Oktober wurde Cherson wahllos mit Dutzenden Artillerieraketen vom Typ Uragan und Smerč beschossen. Bei den Explosionen an zahlreichen weit voneinander entfernten Orten in der Stadt starben drei Menschen, 14 wurden verletzt.

Am von Russland besetzten linken Ufer des Dnipro kommen infolge von Drohnenattacken und Artilleriebeschuss der ukrainischen Armee ebenfalls immer wieder Zivilisten ums Leben. Die Tatsache, dass in den besetzten Gebieten Zivilisten durch Beschuss der ukrainischen Armee sterben, ändert nichts daran, dass die politische Verantwortung bei Russland liegt, bei Putin und den Befehlshabern der Armee.

Die praktische Frage lautet: Kann die Ukraine mit Hilfe ihrer Unterstützer ein effektives Luftverteidigungssystem aufbauen, das die Angriffe mit den verschiedensten Waffentypen abzuwehren vermag? Anzustreben ist dies auf jeden Fall, doch dass Zehntausende Drohnen und Tausende anderer Flugkörper detektiert und abgefangen werden können, erscheint wenig wahrscheinlich. Eine Evakuierung der Bevölkerung ist ebenfalls keine Lösung. Noch vor zwei Jahren schien ein Abstand von 30 Kilometer zur Front Sicherheit zu gewähren. Doch angesichts der Entwicklung von Drohnen, die immer größere Sprengladungen in immer größere Entfernungen transportieren können, wäre selbst ein Abstand von 60 oder gar 100 Kilometer nicht ausreichend, um Sicherheit gewährleisten zu können. Niemand hat eine Antwort auf diese Frage.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.