Natal'ja Dulina nach ihrer Freilassung, Foto: Naša Niva
Natal'ja Dulina nach ihrer Freilassung, Foto: Naša Niva

"Mit einem Menschenfresser macht man keine Geschäfte"

Natal’ja Dulina war Dozentin für Italienisch an der Sprachwissenschaftlichen Universität Minsk. Als nach der Fälschung der Präsidentschaftswahlen im August 2020 Hunderttausende Menschen auf die Straße gingen, beteiligte auch sie sich an den Protesten und an einem Streik von Hochschullehrern. Daraufhin wurde sie zunächst von der Universität entlassen, später mehrfach mit 14tägigen Arreststrafen belegt. Im Oktober 2022 wurde sie verhaftet und sechs Monate später wegen Unterstützung einer extremistischen Organisation zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatte dem Radiosender Euroradio ein Interview gegeben, der zwei Wochen nach dem Gespräch zur extremistischen Organisation erklärt wurde. Am 21. Juni 2025 wurde sie zusammen mit 12 weiteren politischen Gefangenen von den belarussischen Behörden nach Litauen gebracht. Der Journalist Il’ja Azar hat für die Novaja Gazeta ein Interview mit Dulina geführt, das wir gekürzt in deutscher Übersetzung dokumentieren.

Novaja Gazeta: Als Sie mit einem Sack über dem Kopf in ein Fahrzeug gesetzt wurden – wussten Sie da, wohin Sie gebracht werden?

Natal'ja Dulina: Mir war klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert. Entweder werde ich ausgetauscht oder irgendwohin deportiert. Und davor hatte ich große Angst.

Novaja Gazeta: Warum Angst? Sie kommen aus dem Gefängnis…

Dulina: Ich wollte nach Hause, verstehen Sie? Ich hatte mir schon vorgestellt, wie ich dort ankomme. Ich hatte nur noch ein halbes Jahr abzusitzen, und ich war nicht der Meinung, dass ich ein großer Fisch bin. Mir war zwar klar, dass sie mich wahrscheinlich nicht in Ruhe lassen würden, aber ich wollte trotzdem versuchen, ungestört in meinem Haus zu leben.

Das hochtrabende Gerede von Heimat ist Quatsch. Es geht einfach um mein Haus. Und das steht in Belarus. Ich habe kein Haus in Litauen oder Polen oder sonstwo.

Ein bisschen Bewegung hatte es ja schon vorher gegeben. Das belarussische Staatsoberhaupt hatte 30 Gefangene freigelassen, die auf der Basis von Extremismus-Paragraphen verurteilt worden waren, und dann noch ein paar. Ich habe alles getan, um nicht auf so einer Liste zu landen.

Im Lager tauchten Leute auf, die mit den politischen Gefangenen redeten und ihnen nahelegten, einen Antrag auf Begnadigung stellen. Die Beamten vor Ort wussten, dass ich kein Schuldbekenntnis ablegen und nicht um Gnade bitten würde. Aber sie wollten zeigen, dass sie ihre Arbeit gemacht hatten, damit man sie in Ruhe ließ, also haben sie mich gebeten, schriftlich zu erklären, dass ich es kategorisch ablehne, ein Gnadengesuch an Lukašenka zu stellen.

Ich hatte mir das also alles schon zurechtgelegt, und diese Begnadigung war absolut nicht, was ich wollte und brauchte, das können Sie mir glauben.

Novaja Gazeta: Und es war zu keinem Zeitpunkt möglich, sie abzulehnen?

Dulina: Als der Beamte zu mir in die Brigade kam und mich angewiesen hat, meine Sachen zu packen, hätte es keinen Sinn gehabt, nachzufragen. Wenn die Gefängnisverwaltung etwas anordnet, dann hat man das zu tun.

Ich wurde mit einer anderen Gefangenen in einen Warteraum gebracht, wo wir die Häftlingskleidung gegen unsere eigene tauschen sollten. Das konnte Freilassung bedeuten oder auch Verlegung und ein neuer Prozess. In solchen Situationen stellen wir normalerweise keine Fragen, denn entweder tun sie so, als wüssten sie nichts, oder sie geben blödsinnige Antworten, die uns nur noch mehr verwirren.

