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Präsidentschaftswahlen in der Ukraine

Osteuropa: Was sagt die Wahl von Volodymyr Zelens’kyj zum Präsidenten über das politische System und die politische Kultur der Ukraine aus?

Volodymyr Kulyk: Sie besagt vor allem eines: Die Ukraine ist eine Demokratie. Wähler können in fairen und freien Wahlen den Präsidenten abwählen, mit dem sie unzufrieden sind. Wir haben nun den fünften Präsidenten in zwei Jahrzehnten gewählt. In Russland, wo die Staatsmedien das Zerrbild von einer „faschistischen Junta“ in der Ukraine zeichnen, herrscht im gleichen Zeitraum allein Putin. Und während auch im Westen gerne die Faschismus- und Antisemitismuskeule gegen die Ukraine geschwungen wird, können wir festhalten: Die Ukraine wird neben Israel der einzige Staat sein, in dem der Präsident und der Ministerpräsident jüdisch sind … Gleichzeitig haben die Wahlen die Tradition ukrainischer Wähler bestätigt, Machthabern gegenüber höchst kritisch zu sein. Ukrainer tendieren dazu, Unrealistisches von der politischen Führung zu erwarten, um sie dann allein dafür verantwortlich zu machen, wenn sie diese unrealistischen Erwartungen nicht erfüllen. Die Bereitschaft, einen Kandidaten zu unterstützen, der keinerlei politische Erfahrung, kein Team und kein Programm hat, in der Hoffnung, dieser könne die politische Situation radikal verbessern, ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass die politische Kultur in der Ukraine nicht nur demokratisch, sondern auch populistisch ist.

Kateryna Miščenko: Diese Wahl war eine Abstimmung gegen die politische Elite, die de facto seit der Kučma-Ära an der Macht ist. Wie während des Majdan kommt in der Wahl der Wunsch zum Ausdruck, der ukrainischen Politik ein wirklich neues Gesicht zu geben.

Gwendolyn Sasse: Volodymyr Kulyk hat recht: Zelens’kyjs Sieg zeigt zum einen, dass in der Ukraine eine klare Mehrheit einen Präsidenten, der nicht ihren Vorstellungen entspricht, auf demokratischem Weg abwählt. Er zeigt zum anderen, dass es seit dem Euromajdan nicht gelungen ist, das von Partikularinteressen geprägte politische System so zu reformieren, dass Hoffnungsträger mit politischer Erfahrung an die Spitze kommen. Stattdessen nimmt die ukrainische Bevölkerung – bewusst oder unbewusst – das Risiko in Kauf, einen Kandidaten ohne Erfahrung und konkretes Programm zu wählen. Auch in anderen europäischen Ländern wie etwa Italien hatten Populisten und unerfahrene Kandidaten Wahlerfolge. Doch in der Ukraine, die in einem Krieg steht und eine Systemreform durchläuft, ist eine derartige Wahl potenziell von größerer Bedeutung. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee, und seine Unerfahrenheit kann direkte Auswirkungen auf den Kriegsverlauf haben. Auch die weitere Umsetzung der begonnenen Reformen ist kein Automatismus, sondern erfordert ein Programm.

Juri Durkot: Zelens’kyj hat in seinem Wahlkampf kaum inhaltliches Profil gezeigt und keine Angriffsflächen geboten. Jeder Wähler konnte sich Zelens’kyj als den „Wunschpräsidenten“ nach eigenem Geschmack vorstellen. Generell gilt: Viele sehen im Präsidenten einen Messias, der das Land retten und ein besseres Leben bringen soll. Da sind Enttäuschungen programmiert. Die Wahl zeugt auch von einer starken Sehnsucht nach neuen Gesichtern, die mit der Politik nichts zu tun haben. Auch das ist ein Beweis für die Naivität vieler Wähler. Klare politische Programme und konsequente Reformen waren immer ein Schwachpunkt in der unabhängigen Ukraine, die ab Mitte der 1990er Jahre ein politisches System mit paternalistischen und klientelistischen Zügen entwickelt hat. Alle diese Faktoren haben den Sieg eines „virtuellen“ Kandidaten ermöglicht. Es ist aber auch das politische Scheitern der Majdan-Generation, die keine Partei aufbauen konnte und keine wettbewerbsfähigen Politiker hervorgebracht hat.

Andrew Wilson: Pauschal ließe sich antworten, dass der Amtsinhaber in der Ukraine immer verliert. Der einzige Präsident, dem es gelang, wiedergewählt zu werden, war 1999 Leonid Kučma. Das war übrigens auch die erste Wahl, die durch „Polittechnologie“ entschieden wurde. Der Kreislauf aus Unzufriedenheit und Sehnsucht nach „neuen Gesichtern“ dreht sich bis heute. Diesmal war die Sehnsucht nach einem neuen Gesicht besonders stark. Die Wahlen in der Ukraine haben eine absolut neue Qualität: Sie sind geprägt vom Einsatz dessen, was wir disruptive technology nennen können. Das Bahnbrechende besteht darin, dass der Wahlkampf ausschließlich in den sozialen Medien stattfand, an die Stelle einer Parteiendemokratie oder eines Wettbewerbs von Organisationen ist die Demokratie der „Likes“ getreten. Und aus der fiktiven Rolle eines Schauspielers wird Realität.

Osteuropa: Woraus speiste sich die Unzufriedenheit mit Amtsinhaber Petro Porošenko?

Wilson: Primär aus zwei Quellen. Erstens: Porošenko ist zur Verkörperung des alten „Systems“ geworden. Zwar wurden die strukturellen Gelegenheiten zur Korruption ein bisschen beschnitten, aber es geschah nichts, um der Anti-Korruptionspolitik ein Gesicht zu geben. Nicht einer, der Dreck am Stecken hatte, ist in den Knast gewandert. Zweitens: Die Wirtschaft ist seit 2016 zwar ein bisschen gewachsen, doch die einfachen Leute spürten in ihrem Alltagsleben davon praktisch nichts, zumal im Vergleich mit den Folgen der starken Rezessionen in den Jahren 2008/2009 und 2014/2015.

