Operative Pause

Nikolay Mitrokhin

Russlands Angriff auf die Ukraine, Lagebericht vom 22. März

Die Situation an den verschiedenen Schauplätzen des Kriegs hat sich in den vergangenen Tagen nur wenig verändert. In der Umgebung von Kiew finden vor allem im Rayon Irpin weiterhin schwere Kämpfe statt. Die ukrainische Seite meldet, dass die Stadt Makariv 30 Kilometer westlich von Kiew erneut befreit wurde (Meldungen über ihre erneute Besetzung nach einer ersten Rückeroberung um dem 10. März hatte es nicht gegeben). Heftige Kämpfe sind nun im Rayon Boryspil östlich von Kiew aufgeflammt, wo sich der Kiewer Zivilflughafen befindet. Dort hat die russländische Armee offensichtlich Truppenverstärkung erhalten.

Verschlechtert hat sich die Lage der Verteidiger von Černihiv im Norden des Landes nahe der Grenze zu Belarus. Die Stadt wird permanent bombardiert, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist geflohen. Seit einer Woche wird bereits um Trostjanec im Gebiet Sumy gekämpft, einen Ort, der für beide Seiten strategische Bedeutung hat. Einzelheiten geben weder Kiew noch Moskau bekannt.

Charkiv und alle weiteren größeren Städte zwischen der zweitgrößten Stadt des Landes und Donezk im Südosten (Izjum, Kramatorsk u.a.) sind ständigem Beschuss ausgesetzt. Russland meldet, dass ‑ in fast dreiwöchigen Kämpfen ‑ die Hälfte von Mariupol‘ eingenommen und 50 Prozent der 14 000 Mann starken Verteidigergruppe vernichtet worden sei. Keine Angaben zu eigenen Verlusten. Zu beobachten ist, dass tschetschenische Hilfstruppen, die bislang im Hintergrund geblieben waren, nun an die vorderste Front des Kampfs um Mariupol‘ geschickt werden. Die Zahl von 7000 Toten auf ukrainischer Seite ist höchst zweifelhaft, da erst vor wenigen Tagen erstmals Bilder toter Soldaten aus den Reihen der Verteidiger der Stadt in entsprechenden Internetforen aufgetaucht sind.

Russlands Armee versucht weiterhin, den Brückenkopf am rechten Ufer des Dnepr im Gebiet Mikolaiv auszuweiten. Vorstöße nach Norden in das Gebiet Dnepropetrovsk sowie nach Westen hat die ukrainische Armee zurückgeschlagen. Russland setzt jetzt deutlich mehr Kampfflugzeuge ein, gleichzeitig gibt es von ukrainischer Seite Berichte über weitere abgeschossene Maschinen.

Insgesamt sammeln beide Armeen Kräfte, die russländische für neue Vorstöße, die ukrainische für die Verteidigung. Die Ukraine meldet immer wieder, dass sie einen Angriff der belarussischen Armee befürchtet, der den Nachschub aus westlicher Richtung abschneiden soll. Die USA haben eine mobile Radpanzerbrigade an die Grenze zwischen Polen und Belarus verlegt, was darauf hindeutet, dass die Situation extrem angespannt ist. Russland bringt in großer Eile Infanterieeinheiten der Nord- und der Pazifikflotte in das Konfliktgebiet. Nach ukrainischen und US-amerikanischen Angaben droht Odessa keine amphibische Landung mehr, da alle Landungstruppen der Schwarzmeerflotte bereits in Bodenoperationen eingebunden sind.

Auch die Ukraine mobilisiert weitere Männer, um den für den Kriegsfall vorgesehenen Sollbestand von 265 000 Soldaten zu erreichen. Selbst Bürger, die keinen Wehrdienst geleistet haben, sollen eingezogen werden und nach einer 5-15-tägigen Ausbildung in die Truppen integriert werden. Dies ist ein indirektes Eingeständnis, dass auch die Ukraine erhebliche Verluste erlitten hat und es an Reservisten mit Grundausbildung fehlt. Währenddessen wird in Russland weiterhin krampfhaft versucht, Ressourcen aller Art aufzutreiben, um die Kampffähigkeit der Truppen zu erhalten. Aus immer mehr Regionen des Landes gibt es Berichte über Sammelaktionen für die Armee, bei denen die Menschen aufgerufen werden, alle möglichen Dinge des täglichen Gebrauchs für die Soldaten zu spenden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.