Dann kamen Leute mit Sturmmasken und an meinen Handgelenken schnappten Handschellen zu. Über die Augen bekam ich eine Coronamaske. Die Fahrt dauerte lange, und ich bekam Angst, dass es zur Grenze geht, aber ich konnte nicht fragen, sie hatten uns verboten zu sprechen…

Die Nacht verbrachten wir im Untersuchungsgefängnis des KGB. Die Beamten dort wussten von nichts, und am nächsten Morgen wurden wir schon wieder abgeholt. Dieses Mal bekamen wir einen Sack über den Kopf. Jetzt hatte ich erst recht Sorge, dass wir ins Ausland gebracht würden, denn die andere Frau hatte eine schwedische Staatsbürgerschaft.

Novaja Gazeta: Haben Sie eine Ahnung, wie es zur Auswahl der politischen Gefangenen kam, die jetzt begnadigt wurden?

Dulina: Nein. Ich lese die Spekulationen im Internet, aber wer die Liste zusammengestellt hat und wie ich darauf gelandet bin, ist mir weiter unklar.

Was die kleinen Grüppchen betrifft, die im Laufe des vergangenen Jahres begnadigt wurden: von den Männern haben wir so gut wie nichts erfahren. Aber aus dem Frauenlager wurden in der Regel Gefangene freigelassen, deren Haftzeit fast abgelaufen war.

Das ist wie eine Art Handel, bei dem die eine Seite einen minikleinen Schritt tut und dann abwartet, ob das reicht oder ob noch ein Schrittchen notwendig ist. Man will etwas haben, aber möglichst wenig dafür bezahlen. Reicht es, wenn man Leute rüberschickt, die schon auf der Zielgeraden sind, oder braucht es einen großen Fisch?

Novaja Gazeta: Sergej Tichanovskij – das ist ein sehr großer Fisch! Haben Sie eine Vorstellung, warum er freigelassen wurde und nicht z.B. Maria Kolesnikova?

Dulina: Es gibt verschiedene Versionen. Eine ist, dass sie Streit zwischen Svetlana und ihrem Mann säen wollen. Aber das ist reine Spekulation. Maria Kolesnikova vertritt eine ganz harte Position. Sie wird nicht nur kein Gnadengesuch stellen. Sie sagt, dass sie das Gefängnis erst verlässt, wenn der letzte politische Gefangene freigelassen wurde.

Novaja Gazeta: Haben Sie sie dort gesehen?

Dulina: Ja. Wir waren nicht in der gleichen Brigade, aber wir sind uns oft auf der Krankenstation begegnet. Im Lager werden Tabletten nicht für einen längeren Zeitraum ausgegeben, man muss sie jeden Tag abholen. Meine Brigade war nach ihrer dran, und so haben wir uns fast täglich gesehen und einander zugelächelt.

Ausgehend von diesen Begegnungen und dem, was ich an Gesprächsfetzen aus ihrer Brigade aufgeschnappt habe, kann ich sagen, dass sie überhaupt viel lächelt, sie ist extrem stark und extrem ruhig.

Aber ich weiß auch, ich habe es selbst gesehen, dass sie massiv schikaniert wurde. Ständig wurde sie zur Lagerleitung geschleift für irgendwelche Gespräche. Einige Frauen, ebenfalls Politische, wurden plötzlich in ihre Brigade gesteckt. Eine Vermutung war, dass sie sie beeinflussen sollten, damit sie ein Gnadengesuch stellt. Andererseits waren das Frauen, die selber absolut konsequent waren und sich nie im Leben zu Handlangern der Lagerverwaltung hätten machen lassen.

Novaja Gazeta: Grundsätzlich ist es aber verboten, mit Gefangenen aus anderen Brigaden zu sprechen?

Dulina: Ja, damit kann man sich eine Menge Strafen einhandeln, bis hin zu Isolationshaft. Deshalb bringen wir einander nach Möglichkeit nicht in Gefahr. Aber es gibt einige, die genauso unverschämt und dreist sind wie ich und keine Angst haben – wenn wir uns begegnet sind, haben wir manchmal ein paar Sätze gewechselt.

Vor einigen Monaten hieß es plötzlich, wer Archipel Gulag von Solženicyn ausgeliehen hat, muss es abgeben. Das Buch wurde aus der Bibliothek entfernt, obwohl andere Solženicyn-Bücher immer noch da waren. Mit Büchern sind dort überhaupt ab und an seltsame Dinge passiert.

