Ob das Pferd noch für das Rennen taugt

Der Außenpolitikexperte Fedor Lukjanov über den Moskauer Blick auf Minsk

Belarus ist mit Russland seit 1996 in einem Unionsstaat verbunden. Moskau sieht sich im Systemwettbewerb mit dem Westen und reklamiert einen exklusiven Einfluss in Belarus. Doch geht es in Minsk überhaupt um Geopolitik? Oder vielmehr um die Angst, die Menschen in Russland könnten sich ein Vorbild an der belarussischen Gesellschaft nehmen? Ein Gespräch mit Fedor Lukjanov.

Osteuropa: Herr Lukjanov, warum gehen die Menschen in Belarus auf die Straße?

Fedor Lukjanov: Lukašenka war 26 Jahre an der Macht. Das ist eine sehr lange Zeit. Die Menschen haben ihn satt. Diese Stimmung hat breite Schichten der Gesellschaft erfasst, weit über die Intelligencija hinaus, die immer gegen ihn war. Mit seinen Manövern hat Lukašenka zusätzliche Wut provoziert. Am Anfang seines Wahlkampfes wollte er dem Westen gefallen und hat Pluralismus imitiert. Als er merkte, dass sich die Dinge nicht zu seinen Gunsten entwickeln, hat er sofort auf Repression umgestellt. Das hat viele Menschen erzürnt.

Osteuropa: Wie beurteilt die Führung in Moskau die Lage?

Lukjanov: Eine solch dynamische Entwicklung hat Moskau nicht erwartet. Dass die Wahlen schwer für Lukašenka werden würden, war aber schon lange klar. Er hat im Wahlkampf auf die Mobilisierung antirussischer Sentiments gesetzt: Ich schütze die Souveränität von Belarus, die von den Russen bedroht wird. Daher hat er nicht die übliche Unterstützung aus Russland erhalten. Die entscheidende Frage ist jetzt nicht: „Wie kann man Lukašenka helfen, an der Macht zu bleiben?“ Sondern: „Wie kann man verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen, deren Ziel es ist, dass Belarus sich vollkommen von Russland abwendet.“ Wer das genau wäre, ist noch nicht klar. Da die Opposition eher proeuropäisch auftritt und Lukašenka jetzt wieder von Polen und Litauen als gefährlichen Gegnern spricht, befindet sich Russlands Führung in einer schwierigen Lage. Die wichtigste Aufgabe lautet: Richtig einzuschätzen, ob dieses Pferd noch für das Rennen taugt und man weiter auf es setzen kann.

Osteuropa: Welche Auswirkungen hat die Entwicklung in Belarus auf Russland?

Lukjanov: Eine unmittelbare Auswirkung hat sie nicht. Aber natürlich wird jetzt alles vor dem Hintergrund der Frage nach einem möglichen politischen Übergang betrachtet. Die Ereignisse in Belarus zeigen erneut, mit welchen Risiken die Machtübergabe bzw. das Festhalten an der Macht für einen langjährigen Herrscher einhergeht.

Osteuropa: Und die beiden Gesellschaften: Was haben sie gemeinsam, was trennt sie?

Lukjanov: Die Gesellschaften unterscheiden sich, weil die Länder so unterschiedlich groß sind. Russland ist viel komplexer, das politische System ist viel weniger repressiv. Es beruht auf einem permanenten Feintuning zur Anpassung an die öffentliche Meinung. Auch ist Russland mit seinem großen Ressourcenreichtum viel weniger von anderen Staaten abhängig als Belarus. Die Gesetzmäßigkeiten unbegrenzter Herrschaftszeiten sind jedoch in beiden Ländern identisch.

Osteuropa: Wie beurteilen Sie die russisch-belarussischen Beziehungen grundsätzlich?

