Festgefahren

Nikolay Mitrokhin

Die militärische Lage am 13. Tag des russländischen Angriffskriegs (8.3.2022)

Wer den Aufmarsch der russländischen Armee im Jahr 2021 beobachtet hat, dem war klar, wie sie im Falle eines Angriffs vorgehen würde. Ihr Ziel musste sein, mit zwei Vorstößen die am besten ausgerüsteten ukrainischen Einheiten, die entlang der langen Frontlinie zu den beiden besetzten Gebieten im Osten des Landes aufgestellt waren, einzukesseln und sie vom Nachschub aus der Süd- und Zentralukraine abzuschneiden. Dazu bedurfte es zum einen eines Vorstoßes aus dem Nordosten, um unter Umgehung von Charkiv bis nach Dnipro (Dnepropetrovsk) und Izjum zu gelangen; zum anderen eines Vorstoßes von der Krim bis Zaporižžja.

Auch ein Entlastungsangriff auf Kiew über Černihiv stand im Raum. Dass dieser Probleme bereiten würde, war jedoch offensichtlich. Die zurückzulegende Strecke ist zwar recht kurz. Doch es war klar, dass die Truppen auf befestigte ukrainische Stellungen in den Wäldern nördlich von Kiew stoßen würden und anschließend durch den dicht besiedelten Raum um Brovary und Borispil‘ vorrücken müssten. Das Risiko großer Verluste war hoch, der Ausgang dieses Unternehmens ungewiss. Ein vernichtender Schlag gegen die ukrainische Armee im Donbass versprach hingegen viele Möglichkeiten für das weitere Vorgehen.

All dies war aber auch der ukrainischen Armeeführung bekannt. Daher sorgte sie für eine zusätzliche Truppenkonzentration im Raum Charkiv. Dies war wiederum der russländischen Armeeführung bekannt. Daher wählte sie ein anderes Vorgehen. Sie begann den Angriff von allen Seiten und beabsichtigte, den entscheidenden Schlag aus unerwarteter Richtung zu führen: vom „Bruderland“ Belarus aus, das sich zuvor lange geweigert hatte, als Aufmarschgebiet für die russländische Armee zu dienen. Von dort sollten die Truppen durch die Wälder der Tschernobyl-Zone Richtung Kiew vorstoßen.

Der Plan ging zunächst auf. Die russländischen Truppen haben das Waldgebiet schnell und ohne große Verluste hinter sich gelassen und sind in riesiger Zahl auf Kiew vorgerückt. Einzelnen Einheiten gelang es sogar, von Norden her in die Stadt einzudringen. Hubschrauber setzten Fallschirmjäger auf dem riesigen Flugplatz in Hostomel‘ ab, wo diese die Ankunft einer großen Luftlandedivision aus Pskov vorbereiten sollten. Diese sollte anschließend von Westen und Nordwesten her nach Kiew eindringen.

Doch dieses Vorhaben misslang. Die ukrainische Verteidigung war auf die Landung vorbereitet und verfügte über ausreichend Artillerie, um den verlorenen Flugplatz unter Feuer zu nehmen. Es ist ihr sogar gelungen, den Vortrupp der russländischen Armee weitgehend, wenn auch offenbar nicht vollständig, zu zerschlagen. Die Division aus Pskov, die sich bereits in der Luft befand, konnte nicht abgesetzt werden und wurde nach Belarus verlegt. Daraufhin opferten die Ukrainer die Brücken im Norden und Nordwesten von Kiew, um den Vormarsch der Hauptkolonnen zu verzögern.

Offenbar musste die ukrainische Armeeführung sämtliche Reserven aus dem zentralen Landesteil verlegen, um bei Kiew zwei Brigaden zu formieren. Aber sie hatte Erfolg. Die 64 Kilometer lange Kolonne mit schwerem Gerät blieb in den Außenbezirken von Kiew und auf den langen, engen Waldwegen stecken. Der Überraschungsangriff war gestoppt. Nun begannen die Versorgungsprobleme.