Ich komme darauf, weil Kolesnikova und ich einmal zufällig nebeneinanderstanden und ich in der Tasche meiner Steppjacke einen Band des Archipel Gulag hatte. Ich habe ihn hervorgezogen und gesagt: „Schauen Sie, Maša, ich eigne mir Basiswissen an."

Es gab eine Zeit, da durfte man sich ihr überhaupt nicht nähern. Nicht mal in der Werkhalle durfte man sich mit ihr unterhalten. Das war eine äußerst unangenehme Situation. Natürlich haben wir ihr, so gut es ging, gezeigt, dass wir auf ihrer Seite sind – mit Mimik, mit einem Lächeln oder hier und da einem Wort. Aber es blieb trotzdem eine Barriere zwischen uns – hier waren wir, dort sie.

Dazu kam, dass Kolesnikova extrem lange in Isolationshaft gehalten wurde – ein ganzes Jahr, wenn ich recht sehe. Das letzte halbe Jahr ungefähr war sie wieder in der normalen Brigade. Aber als ich weggebracht wurde, saß sie, glaube ich, wieder in der Isolationszelle. Der beliebteste Vorwand dafür ist unhöfliches Verhalten gegenüber einem Vollzugsbeamten. Selbst wenn man nur nachfragt, um etwas besser zu verstehen, kann das als Unhöflichkeit gewertet werden.

Novaja Gazeta: Wurden außer dem Archipel Gulag noch andere Bücher entfernt?

Dulina: Akulin – aber das ist schon lange her, als ich ankam, waren seine Bücher schon weg. Aus der belarussischen Literatur fehlen Svetlana Aleksievič und Viktor Marcynovič, ein sehr guter junger Schriftsteller. Erstaunlicherweise sind andere, die man eigentlich für „gefährlich“ halten könnte, aber weiterhin da.

Etwas sehr Bezeichnendes ist vor einem Jahr passiert. Einige Frauen hatten Fernkurse für Englisch belegt, und in der Bibliothek konnte man, obwohl sie sehr schlecht bestückt war, Lehrbücher für Fremdsprachen und Literatur in anderen Sprachen finden. Aber plötzlich fegten die Sicherheitsbeamte wie ein Wirbelwind durch die Zellen und nahmen diese Bücher allen ab, die im Amtskauderwelsch „Personen mit extremistischen oder anderen destruktiven Neigungen“ heißen. Im Volksmund nennt man diese Leute „zehnte Kategorie“ – für uns gelten im Gefängnis besondere Einschränkungen, die es für andere Gefangene auf der „Prophylaxeliste“, etwa Suizidgefährdete oder aggressive Personen, nicht gibt.

Später wurde in der Bibliothek das Regal mit der fremdsprachigen Literatur ganz abgeräumt.

Vor einem halben Jahr wollte eine von uns ein Buch über Psychologie ausleihen und bekam von der Bibliothekarin zu hören, an die 10. Kategorie dürften neuerdings keine Psychologiebücher mehr ausgegeben werden. Und das, obwohl es dort nur vorsintflutliche Sachen wie Eric Berne oder Dale Carnegie gibt. Später hat mir jemand erzählt, der stellvertretende Leiter der Sicherheitsabteilung hätte das bei einer Versammlung damit begründet, dass wir sonst „die anderen manipulieren“ könnten. Und wie immer im Lager weiß man nicht, wie ernst das gemeint ist.

Novaja Gazeta: Am Ende hätten Sie einen Aufseher überreden können, Sie freizulassen.

Dulina: Genau, ich lese einen Psychologie-Klassiker aus den 1970ern über positives Denken und dann denke ich so positiv, dass es das ganze Lager umhaut.

Novaja Gazeta: Manchen Gefangenen ist Briefkorrespondenz verboten. Von Maria Kolesnikova gab es bis zu Ihrer Freilassung lange überhaupt keine Nachricht, sie wird vollkommen isoliert. Diese Härte frappiert selbst Leute, die mit dem russländischen Strafvollzug vertraut sind.

Dulina: Das belarussische Straf- und Korrektursystem ist viel härter als das russländische. In jeder Hinsicht. Das gilt auch für die politischen Gefangenen. Das darf man nie vergessen.