Lukjanov: Die Gesellschaften sind einander wohlgesinnt. In Belarus gibt es keine antirussische Stimmung und in Russland keine antibelarussische. Auf dieser Ebene sind die Beziehungen gut. Die beiden Völker und ihre Kultur sind sehr ähnlich. Auf der staatlichen Ebene haben sich die Beziehungen in den vergangenen zwei Jahren verschlechtert. Russland hat das Thema einer echten wirtschaftlichen Integration auf den Tisch gebracht und Lukašenka hat sich mit allen Kräften dagegen gesträubt, um sich seine Privilegien zu bewahren. Moskau hat ihn dabei sogar nachsichtig behandelt. Was Lukašenka über Russland gesagt hat, hätte man einem anderen nicht verziehen.

Osteuropa: Welche Interessen hat Russland in Belarus? Formal bilden Russland und Belarus einen Unionsstaat mit einer Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft. Russland subventioniert seit Jahren die belarussische Wirtschaft und den Staat, doch Präsident Lukašenka widersetzt sich dem Moskauer Versuch, durch mehr Integration mehr Kontrolle auszuüben.

Lukjanov: Es gibt eine ganze Reihe wirtschaftlicher Interessen, vor allem beim Transit von Öl und Gas sowie im Maschinenbau. Im Kern geht es aber nicht um Wirtschaft, sondern um Geopolitik. Für Russland ist es aus sicherheitspolitischen und allgemeinen politischen Gründen von entscheidender Bedeutung, dass Belarus nicht in die westliche Einflusszone gelangt. Eine Entwicklung wie in der Ukraine wird Moskau nicht zulassen, oder zumindest alles daran setzen, dass dies nicht eintritt.

Osteuropa: Wie ist die Ankündigung des Kreml zu bewerten, Belarus im Rahmen der Taschkenter Verträge beizustehen?

Lukjanov: Damit es tatsächlich zu einem Einsatz der Kräfte der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) kommt, muss es eine eindeutige Aggression von außen geben. Lukašenka wird vermutlich versuchen, die Übermacht der Opposition in den sozialen Netzwerken als eine solche Aggression darzustellen. Der wichtigste Netzprovider hat seine Server in Polen. Auch wird er sicher einige Agenten und Provokateure entlarven lassen. Aber das reicht nicht für militärische Hilfe der ODKB. Dies gilt umso mehr, als in der ODKB ja nicht nur Russland, sondern u.a. auch Kasachstan und Armenien vertreten sind. Eine gemeinsame Entscheidung zur Rettung des Lukašenka-Regimes ist schwer vorstellbar. Lukašenkas Rede von einem Einsatz der ODKB richtet sich vor allem an den Westen. Die Botschaft lautet: Wenn ich weg bin, kommt Putin.

Osteuropa: Ist die Forderung der baltischen Staaten und Polens nach einem „Runden Tisch“ und Neuwahlen der richtige Weg, um eine Eskalation des Konflikts in Belarus zu vermeiden?

Lukjanov: Mit einer Einmischung würden Litauen und Polen massiv an der Eskalationsschraube drehen. Das gilt erst recht für eine Einmischung der gesamten EU, die jedoch wenig wahrscheinlich ist. Moskau würde die Ereignisse nicht mehr als inneren Konflikt in einem verbündeten Land betrachten, sondern als Versuch des Westens, die geopolitische Ausrichtung von Belarus umzudrehen. Was dann passiert, haben wir vor sechs Jahren in der Ukraine gesehen.

Fedor Lukjanov (1967): Chefredakteur der Zeitschrift Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik, Wissenschaftlicher Direktor des Valdaj-Diskussionsklubs

Das Gespräch führte Manfred Sapper am 17.8.2020, Übersetzung Volker Weichsel

Zur aktuellen Entwicklung in Belarus siehe auch:
Mit aller Macht. Astrid Sahm über die Wahlen in Belarus
Das Volk hat die Bühne betreten. Artur Klinau über die Proteste in Belarus

In Osteuropa ist von Fedor Lukjanov zuletzt erschienen: Perestrojka 2014. Russlands neue Außenpolitik