Sasse: Es ist ein bisschen komplexer. Zelens’kyjs Wahlsieg spiegelt die enttäuschten Hoffnungen des Euromajdan wider. Die Wahl ist aber kein Votum gegen den Majdan. Weder stellt Zelens’kyj die innenpolitischen Forderungen des Euromajdan noch die Westorientierung des Landes in Frage. Ich stimme Andrew Wilson zu, dass die Unzufriedenheit mit Porošenko sich vor allem daraus speiste, dass er die Korruption nicht konsequent bekämpft hat und die Reformen das Leben der Bevölkerung nicht greifbar verbessert haben. Außerdem dauert der Krieg im Donbass zu lange an. Schließlich fanden sich viele Menschen in Porošenkos Wahlslogan von „Armee! Sprache! Glaube!“ nicht wieder. Er suggeriert eine ausschließliche Bindung an die ukrainische Sprache und die neue Ukrainische Orthodoxe Kirche als staatstragende Elemente.

Durkot: Die Ursachen sind tatsächlich vielschichtig. Die Korruption spielt eine wichtige Rolle. Immer wieder waren Leute aus Porošenkos Umfeld in Korruptionsskandale verwickelt. Dass kein „großer Fisch“ zur Verantwortung gezogen wurde, hat viele Menschen in ihrer Ablehnung der politischen Klasse bestärkt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass es wichtige Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung gibt. Durch die Einführung eines transparenten Vergabeverfahrens bei öffentlichen Aufträgen wurde den Oligarchen der Zugriff auf Haushaltsmittel erschwert. Abgeordnete und Beamte müssen nun ihre Steuererklärung veröffentlichen. Wichtige Antikorruptionsbehörden wurden gegründet, zuletzt – nach jahrelangem Ringen – das Antikorruptionsgericht. Trotzdem behaupten viele Menschen in der Ukraine, dass die Korruption größer sei als vorher. Das ist ein Paradox, das darauf basiert, dass heute viel mehr investigative Berichte über Korruptionsfälle erscheinen als früher. Porošenko hat nicht verstanden, dass die Gesellschaft mittlerweile eine Trennung von Politik und Geschäft verlangt. In einem Land mit vielen armen Menschen wie der Ukraine kommt es nicht gut an, wenn der Präsident am Ende seiner Amtszeit doppelt so reich ist wie vorher. Porošenkos Durchhalteparolen in Bezug auf den Krieg haben viele Menschen, besonders im Osten, abgestoßen. Sogar in den Wahllokalen nahe der Front, wo die Soldaten der ukrainischen Armee abstimmten, bekamen Porošenko als Oberbefehlshaber und Zelens’kyj fast gleich viele Stimmen. Porošenkos Entscheidung, auf drei enge nationale Themen (Armee, Sprache, Glaube) zu setzen und damit zu polarisieren, war ein Fehler. Er hat damit die östlichen und südlichen Regionen bewusst oder unbewusst aufgegeben und gleichzeitig seine Basis selbst im Westen des Landes und der Zentralukraine stark eingeschränkt.

Kulyk: Die wichtigste Quelle, aus der sich die Unzufriedenheit speiste, waren unrealistische Erwartungen an den Präsidenten. Die Leute haben die Last des Kriegs für Wirtschaft und Politik unterschätzt. Und sie haben Porošenkos Vergangenheit schlicht ignoriert. Porošenko war früher schließlich selbst ein Oligarch, der seine Stellung geschickt zum eigenen Vorteil nutzte. Auch wenn er während seiner Amtszeit reformorientierter wurde – ob auf Druck der Gesellschaft, des Westens oder aus eigener Einsicht, sei dahingestellt –, ging er doch nie so weit, das System aus Vetternwirtschaft und Korruption zu durchbrechen, das sich in der Ukraine herauskristallisiert hatte. Vergessen wir aber bitte auch nicht, dass Porošenkos Versagen im Kampf gegen die Korruption gerade von jenen Massenmedien betont wurde, die unter der Kontrolle seiner oligarchischen Konkurrenten stehen … Da wurden seine Fehltritte aufgebauscht und seine Erfolge kaum zur Kenntnis genommen.

Um von den Misserfolgen in Wirtschaft und Politik abzulenken, folgte Porošenko dem Rat, auf Identitätsfragen wie die Förderung der ukrainischen Sprache oder die Idee einer autokephalen Ukrainischen Orthodoxen Kirche zu setzen. Sein Einfluss auf die Themenschwerpunkte in den wichtigsten Medien war jedoch begrenzt, und deshalb führte diese Verengung offenbar nur zu einer Entfremdung von vielen russischsprachigen Ukrainern, während es Porošenko gleichzeitig nicht gelang, unter den ukrainischsprachigen Bürgerinnen und Bürgern mehr Unterstützung zu finden.