Offiziell dürfen wir mit jeder beliebigen Person Briefe wechseln. Als ich im Lager ankam, hat die Aufseherin unserer Brigade mir gesagt: Päckchen und Besuche nur von nahen Angehörigen, Briefe und Postkarten von egal wem, und sei es aus Australien. Warum und auf welcher Grundlage Maria Kalesnikava die Korrespondenz verboten wurde, weiß ich nicht.

Es ist schon vorgekommen, dass gegen Leute, die politische Gefangene mit Päckchen, Briefen, Überweisungen unterstützt haben, ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Während der Untersuchungshaft ist das alles zulässig, es muss nicht von den Angehörigen kommen. Ich wurde mehrfach als Zeugin in solchen Verfahren vorgeladen, und einmal hat mich der zuständige Untersuchungsbeamte gefragt, ob ich Briefe von meinen Angehörigen erhalte. Ich sagte, man hätte uns erklärt, dass wir von egal wem Briefe bekommen dürften. Seine Antwort: die „zehnte Kategorie“ nur von nahen Angehörigen. Er hat sich offenbar verplappert, denn offiziell gibt es keine solche Regel.

Novaja Gazeta: Sie haben 2022 über die unmenschlichen Bedingungen in den Arrestzellen des Okrestina-Gefängnisses berichtet. Gab es Vergleichbares auch in der Untersuchungshaft oder im Lager?

Dulina: Okrestina war extrem. Der Höhepunkt in meiner persönlichen Kollektion von Unannehmlichkeiten. An zweiter Stelle die Isolationshaft. Man wird allein in eine Zelle gesperrt, elementare Dinge des Alltags werden entzogen. Kein warmes Wasser, keine Brille, keine Briefe, keine Bücher, das ist eine extreme psychische Belastung. Aber das Ganze ist ja eine Strafmaßnahme, man bekommt sozusagen keinen Nachtisch.

Es gibt jedoch menschliche Grundbedürfnisse, und wenn die nicht erfüllt werden, ist das körperlich und seelisch quälend. Das ist dann grausamer Umgang. Der Lagerordnung zufolge haben wir ein Recht auf Erhaltung unserer Gesundheit. Dazu gehören acht Stunden Schlaf. Abend- und Morgenappell sind daran ausgerichtet. Aber in der Isolationszelle konnte ich überhaupt nicht schlafen, höchstens eine Weile vor mich hindämmern, wegen der Kälte. Also kommt man dort mit Grippe raus und das Immunsystem ist geschwächt, was später weitere Probleme bereitet.

Aber im belarussischen Strafvollzug gilt das aus irgendeinem Grund als normal, man hält es nicht mal geheim, es ist quasi Gesetz.

Novaja Gazeta: Woher kam die besondere Grausamkeit im Okrestina-Gefängnis 2020?

Dulina: Ich hatte bei diversen Demonstrationen und nicht genehmigten Kundgebungen Gelegenheit, die Einsatzkräfte zu beobachten. Diese Leute handeln auf Befehl. Sie haben nur einen minimalen Spielraum für eigene Entscheidungen.

Einmal gab es einen sehr kurzfristigen Aufruf zu einer Demonstration, anderthalb Stunden nach der Ankündigung sollte sie bereits losgehen. Das kam sehr unerwartet für sie. Der Apparat arbeitet ja langsam, und bis so eine Information von den Untergebenen nach oben an den Thron gemeldet und dann der entsprechende Befehl wieder nach unten durchgegeben wird – das dauert. Auf dem Platz standen jede Menge Gefangenentransporter und Einsatzpolizisten aus verschiedenen Einheiten, aber sie standen nur herum, sie wussten nicht, was sie tun sollten und warteten auf eine Order. Sie ließen uns in Ruhe, es gab keine Übergriffe, sie benahmen sich völlig vernünftig. Aber dann bildeten sie plötzlich eine Kette und gingen auf uns los.

Das geschieht alles auf Befehl. Wo genau dieser Befehl gegeben wird, kann ich als einfache Bürgerin nicht sagen. Aber ich gehöre nicht zu denen, die sagen, Stalin wusste nichts davon, das waren alles die Leute um ihn herum. Irgendjemand weiter unten hat vielleicht einen blauen oder grünen Pinselstrich dazugefügt, aber grundsätzlich kommt das von ganz oben.