Auch ein weiterer Plan der russländischen Armee scheiterte. Ihr Ziel was es, Kiew von Westen her einzukreisen und über Makarov nach Fastov ins Stadtzentrum durchzubrechen. Doch es gelang ihr nicht, den vor Kiew steckengebliebenen 30 Kilometer langen Konvoi über die schmalen Straßen der Gegend zu versorgen. Daher kämpfen sich die russländischen Truppen nordwestlich von Kiew bei Irpen und westlich der Stadt auf der Straße in Richtung Žytomir vorwärts. Sie sind in 12 Tagen unter massiven Verlusten zwei Kilometer vorgedrungen, ohne die Stadtgrenze von Kiew zu erreichen. Wenn es ihnen gelingt, die Stadtgrenze zu überschreiten, liegen auf dem Weg ins Stadtzentrum weitere 10-12 Kilometer vor ihnen, die durch ausgedehnte Wohngebiete, Industriezonen und Kleingewerbegebiete in hügeligem Gelände führen. Ein Häuserkampf auf einer Strecke, die fünf Mal so lange ist wie jene, die die 6. Armee des Deutschen Reichs beim Sturm auf Stalingrad in Richtung Wolga zurückzulegen hatte.

An anderen Frontabschnitten stellt sich die Lage so dar: Die russländischen Truppen sind in Kolonnen entlang vorgesehener Routen vorgestoßen. Der Generalstab ging offenbar davon aus, dass bereits das Dröhnen der Konvois aus Dutzenden Panzern und gepanzerten Fahrzeugen und das Donnern der Flugzeuge am Himmel die Ukrainer in die Flucht schlagen würde. Dann merkten die Invasoren, dass die ukrainische Armee entlang der Routen versteckte Positionen aufgebaut hatte, von wo aus kleine Gruppen von Panzern und Infanteristen mit Granatwerfern und Panzerabwehrraketen die Kolonnen angriffen. Ihr Ziel: Dem Feind möglichst große Verluste zufügen und sich anschließend zurückziehen. So gelang es zwei ukrainischen Panzern aus dem Hinterhalt auf eine Entfernung von drei Kilometern in zehn Minuten eine Kolonne von 30‑35 Fahrzeugen und Geschützen zu zerstören, ohne von Gegenfeuer getroffen zu werden. Gleichzeitig griffen Gruppen der ukrainischen Freiwilligenarmee, der sogenannten „Territorialverteidigung“, mit leichten Waffen die ungeschützten Versorgungslastwagen und einzelne gepanzerte Fahrzeuge im hinteren Bereich der Kolonnen an. Beides verlangsamte das Tempo der Offensive erheblich. Der Plan, die im Donbass stationierten Einheiten der ukrainischen Armee einzukesseln, scheiterte. Diese mussten zwar unter dem Druck der von russländischen Soldaten unterstützten Milizen der „Volksrepubliken“ von Donezk und Lugansk teilweise ihre Stellungen aufgeben. Sie konnten sich jedoch organisiert in Richtung Izjum, Zaporižžja und Mariupol‘ zurückziehen.

Im Süden hat die ukrainische Armee offenbar in raschem Tempo ihre auf der Landenge zwischen dem Festland und der Krim stationierten Brigaden zurückgezogen. Bei dieser Flucht aus dem Flaschenhals hat sie anscheinend mindestens ein großes Lager mit Waffen und Munition zurückgelassen, die der vorrückenden russländischen Armee in die Hände gefallen sind. Diese ukrainischen Einheiten begannen sich bei Cherson und Novaja Kachovka am Übergang über den Dnepr neu zu formieren und Widerstand zu leisten. Mittlerweile kämpfen sie bei Mykolaiv und Mariupol‘.

Insgesamt ist der Armee des Aggressors somit nach 13 Tagen ein Durchbruch an drei Stellen gelungen. Im Süden der Ukraine hat sie mindestens die Hälfte des Gebiets Cherson eingenommen und ist nach der Überschreitung des Dnepr bis in den Norden des Gebiets Mykolaiv vorgedrungen. Sie steht nun kurz vor Zaporižžja, Mariupol‘ ist eingekesselt. Im Norden des Landes hat sie unter schweren Kämpfen die nördliche Hälfte des Gebiets Černihiv durchquert und sich von Osten her der Stadtgrenze von Kiew genähert. Dabei ist sie in zwei Städte ‑ Boryspil‘, 30 Kilometer südöstlich von Kiew, mit rund 60 000 Einwohnern und Brovary, nordöstlich von Kiew, mit ca. 100 000 Einwohnern – eingedrungen. Schließlich haben die vorrückenden Truppen den Nordwesten des Gebiets Kiew erobert und sich von dort der Stadtgrenze genähert.