Miščenko: Es geht nicht nur um Korruption oder gar darum, dass Fehltritte aufgebauscht worden wären, wie Volodymyr Kulyk andeutet. Nein, Porošenko hat auf ganzer Linie versagt. 2014 war er mit drei Versprechen angetreten: Er wollte das politische System reformieren, die Korruption bekämpfen und den Krieg zügig beenden. Womit trat er 2019 an? Mit der Devise „Armee, Sprache, Glaube!“ Das spricht Bände darüber, welch konservative Wende Porošenko und die Ukraine in den letzten fünf Jahren vollzogen haben. Als Journalisten seine Beteiligung an dubiosen Geschäften im Energie- und Rüstungssektor aufdeckten, diffamierte der Präsident das als Kriegspropaganda Russlands. Das Einkommen des reichsten Oligarchen der Ukraine, Rinat Achmetov, wuchs unter Porošenko wesentlich schneller als das Bruttoinlandsprodukt des Landes. Viktor Medvedčuk, ein treuer Paladin von Herrn Putin, mischt in der ukrainischen Politik wieder mit, während die engagierten Reformer, die 2014 nach dem Euromajdan in ihre Ämter kamen, in die Wüste geschickt wurden. Unabhängige Medien wie Hromadske wurden ständig unsachlich angegriffen, und die Trolle kamen aus der Ukraine selbst. Porošenko hat die Zivilgesellschaft und ihre Vertreter und Institutionen weitgehend ignoriert. Wer sich hier engagierte, lief Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden. Die Bürgerrechtlerin Kateryna Handsjuk, die in Cherson Korruption aufdeckte, starb nach einem Anschlag, und die Ermittlungsbehörden weigerten sich lange, ihrer Aufgabe nachzugehen. Die Ermordung des Journalisten Pavlo Šeremet im Sommer 2016 blieb ungesühnt. Das ist die Lage.

Osteuropa: Ist die Wahl eines „Mannes ohne Eigenschaften“ wie Zelens’kyj ein Indikator für Politisierung oder Entpolitisierung in der Ukraine?

Wilson: Das hängt davon ab, was wir unter „Politisierung“ verstehen. Man kann sagen, dass Porošenko im Mai 2014 als sichere Bank gewählt wurde: Damals eskalierte der Konflikt im Osten und sein Ausgang war höchst ungewiss – Porošenko dagegen trat mit dem Versprechen an, den Konflikt „innerhalb weniger Stunden“ zu beenden. Heute kann man das Wahlergebnis optimistischer deuten: Zwar stimmten viele für Zelens’kyj, weil es angeblich „ohnehin nicht mehr schlimmer werden“ konnte. Andererseits empfinden viele Ukrainer heute nicht mehr eine solch existentielle Bedrohung wie im Mai 2014 und sind deshalb bereit, den Sprung ins Ungewisse zu wagen.

Kulyk: Für mich ist der Wahlausgang beides. Die Wahl bot vielen Menschen die Chance, jemanden zu wählen, der fähig zu sein scheint, die Missstände zu überwinden, die Porošenko angelastet werden. Unter den jungen Leuten und der Bevölkerung im Südosten des Landes, die beim vorigen Mal nicht wählen gingen, fand eine Politisierung statt. Doch die Wahl eines Kandidaten ohne politische Erfahrung und Programm ist auch ein Zeichen der Entpolitisierung, insofern als Politik im herkömmlichen Sinn von diesen Wählern abgelehnt oder zumindest nicht ernst genommen wird. Einerseits also Politisierung, aber gleichzeitig gibt es eine tiefgreifende Veränderung des Politikverständnisses weiter Teile der Bevölkerung, für die Politik immer weniger mit verantwortungsvollem Regieren zu tun hat.

Miščenko: Für unsere Verhältnisse war es eindeutig eine Politisierung. In der ukrainischen Politik spielen Ideen traditionell kaum eine Rolle, Parteiprogramme werden grundsätzlich nicht umgesetzt. Politikerinnen und Politiker haben in diesem System ein allenfalls diffuses Profil. Zelens’kyj ist wie ein Trickster, der die alte Elite entlarvt und auslacht. Vor den Wahlen sprach er die Themen an, mit denen sich die meisten Menschen in der Ukraine identifizieren können. Er akzeptiert nicht nur die Pluralität der ukrainischen Gesellschaft, sondern er setzt sogar auf sie.

Durkot: Ich möchte an Andrew Wilsons These anknüpfen, dass die Wahlen eine fundamental neue Qualität hatten. Sie haben gezeigt, wie sich die Politik durch die technologischen Entwicklungen verändert. Die Smartphone-Generation will keine komplizierten Erklärungen, die nicht auf einen Bildschirm passen. Die Botschaften werden einfacher, Emotionen spielen eine immer größere Rolle. Zelens’kyj hat davon profitiert. Gleichzeitig bleibt die ukrainische Gesellschaft hoch politisiert. Noch nie konnte man auf der Straße, im Taxi oder auf dem Markt so viele Diskussionen über die Wahlen hören. Sofija Andruchovyč hat das jüngst in der Süddeutschen Zeitung so ausgedrückt: „Für einen modernen Ukrainer ist Politik nicht weniger wichtig als die intimsten persönlichen Angelegenheiten, Gesundheit und Beziehungen zu nahestehenden Menschen. An politischen Fragen zerbrechen Beziehungen, Menschen werden darüber depressiv oder durchleben emotionale Achterbahnfahrten.“ Sie trifft genau den Punkt.

Sasse: Auch für mich zeugt das Wahlergebnis gleichzeitig von Politisierung und Entpolitisierung. Die hohe Wahlbeteiligung in allen Regionen und das eindeutige Ergebnis, auch im Westen der Ukraine, sprechen nicht gerade für Entpolitisierung. Im Gegenteil: Die Mobilisierung gegen ein korruptes Regime, die sich 2013/14 auf der Straße entladen hatte, hat sich nun in den Wahlen Bahn gebrochen. Aber das war in erster Linie ein Votum gegen Präsident Porošenko und das von ihm verkörperte System, nicht jedoch ein Votum für eine konkrete Agenda. Hinter Zelens’kyjs Wahlsieg stehen viele verschiedene regionale, demographische und sozioökonomische Erwartungen. Zelen­s’kyj muss daraus ein Programm formulieren und es umsetzen. Das ist eine Herausforderung.

Osteuropa: Welche Stellung hat der Präsident im politischen System der Ukraine?