Novaja Gazeta: Sie haben in einem anderen Interview gesagt, die Amerikaner hätten versprochen, dass die jüngsten Begnadigungen „erst der Anfang“ waren, und sie würden versuchen, alle auf diesem Weg rauszuholen.

Dulina: Ich bin keine Politikwissenschaftlerin. Als einfacher Mensch aber sage ich: Sanktionen aufheben im Austausch gegen das Leben von Menschen, die im Lager sitzen –das ist ein Fehler. Das ist wie mit einem Menschenfresser vereinbaren, dass er keine Menschen mehr fressen wird. Dass er die Leute laufen lässt, die er schon in den Kühlschrank gelegt hat, um sie später zu verspeisen. Und daran zu glauben, dass er auch keine anderen Menschen mehr fressen wird.

Verzeihen Sie, dass ich emotional bin. Aber während wir hier sprechen, geht das weiter. Ein Mensch kommt raus, dafür werden fünf neue eingesperrt. Vielleicht bekommen jetzt mehr Leute die „Heißmangel“ aufgebrummt, also Arbeitsdienst statt Lager. Aber es geht weiter. Daher bin ich, Natal’ja Dulina, gegen die Aufhebung der Sanktionen. Ich bin dafür, dass alle freikommen, aber ich glaube nicht daran, dass Lukašenka, wenn er erst alle jetzigen Gefangenen freigelassen hat und im Gegenzug die Aufhebung der Sanktionen bekommen hat, dass er dann nicht genau dasselbe wieder tun wird. Das haben wir auch früher schon gesehen.

Novaja Gazeta: Was also tun? Lukašenka hat Sie offenbar auf Vorschuss freigelassen, um jetzt über die Aufhebung der Sanktionen zu verhandeln.

Dulina: Das war der Anfang. Als nächstes will er Kaffee ans Bett gebracht bekommen, dann eine Play-Station, dann noch etwas. Mich beunruhigt das sehr. Ich bin der Ansicht: Solange Lukašenka Putin hinter sich oder an seiner Seite hat, kann man ihm nicht vertrauen. Lukašenka kann nicht alleine agieren, und Putin hält seine schützende Hand über ihn.

Ich verstehe, dass es einen Handel geben muss, anders erreichen wir gar nichts. Na gut, sollen die Politiker und die speziell dafür ausgebildeten Leute sich damit befassen, aber ich als schlaue belarussische Bäuerin aus dem Volksmärchen sage: „Naaa – nein, irgendwie glaube ich das nicht, man kann ihm nicht trauen, der haut uns doch übers Ohr, der Betrüger.“ Ich weiß nicht, was man am besten tun sollte, aber ich glaube ihm einfach nicht, fertig.

Novaja Gazeta: Sie haben gesagt, Sie seien eine einfache Bürgerin, aber viele sehen in ihnen die informelle Anführerin des Streiks an ihrer Universität im Spätsommer 2020. Zudem waren Sie auch im Koordinationsrat der Opposition.

Dulina: Ja, aber glauben Sie mir, ich bin dort nur gelandet und bleibe dort nur, weil ich finde, wenn du anderer Meinung bist, wenn du die Welt verändern willst, weil dir etwas daran nicht gefällt, dann musst du offen aussprechen, dass du nicht einverstanden bist. Wenn andere das tun und dafür bestraft werden, dann muss ich ebenfalls sagen: Ich bin nicht einverstanden!

Wir sind damals in Streik getreten, weil uns klar war, dass wir als Universität die Fabrikarbeiter unterstützen, ihnen Mut machen müssen. „Jungs, ihr seid wirklich wichtig für uns. Wir halten zu euch. Wir lassen auch alles stehen und liegen und schließen uns euch an.“ So zeigen wir ihnen: Wir sind viele. Habt keine Angst, wir springen mit euch ins kalte Wasser. Verstehen Sie?

Ich hoffe, dass das ein Vorbild für andere war, und vielleicht wird es irgendwann jemanden zum Nachdenken bringen, und auch er wird nicht schweigen. Ich glaube, dass wir uns gegenseitig beeinflussen, wir greifen einander unter die Arme. „Ich bin bei dir, hab keine Angst, ich tue das gleiche wie du.“ Ich hoffe, das ist der kleine Beitrag, den ich leisten konnte und vielleicht auch weiter leisten werde. Aber angefangen hat das alles nicht deshalb, weil ich in vorderster Front stehen wollte, es war einfach eine gesunde menschliche Reaktion.