Allerdings haben die russländischen Truppen nach Angaben des Pentagon bei diesem Vorstoß den mitgebrachten Treibstoff und die Munition nahezu vollständig aufgebraucht. Sie benötigen Nachschub, nicht zuletzt neue Truppen und militärisches Gerät. Russlands Reserven an modernen einsatzfähigen Waffen sind jedoch erschöpft. Auch die einsatzfähigen Systeme älteren Typs gehen der Neige zu. Die einzige Großstadt, die die Invasoren bislang nach schweren Gefechten einnehmen konnten, ist Cherson. Auch hat Russland keine vollständige Lufthoheit erreicht. Nur das Schwarze Meer kontrollieren sie unangefochten. Dies gilt jedoch nicht für den unmittelbaren Küstenbereich. Am 7.3. ist es der ukrainischen Armee dort erstmals gelungen, ein russländisches Kriegsschiff zu versenken. Gleichzeitig ist Russlands Volkswirtschaft im freien Fall. Ob eine Mobilisierung weiterer Truppen gelingt, ist äußerst fraglich.

Doch auch die Lage der ukrainischen Verteidigung ist prekär. Die Armeeführung muss die Truppen auf viele verschiedene Fronten verteilen. Zugleich muss sie gefährdete Abschnitte sichern, an denen gegenwärtig gar keine russländischen Truppen zusammengezogen sind: vor allem den Raum Odessa, dann jenen Sektor an der Grenze zu Belarus, von wo momentan keine Truppen eindringen, schließlich die Grenze zu Transnistrien, von wo ebenfalls ein Vorstoß drohen könnte. Die Mobilisierung ist jedoch erfolgreich verlaufen und die Territorialverteidigung, in der kriegserfahrene Veteranen und Freiwillige kämpfen, schlägt sich im Kampf gut. Doch es mangelt an geeigneter Kleidung, Waffen und Munition. Viele Armeebestände wurden bei russländischen Raketenangriffen zerstört, die Versorgung aus Europa ist nur langsam angelaufen. Doch dies ändert sich gegenwärtig.

Daher hat die russländische Delegation bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand die Forderungen zuletzt deutlich gesenkt. Sie verlangt jetzt „nur“ noch eine Anerkennung der Krim-Annexion sowie der Unabhängigkeit der beiden Volksrepubliken im Donbass, darüber hinaus eine Entmilitarisierung unter russländischer Kontrolle mit anschließendem blockfreiem Status der Ukraine. Keine Rede mehr ist gegenwärtig von dem, was Russlands Präsident im Sinne hatte, als er in seiner Kriegserklärung von einer „Denazifizierung“ der Ukraine und in der vorangegangenen Rede an die Nation von einer „echten Überwindung des Kommunismus“ gesprochen hatte: nämlich der Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit, der Besetzung und anschließenden Teilung des Landes. Momentan zielt Moskau eher auf ein Abkommen wie jenes, das im März 1940 den finnisch-sowjetischen Winterkrieg beendete. Die ukrainische Seite hält es hingegen offensichtlich für möglich, den Widerstand aufrechtzuerhalten. Mittlerweile ist ein erster Verband von Freiwilligen aus dem Ausland in die Stellungen eingerückt. In der Hoffnung auf eine Auszehrung des Gegners verweigert die ukrainische Führung die Unterzeichnung eines Vertrags, der einer Kapitulation gleichkommen würde. Gelänge es den ukrainischen Truppen, einen der weit vorgestoßenen russländischen Verbände einzukreisen – etwa die nördlich von Kiew stehenden oder die über den Dnepr vorgedrungenen Einheiten –, würde sich der Ton der russländischen Delegation bei der nächsten Runde der Waffenstillstandsverhandlungen sicher weiter ändern.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.