Sasse: Die ukrainische Verfassung sieht ein semipräsidentielles Regierungssystem vor, in dem sich Präsident und Regierung exekutive Vollmachten teilen. Der Präsident ernennt den Außenminister und den Verteidigungsminister, das Parlament den Rest der Regierung. Die Kompetenzen sind jedoch unklar formuliert, was wiederholt zu politischen Krisen in der Ukraine geführt hat. Die seit 2014 wieder gültige Verfassung war ein Kompromiss auf dem Höhepunkt der Orangen Revolution 2004. Die Verfassungswirklichkeit, insbesondere die Schwäche des Parlaments, ermöglicht dem ukrainischen Präsidenten eine dominante Rolle in der Gesetzgebung. In Kiew wird regelmäßig über eine Verfassungsänderung diskutiert, um die Stellung des Parlaments zu stärken, doch dem jeweiligen Präsidenten fehlt nach einer Wahl dazu der Anreiz. Es wäre denkbar, dass Zelens’kyj sein Amt auf eher repräsentative Weise ausüben und einer zukünftigen Verfassungsänderung dadurch den Weg bereiten wird.

Kulyk: Laut der Verfassung, die nach dem Euromajdan im Februar 2014 in Kraft trat, ist der Präsident Staatsoberhaupt mit weitreichenden, aber keineswegs umfassenden exekutiven Kompetenzen. Neben der Zuständigkeit für die Außen- und Verteidigungspolitik hat er auch das Recht, den Zentralbankchef, den Generalstaatsanwalt und den Direktor des Nachrichtendienstes SBU zu nominieren. Wenn ein Präsident also den Rückhalt einer großen Fraktion im Parlament oder die Unterstützung zahlreicher Abgeordneter genießt, kann er ziemlich mächtig werden. Das war bei Kučma und Viktor Janukovyč der Fall. Wenn nicht, wird er isoliert und ignoriert. So erging es Viktor Juščenko.

Durkot: Gwendolyn Sasse und Volodymyr Kulyk haben bereits das Entscheidende gesagt. Man darf nicht vergessen, dass mit der Verfassungsänderung von 2004 die Macht des Präsidenten wesentlich beschränkt wurde. Das Parlament ist ein wichtiger politischer Akteur. Auf der anderen Seite kann der Präsident jedes vom Parlament beschlossene Gesetz durch sein Veto blockieren und unter bestimmten Bedingungen das Parlament auflösen. Die ukrainischen Präsidenten haben bisher fast immer versucht, ihre Kompetenzen über die Verfassung hinaus auszuweiten. Sie haben sich in die Arbeit der Regierung eingemischt und auch versucht, Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen. Ein Extremfall war die gesetzeswidrige Rückkehr zur Verfassung von 1996 unter Viktor Janu­kovyč. Diese hatte wesentlich mehr Vollmachten an den Präsidenten delegiert als die veränderte Fassung von 2004. Doch selbst gegen diese alte Verfassung hat Janukovyč mit seiner Machtusurpation verstoßen.

Wilson: Angesichts des semipräsidentiellen Systems in der Ukraine sind die anstehenden Parlamentswahlen im Juli 2019 formal mindestens so wichtig wie die Präsidentschaftswahlen. Tatsächlich ist die informelle Macht des Präsidenten viel wichtiger. Und wir werden bis zum Oktober und danach Zeugen eines Machtkampfs zwischen Zelens’kyj und der alten Garde werden, der zum Teil sogar innerhalb seines Teams ausgetragen werden wird.

Osteuropa: Unmittelbar nach seiner Amtseinführung als Präsident hat Zelens’kyj die Auflösung der Verchovna Rada und vorgezogene Neuwahlen verkündet. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Sasse: Das war ein taktisch kluger Schachzug! Zelens’kyj unterstreicht damit seinen Anspruch, von Anfang an das Heft des Handelns in der Hand zu halten. Das geht nur mit einem Parlament, in dem er breite Rückendeckung genießt. Je kürzer der Wahlkampf, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Zelens’kyj den Rückenwind aus der Präsidentschaftswahl nutzen kann.

Durkot: Ob das klug war, sich für die harte Variante der Auflösung zu entscheiden, sei dahingestellt. Die Begründung zur Auflösung des Parlaments ist juristisch umstritten. Die politische Konstellation macht jedoch Neuwahlen möglich. In der Tat will Zelens’kyj aus seinem Kantersieg und steigenden Umfragewerten für seine Partei sofort politisches Kapital schlagen.

Kulyk: Das war zu erwarten. Da Zelens’kyj als Präsident keine Basis für eine zuverlässige Unterstützung in der Rada hatte, war klar, dass er versucht sein könnte, das Parlament aufzulösen, um seine Popularität in einen Wahlsieg seiner Partei umzumünzen. Die Abgeordneten hätten die Auflösung verhindern können, wenn sie seine Amtseinführung auf einen Termin nach dem 27. Mai gelegt hätten. Das wäre dann innerhalb der letzten sechs Monate der laufenden Legislaturperiode gewesen. Und die Verfassung verbietet es, in diesem Zeitraum das Parlament aufzulösen. Die meisten Abgeordneten haben entweder nicht geglaubt, dass Zelens’kyj sich trauen würde, die Rada aufzulösen, oder sie haben sich nicht getraut, sich seinem Willen zu widersetzen, weil sie eher ihre Bereitschaft demonstrieren wollten, mit ihm zu kooperieren.

Osteuropa: Wie weit ist denn Zelens’kyjs Versuch gediehen, die Partei Diener des Volkes als Präsidentenpartei aufzubauen?

Durkot: Bis vor kurzem waren die Diener des Volkes eine rein virtuelle Partei. Es gab den Namen, aber keine Strukturen, keine Gesichter, kein Programm, keine Aktivitäten. Nach der Festlegung des Wahltermins auf den 21.7. dürfte sich das ändern. Allerdings ist die Gefahr nicht zu unterschätzen, dass diese Partei zum großen Teil aus Trittbrettfahrern und Lobbyisten bestehen wird. Und obwohl momentan niemand weiß, wen oder was er da wählt, könnte diese Partei die mit Abstand größte Fraktion im Parlament stellen.