Novaja Gazeta: Bevor Sie verhaftet und in einem Strafverfahren angeklagt wurden, waren Sie schon mehrmals in Arresthaft gewesen und haben trotzdem weiter Ihre Meinung gesagt, für die Deutsche Welle eine Kolumne geschrieben, Interviews gegeben. Das ist wahnsinnig mutig!

Dulina: Sehen Sie, ich hatte keine finanziellen Möglichkeiten, um zu helfen, wie andere das gemacht haben. Und auch die sitzen jetzt aus diesem Grund. Um das klar zu machen: In meiner Brigade war eine Frau – sie ist weiterhin in Haft –, die mir, als ich in Untersuchungshaft saß, Geld überwiesen, mir Päckchen und Briefe geschickt hat. Sie wurde angeklagt, weil sie Extremisten wie mich unterstützt.

Mein Verstand sagte mir: „Beruhige Dich, was hat das alles mit dir zu tun?“ Aber man will trotzdem etwas tun, und so habe ich entschieden, dass ich in der Lage bin, nicht zu schweigen, und wie es aussieht, gelingt das auch, denn ich erreiche Leute.

Für manche ist Schweigen Standard. Und wenn sich herausstellt, dass man doch seinen Mund aufmachen kann, dann wundern sie sich: „Wie, das war möglich?“ Ich habe in dreißig Jahren an der Universität gesehen, wie Leute auf allen Ebenen Streit mit den Vorgesetzten aus dem Weg gegangen sind. Ich habe die Eigenart, dass ich sehr gerne den Vorgesetzten widerspreche, wenn sie dumme Sachen tun. Ich habe niemals vor etwas Angst gehabt, und das hat nie böse Folgen für mich gehabt.

Novaja Gazeta: Mit Ausnahme eines Strafverfahrens …

Dulina: Das habe ich bekommen, weil ich dem extremistischen Sender „Euroradio“ ein Interview gegeben habe. In dem Gespräch ging es um die nationale Idee von Belarus, darum, was für eine Nation wir sind, was unser kultureller Code ist, wie man heute sagt. Es war ein Gespräch über Kultur, und ich habe vollkommen neutrale Dinge gesagt.

Ich habe gesagt, dass die Belarussen es nicht ertragen haben, als sie die Gewalt und die Lüge gesehen haben, die Fälschung der Wahlen. Im Urteil wurde mir vorgeworfen, ich hätte „öffentlich eine subjektive, nicht von objektiven Fakten gestützte Meinung geäußert.“ Ich habe über meinen Anwalt gebeten, zwei Zitate von Lukašenka zu den Akten hinzuzufügen, der nämlich dem BBC-Journalisten Steve Rosenberg gesagt hat – und damit hat er es der ganzen Welt gesagt –, er würde nicht bestreiten, dass es Gewalt gab. Und zweitens hat Lukašenka gesagt, die Gouverneure in Belarus hätten ihre eigenen Wahlergebnisse um ein oder anderthalb Prozent aufgehübscht. Also hat er Fälschungen zugegeben.

Verurteilt wurde ich, weil „Euroradio“ drei Wochen nach dem Gespräch mit mir zur extremistischen Gruppierung erklärt wurde – und ausgestrahlt wurde das Interview noch einmal eine Woche später.

Novaja Gazeta: In Belarus geht man seit 2020 für die Bereitschaft, nicht zu schweigen, unweigerlich irgendwann ins Gefängnis. Ich nehme an, das war Ihnen klar.

Dulina: Ja, schon. Vor der Verhaftung und dem Strafverfahren saß ich drei Mal je 15 Tage in Arresthaft. Ich wurde freigelassen, war 40 Tage zu Hause, lebte ein normales Leben. Dann wieder 15 Tage Arrest, und wieder draußen, exakt drei Wochen in Freiheit, und der nächste Arrest. Aber auch dann habe ich noch gehofft, dass sich alles sehr schnell zum Guten wendet.

Ich dachte nur, hoffentlich lassen sie mich den Sommer über in Ruhe, jetzt konnte ich ihn ja als Freiberuflerin genießen. Freunde und Verwandte drängten mich dazu, das Land zu verlassen, sie haben darauf bestanden, dass ich ein Visum beantrage, falls ich irgendwann schnell weg muss.