Miščenko: Die Ergebnisse der Umfragen legen einen solchen Wahlausgang nahe. Momentan kämen die Diener des Volkes auf 40 Prozent der Stimmen. Der neue Stil von Zelens’kyjs Präsidentschaftswahlkampf kam in der Bevölkerung gut an. Er war weniger hierarchisch, auf Augenhöhe mit den Wählerinnen und Wählern, kommunikativer, inklusiver, partizipativer. Zelens’kyj verzichtete im Gegensatz zu Porošenko auf schwarze PR, auf Angstmache. Ich hoffe, dass die Diener des Volkes im Wahlkampf und in der realen Politik daran anknüpfen werden.

Kulyk: Dennoch bleibt völlig unklar, wer in dieser Partei ist. Zelens’kyj und seine Berater werden sich damit erst beschäftigen, wenn er als Präsident alle personalpolitischen Entscheidungen getroffen hat.

Sasse: Selbst wenn die Diener des Volkes aus den vorgezogenen Parlamentswahlen als stärkste Partei hervorgehen und in der Verchovna Rada die größte Fraktion stellen sollten, so darf das nicht über eine institutionelle Schwäche hinwegtäuschen. In der Ukraine existiert kein gefestigtes Parteiensystem. Wahlen und die daraus hervorgehenden Koalitionen im Parlament werden von losen Blöcken dominiert, die sich um prominente Namen gruppieren, aber letztlich keine einheitlichen Interessen vertreten. Eine Ausnahme ist Julija Tymošenkos Partei Bat’kivščyna. Sie ist im ganzen Land auf kommunaler Ebene verankert und kommt damit einer Partei im westeuropäischen Sinne am nächsten. Programmatisch lassen sich die einflussreichen Kräfte nicht eindeutig in politischen Lagern verorten; ihre Strategie ist pragmatisch bis populistisch.

Wilson: Wenn das Wahlrecht nicht geändert wird, werden 225 der 450 Sitze der Verchovna Rada in den Wahlkreisen vergeben. Da werden die Diener des Volkes Schwierigkeiten haben, Mandate zu erringen. Es sei denn, Zelens’kyj lässt sich auf Deals mit den lokalen Eliten ein, aber dann wird er sofort vom „System“ verschluckt.

Kulyk: Das Wahlsystem ist das A und O. Dass die Diener des Volkes die Mehrheit der Sitze in der Rada erringen werden, wie die Umfragen prognostizieren, ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass die Wahlen komplett nach dem Verhältniswahlsystem stattfinden. Andrew Wilson erinnert zu Recht daran, dass nach dem geltenden gemischten Wahlsystem die Hälfte der Abgeordneten über Listen nach der Verhältniswahl und die andere Hälfte in Einmandatswahlkreisen nach dem Mehrheitsprinzip gewählt werden. Zelens’kyj hat sich zwar für das Verhältniswahlsystem stark gemacht. Auf den ersten Blick scheint es, als folgte er damit sowohl den Stimmen aus der Zivilgesellschaft, die seit Jahren die Demokratisierung des Wahlsystems fordern, als auch den Wünschen der Parteiführer, die sich durch ein reines Verhältniswahlsystem mehr Abgeordnete für ihre jeweilige Partei erhoffen. Wie immer steckt der Teufel aber im Detail. Während die Zivilgesellschaft sich für offene Listen stark macht und die Wahl jedes Kandidaten von der Zustimmung der Wählerinnen und Wähler abhängig machen will, bevorzugen Zelens’kyj und die Parteiführer geschlossene Parteilisten. Das garantiert ihnen eine größere Kontrolle über die Zusammensetzung der Fraktionen.

Osteuropa: Zelens’kyj wird eine Nähe zu dem Oligarchen Ihor Kolomojs’kyj nachgesagt. Welchen Einfluss kann Kolomojs’kyj nach den Wahlen auf Zelens’kyj nehmen? Welche Haltung beziehen andere einflussreiche Oligarchen wie Achmetov?

Wilson: Zelens’kyjs Beziehung zu Kolomojs’kyj ist die Schlüsselfrage schlechthin. Jedes noch so kleine Entgegenkommen wird die raison d’être von Zelens’kyjs Präsidentschaft unterminieren. Andere Oligarchen werden sofort versuchen mitzumischen. Entscheidend für Zelens’kyj ist, ob er sich dessen erwehren kann.

Durkot: Zumindest ist diese Nähe keine gute Ausgangsposition. Zelens’kyjs Aufstieg und die Rolle des Senders „1+1“, der Ihor Kolomojs’kyj gehört, sind ein Beispiel für die Macht der Medien. Wir wissen im Moment über Zelens’kyjs Abhängigkeiten ebenso wenig wie über seine politischen Vorstellungen. Ohne „1+1“ wäre seine Wahl nicht möglich gewesen. Andere Oligarchen halten sich bedeckt und warten ab. Falls Zelens’kyjs Wahl zu Machtverschiebungen im Gefüge der Oligarchen führt, wie es nach Porošenkos Wahl der Fall war, kann er je nach Konstellation Verbündete unter ihnen finden. Sollte er aber versuchen, an den Fundamenten des Systems zu rütteln, werden die Oligarchen eine geschlossene Front gegen ihn bilden.

Kulyk: Alles hängt davon ab, wie ehrgeizig Zelens’kyj ist. Er könnte seinen Sponsoren (allen voran Kolomojs’kyj, aber auch anderen Oligarchen) die faktische Entscheidungsmacht überlassen. Er könnte aber auch versuchen, ein starker politischer Führer zu werden. Dann müsste er sich von seinen Sponsoren abgrenzen. Seine ersten Schritte als Präsident sowie seine Personalentscheidungen – mit wem er sich in der Präsidialverwaltung umgibt und wer für seine Partei zu den Parlamentswahlen kandidieren wird – werden zeigen, welchen Weg er einschlägt.

Miščenko: Das sehe ich auch so. Solange Zelens’kyj die wichtigsten Positionen in der Präsidialverwaltung und der Generalstaatsanwaltschaft nicht besetzt hat, lässt sich darüber nur spekulieren. Unter Porošenko ist Rinat Achmetov einflussreicher denn je geworden. Er kontrolliert etwa 35 Prozent des nationalen Energiemarktes. Nun deutet Zelens’kyj eine Reform der Kartellbehörde an. Ob das Achmetov betrifft, ist unklar. Wir wissen schlicht nicht, welche Rolle die Kolomojs’kyjs, Achmetovs und die anderen Oligarchen künftig spielen werden.

Sasse: Aber wir können sagen, dass Ihor Kolomojs’kyj und andere Oligarchen versuchen werden, Zelens’kyjs vage Agenda inhaltlich und personell zu beeinflussen. Bisher ist seine Beziehung zu Kolomojs’kyj am engsten. Wie Zelens’kyj mit der Causa PrivatBank umgeht, in der Kolomojs’kyj versucht, auf juristischem Weg die Verstaatlichung der von ihm zuvor kontrollierten und in den Ruin getriebenen Bank zu hintertreiben, wird aufschlussreich sein. Jegliches Entgegenkommen würde Zelens’kyjs Image als Korruptionsbekämpfer gleich zu Anfang stark schädigen und seine Position schwächen. Achmetov hat sich in den vergangenen Jahren höchst pragmatisch verhalten und mehrere politische Kräfte gleichzeitig unterstützt. Die Oligarchen werden ihre wirtschaftlichen Interessen verteidigen, benötigen aber vor allem ein stabiles politisches Umfeld und konkrete Anreize. Das könnte die Aussicht auf Frieden im Donbass ebenso sein wie neue wirtschaftliche Möglichkeiten im Westen.

Osteuropa: Warum hat Galizien anders als der Rest des Landes für Porošenko gestimmt? Hat die auffällige Kluft Folgen für Galizien und seine Stellung in der Ukraine?

Kulyk: Tatsächlich hat Porošenko nur im Gebiet L’viv mehr Stimmen bekommen als sein Gegner. Hierin unterscheidet sich die Wahl von vorangegangenen, als ganz Galizien anders wählte als der Rest der Ukraine. Das zeigt, dass sogar in Galizien die Hoffnung auf einen schnellen und radikalen Wandel über die Angst vor negativen Konsequenzen für die nationale Sicherheit und Identität gesiegt hat. Es ist unwahrscheinlich, dass der neue Präsident versuchen wird, die Einwohner Galiziens für ihre „falsche“ Wahl zu „bestrafen“. Wahrscheinlicher ist, dass er sie und andere Porošenko-Wähler mit patriotischen Sprüchen umgarnen wird, so wie es 1994 Kučma und 2010 Janukovyč versuchten.

Miščenko: Wahrscheinlich kam Zelens’kyjs kulturelle Identität den Menschen in L’viv zu fremd vor. Es gibt eine auffällige Kluft zwischen der „kulturellen Elite“, einer lauten Minderheit, die Porošenko unterstützte, und dem Rest der Gesellschaft, der stillen Mehrheit.

Sasse: Galizien war Porošenkos Hochburg und ist es geblieben. Hier ist sein Wahlslogan „Armee. Sprache. Glaube“ auf Resonanz gestoßen. Die Wahlbeteiligung lag über dem Landesdurchschnitt. Zelens’kyj erreichte in der Stichwahl sowohl in L’viv als auch in den Gebieten der Region L’viv im Durchschnitt ein Drittel der Stimmen, Porošenko zwei Drittel. Auch in L’viv war Porošenkos Niederlage vor der Stichwahl nicht ausgeschlossen worden. Der Bürgermeister der Stadt hatte ihn stetig kritisiert. Doch standen die Porošenko-Kritiker nicht geeint hinter Zelens’kyj. Im ersten Wahlgang unterstützten sie eher Anatolij Hrycenko. L’viv als historischer und aktueller Mittelpunkt einer im engeren Sinne national gedachten Ukraine, als Treffpunkt ukrainischer Intellektueller sowie als Ort, an dem die Westorientierung der Ukraine längst gelebt wird und der Krieg im Donbass weit entfernt scheint, betont mit der Wahl seine Sonderstellung. Ob die Tatsache, dass Nachbarregionen wie Ivano-Frankivs’k und Ternopil’ für das Experiment Zelens’kyj gestimmt haben, eine längerfristige politische oder ideelle Umorientierung von Teilen der Westukraine bedeutet, muss sich noch zeigen. Auf alle Fälle ist es ein Signal, dass auch die Bevölkerung im Westen den Präsidenten an konkreten Reformergebnissen und nicht an seiner nationalen Rhetorik misst.

Durkot: Die Lage in Galizien ist ein bisschen differenzierter. Das größte und wichtigste Gebiet, das Gebiet L’viv, hat anders als der Rest der Ukraine gewählt. Das Wahlergebnis hier war beinahe eine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse im Landesdurchschnitt. Im Norden des Gebiets L’viv und in den ärmeren Karpatendörfern lag Poro­šenko nicht so weit vorn. Und in den Gebieten Ivano-Frankivs’k und Ternopil’ hat Zelens’kyj gesiegt, wenn auch mit deutlich geringerem Vorsprung vor Porošenko als im Landesdurchschnitt. L’viv hat Porošenko als das kleinere Übel gewählt. Nur in diesem Gebiet ist Porošenkos Strategie aufgegangen. Er hat Zelens’kyj als total unerfahrenen, „leeren“ und deshalb für das Land gefährlichen Politiker dargestellt, als „leichte Beute für Putin“. Und er hat ihn als jemanden angegriffen, der die ukrainische Sprache gefährden und eine schleichende Rückkehr der alten Garde der Partei der Regionen ermöglichen werde. Die Ukrainer insgesamt haben nach dem Motto gewählt: „Komme, was wolle, nur nicht weiter so!“ Das Gebiet L’viv hat sich entschieden für „Weiter so, keine Experimente“. Das ist ein sehr konservatives Verhalten, aber kein Ausdruck einer tiefen Kluft, es wird keine weitreichenden Folgen für das Land haben.