Novaja Gazeta: Warum sind Sie nicht gegangen?

Dulina: Warum ist Viktor Frankl nicht nach Amerika gegangen?[1] Verzeihen Sie mein Pathos, ich weiß natürlich, dass das nicht vergleichbar ist. Aber ja, seine Eltern waren krank. Ich habe auch eine betagte Mutter, ich habe Katzen.

Meine Mutter sagte, wenn ich erst im Knast wäre, würde sie so oder so allein dasitzen mit diesen Katzen, aber ich meinte wie in diesem etwas fragwürdigen alten Witz: „Nein, Mama, es ist etwas anderes, ob ich selber entscheide, das alles hinter mir zu lassen und sie dazulassen, oder ob jemand anderes die Entscheidung für mich trifft.“ Verstehen Sie, für mein Gewissen macht das einen Unterschied.

Novaja Gazeta: Für die Verwandten eher nicht …

Dulina: Dann war hier eben mein Egoismus am Werk. Denn wenn die Katzen an meiner Seele kratzen, geht es mir schlecht. Ich neige dazu, Asche auf mein Haupt zu streuen, mich zu schämen. Also will ich lieber denken können, dass ich alles richtig gemacht habe, auch wenn meine materiellen Lebensbedingungen dadurch schlechter werden.

Novaja Gazeta: Sie haben in einer Kolumne über die berühmt-berüchtigte Gefügigkeit der Belarussen geschrieben, die diese 2020 plötzlich abgelegt hatten. Jetzt scheint alles wieder wie zuvor.

Dulina: Wer heute noch im Land ist, kann absolut nichts tun. Was immer man tut, macht man nur einen Tag lang, dann ist es vorbei.

Novaja Gazeta: Aber Sie haben zwei Jahre lang ihre Ansichten offen geäußert! Ist die Lage jetzt schlimmer?

Dulina: Das ist so absolut nicht mehr möglich. Wer sich entschieden hat, im Land zu bleiben, der muss jetzt schweigen. Um bei meiner Mutter, meinem Mann und meinen Katzen zu sein, müsste auch ich schweigen.

Für mich ist dieser Moment sehr bitter, wie bei Dante: „Dann wirst du fühlen, wie das fremde Brot so salzig schmeckt …“.[2] Dante musste aus Florenz fliehen, um nicht von der Inquisition auf den Scheiterhaufen geworfen zu werden. Er konnte nie wieder in seine Heimat zurückkehren. Dieselbe Erfahrung mache ich gerade am eigenen Leib.

Andererseits habe ich jetzt die Möglichkeit, Journalisten bei ihrer wichtigen Arbeit zu helfen. Ich werde nicht an vorderster Front stehen. Ich bewundere Svetlana Tichanovskaja. Auch wenn das nicht gleichzusetzen ist: Sie hat wie Zelens’kyj das biblische Joch auf sich genommen und sie wird es weiter tragen. Sie ist diesen Weg nicht allein deswegen gegangen, damit ihr Mann freikommt. Es geht darum, dass Belarus eines Tages ein normales europäisches, souveränes Land wird. Die erste Euphorie nach der jetzigen Freilassung wird vergehen, und es gibt noch einen riesigen Berg Arbeit.

Ich selber werde in Zukunft eher am Wegrand bleiben. Was ich tun kann, ist erzählen, was mir passiert ist, welche Erfahrungen ich gemacht habe, was ich empfunden habe.

Je mehr wir darüber sprechen, desto größer die Hoffnung, dass wir nicht wieder auf den gleichen Rechen treten.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin


[1] Viktor Frankl (1905–1997), Psychiater und Neurologe, 1940 erhält er vom Konsulat der USA in Wien ein Visum für die Ausreise in die USA, er wurde 1942 mit seiner Frau und seinen Eltern ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, sein Vater starb dort, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet, seine Frau starb in Bergen-Belsen, Frankl selbst überlebte und wurde 1945 von der US-Armee aus dem Außenlager Türkheim des KZ Dachau befreit.

[2] Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Das Paradies, 17. Gesang, 58–59. Deutsch nach der Übersetzung von Karl Witte. Berlin 1916.