Wilson: Dass im Gebiet L’viv Porošenko die Nase vorne hatte, lag nicht nur daran, dass sein nationalistischer Slogan „Armee, Sprache, Glaube“ hier mehr verfing. Es hat nicht so sehr mit Porošenkos Bemühungen zur Gründung einer autokephalen Ukrainischen Orthodoxen Kirche zu tun, denn die meisten Menschen in Galizien gehören ohnehin der Unierten Griechisch-Katholischen Kirche an. Eher war es so, dass die Galizier angesichts der Tatsache, dass die Ukraine sich immer noch im Krieg befindet, den Rest des Landes für leichtfertig hielten.

Osteuropa: Hat Zelens’kyj eine Chance, wenigstens einen dauerhaften Waffenstillstand im Donbass zu erreichen? Welches Vorgehen würde er wählen?

Durkot: Zelens’kyjs Spielraum ist begrenzt. Den Schlüssel hält Moskau in der Hand. Russland sieht den Konflikt im Donbass nicht nur als Möglichkeit, die Ukraine zu destabilisieren oder sie sogar in seinen eigenen Orbit zurückzuholen, sondern auch als Teil eines größeren Konflikts mit dem Westen. Solange es geht, wird Moskau den „Krieg auf Sparflamme“ fortsetzen. Der Konflikt könnte durch eine politische Kapitulation einer der beiden Konfliktparteien beendet werden. Aber dies ist nicht vorstellbar. Für Kiew können selbst kleine Zugeständnisse gefährlich werden. Zudem würden sie eine Kompromissbereitschaft in Moskau voraussetzen, die aber nicht vorhanden ist. Es gibt keine einfache Lösung.

Miščenko: Ob Zelens’kyj einen Waffenstillstand erreichen kann, hängt stark von den internationalen Partnern ab. Bleiben die Sanktionen gegen Russland in Kraft? Wird Nord Stream 2 gebaut? Das beeinflusst Russlands Haltung.

Wilson: Mit Verlaub: Zelens’kyjs Äußerungen zum Krieg sind unglaublich naiv. Wer eine Verhandlung beginnen will, ohne einen klaren Plan zu haben, läuft Gefahr, ein Desaster zu erleben. Schauen Sie sich doch den Brexit an. Russland wird Zelens’kyj auf seine Schwächen testen, wahrscheinlich mit neuen Aktionen im Asowschen Meer. Aber es gibt sicherlich Spielraum für Friedensinitiativen.

Kulyk: Welche sollen das sein? Ich sehe das nicht. Und Zelens’kyj hat keine Chance, einen dauerhaften Waffenstillstand zu erreichen. Putin hat schlicht kein Interesse daran, dass Zelens’kyj dieses Problem löst, so wie er kein Interesse hatte, dass Porošenko es löst. Russland wird einer dauerhaften Waffenruhe nur zustimmen, wenn die Ukraine wesentliche Zugeständnisse macht, etwa einen Sonderstatus für den Donbass akzeptiert oder auf eine EU- und vor allem eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet. Ein derartiges Zugeständnis würde Zelens’kyj allerdings komplett in Misskredit bringen und heftige Proteste auslösen. Das ist höchst unwahrscheinlich. Zelens’kyj wird eher auf innenpolitischem Gebiet versuchen, seine Wählerinnen und Wähler zufriedenzustellen – etwa durch schärfere Anti-Korruptions-Gesetze oder indem er die strafrechtliche Verfolgung korrupter Leute aus Porošenkos Umfeld vorantreibt.

Sasse: Das sehe ich ähnlich. Ein dauerhafter Waffenstillstand hängt primär von Russland ab. Es wäre unklug von Zelens’kyj, sich so bald wie möglich mit Putin zu direkten Verhandlungen zu treffen, wie er es im Wahlkampf angekündigt hat. Auch Zelens’kyjs Vorschlag, die USA und Großbritannien in den Minsker Prozess einzubinden, ist wenig realistisch. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass es im Normandie-Format neue Treffen geben wird. Russland wird testen wollen, ob sich die Verhandlungen mit Zelens’kyj anders gestalten. Bestenfalls wird es einen stabileren Waffenstillstand und Fortschritte in praktischen Fragen vor Ort geben. Die Tatsache, dass Zelens’kyj politisch nicht festgelegt ist und auf die Interessen der russischsprachigen Ukrainer und des Südostens der Ukraine eingehen will, mag in Moskau als Gelegenheit für neue Verhandlungen, aber auch als Chance für eine stärkere Einflussnahme gesehen werden. Bisher bietet Zelens’kyj wenig Angriffsfläche für Moskau. Er taugt nicht als Sündenbock oder als Feindbild. Daher hat Moskau auf die Wahl mit herablassenden Bemerkungen und Provokationen reagiert, so mit der Ankündigung, dass die Bevölkerung der sogenannten „Volksrepubliken“ nun russländische Pässe erhalten könne.

Osteuropa: Der Krieg in der Ostukraine ist weder eingefroren noch beendet. Aus der Friedensforschung ist bekannt, dass die Gefahr der Eskalation eines Konflikts besonders groß ist, wenn Konfliktlinien parallel verlaufen und sich verstärken. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Autokephalie der ukrainischen Kirche, den Konflikt im Asowschen Meer sowie Putins Ankündigung, dass Bewohner der „Volksrepubliken“ in der Ostukraine russländische Pässe erhalten können?

Kulyk: Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen diesen Themen. Die Autokephalie ist ein nationales, innerstaatliches Problem, wenn auch mit relevanten geopolitischen Implikationen. Zwar war Russland bestrebt, die Autokephalie der ukrainischen Kirche zu verhindern. Doch mir scheint, dass Moskau sein Scheitern in dieser Sache akzeptiert und lediglich versucht, das Ausmaß der Besitzübertragung von der Russischen Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats auf die Autokephale Ukrainische Kirche zu begrenzen. Der Wechsel des Präsidenten könnte dazu beitragen. Zelens’kyj wird wahrscheinlich weniger Druck auf die Gemeinden der Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats ausüben, als dies Porošenko getan hat. Was die beiden anderen Probleme betrifft, so sind sie international und haben das Potential zur Destabilisierung der gesamten Region. Inwiefern es dazu kommen wird, hängt maßgeblich von der Entschlusskraft und dem Geschick des neuen Präsidenten ab, und davon, ob sein Widerstand gegen Putin vom Westen unterstützt wird.

Wilson: Herr Kulyk, Sie oder wir im Westen mögen vielleicht keinen logischen Zusammenhang zwischen der Kirchenfrage und der maritimen Sicherheit erkennen, aber Russlands Führung sieht das ganz anders. In den vergangenen anderthalb Jahren hat es zwei einschneidende Ereignisse gegeben. Das eine ist der Bau der Brücke von Kerč: Russlands Führung ist überzeugt, damit einen erheblichen strategischen Vorteil und einen mächtigen Hebel gewonnen zu haben, der ihr über das Asowsche Meer hinaus neue Handlungsspielräume im Schwarzen Meer eröffnet – und faktisch ist das auch so, wenn der Westen nicht klarer Stellung bezieht. Zum zweiten hat das Thema der Ukrainischen Autokephalen Kirche enorme Implikationen für die Ukraine, für Russlands Selbstbild und für die orthodoxen Kirchen weltweit. Putin hat immer betont, wie stark er dem Gedanken der Einheit der Orthodoxie persönlich verpflichtet sei. Ich befürchte, dass wir erst am Anfang dieser Konflikte stehen.

Durkot: Das sehe ich auch so. Die parallelen Konfliktlinien haben schon vorher existiert und wurden von Russland geschaffen oder verstärkt. Denken wir an die „russische Orthodoxie“ als Ideologie für die „Russische Welt“ oder an die Blockade der ukrainischen Häfen im Asowschen Meer nach dem Bau der Brücke zur Krim. Jetzt erhöht Moskau den Druck auf den neuen Präsidenten. Dazu gehören das Angebot, dass die Bewohner der „Volksrepubliken“ russländische Pässe erhalten können, oder die angedrohten Exportbeschränkungen für Benzin und Diesel. Auch der Bau der Nord Stream 2 und die Verhandlungen über den Gastransit tragen dazu bei. Zelens’kyj wird keine Schonfrist haben.

Sasse: Die Konfliktlinien zwischen Russland und der Ukraine liegen offen, doch die Lage im Donbass ist komplexer. Wir haben im März 2019 eine Umfrage in den nicht von Kiew kontrollierten Gebieten wiederholt. Erneut zeigt sich, dass die Mehrheit der dortigen Bevölkerung nach wie vor zur Ukraine gehören will, auch wenn die Zahl derer, die sich vorstellen kann, zu Russland zu gehören, seit 2016 steigt. Die Ankündigung, dass die Bevölkerung in einem vereinfachten Verfahren russländische Pässe erhalten könne, macht aus einer längst bestehenden Praxis offizielle Politik. Sie wird als Hilfe für die Bevölkerung in den selbsternannten „Volksrepubliken“ dargestellt, soll aber vor allem den Anspruch Russlands auf die Region untermauern. Dass der Weg zum Pass einfacher werden soll, bedeutet jedoch nicht, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung in den „Volksrepubliken“ nun nach Russland orientiert.

Osteuropa: Wie beurteilen Sie den Stand der ukrainischen Nationsbildung?

Sasse: Der Majdan und der Krieg im Donbass haben die Idee eines unabhängigen ukrainischen Staates und das Gefühl, zu diesem Staat zu gehören, gestärkt. Diese Identität ist von einer engeren Definition der ukrainischen Nation auf der Grundlage von ethnischen und sprachlichen Kriterien zu unterscheiden. Die Ergebnisse unserer Umfragen zeigen, dass sich in den Jahren 2017–2018 eine offenere, staatsbezogene Identität im Land etabliert hat.[1] Dazu gehört auch, dass die Bilingualität im Südosten der Ukraine weniger konfliktträchtig ist als häufig angenommen.

Kulyk: Der Euromajdan und Russlands Aggression gegen die Ukraine haben einen enormen Schub ausgelöst. Die nationale Identität ist heute viel ausgeprägter, die ukrainische Sprache weiter verbreitet und das historische Gedächtnis weniger von sowjetischer Erinnerungskultur geprägt als davor. Gleichzeitig unterscheiden sich die Regionen der Ukraine noch immer erheblich. Viele Menschen hegen Nostalgie für die Sowjetunion und sehnen sich nach einer russlandfreundlichen Politik der Ukraine. Dazu wird es aber kaum kommen, solange Russland nicht bereit ist, die militärische Intervention im Donbass zu beenden. Insofern werden die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung und die Elite eine prorussische Politik nicht akzeptieren.

Miščenko: Zum Glück ist das ethnonationale Projekt fürs erste unterbrochen. Jetzt können wir wieder über die Idee einer politischen Nation sprechen, wie direkt nach dem Majdan.

Durkot: Die Bildung der ukrainischen Nation ist eine Schaukelbewegung: Mal gehen wir in Richtung einer politischen Nation der Bürgerinnen und Bürger der unabhängigen Ukraine, mal in Richtung einer ethnisch definierten Nation. Ein Ausgleich ist auf diese Weise schwer zu finden.

Das Gespräch wurde am 21. Mai 2019 geführt.


[1] Gwendolyn Sasse, Alice Lackner: Public Perceptions in Flux: Identities, War, and Transnational Linkages in Ukraine, 2017–18. ZOiS-Report, 4/2018.