Provokation und Gegenwehr
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 182.–183. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 1.10.2025
Russland versucht, die NATO-Staaten mit Nadelstichen einzuschüchtern. Diese intensivieren ihre Zusammenarbeit und bauen die Unterstützung der Ukraine aus. Sogar in den USA zeichnet sich eine mögliche Wende der Ukrainepolitik ab. Auf die Lage an der Front wird dies jedoch bis auf weiteres keine Auswirkungen haben. Russland greift weiter an vielen Abschnitten an, erzielt jedoch kaum Geländegewinne.
Russland versucht seit der zweiten Septemberhälfte, die NATO-Staaten durch Demonstration seiner Militärmacht unter Druck zu setzen. Den Anfang machte das Eindringen von rund 20 Drohnen in den polnischen Luftraum am 9. September. Am 19. September flogen über der Ostsee zwei russländische Kampfjets 80 Kilometer nördlich von Danzig in der polnischen Wirtschaftszone in geringer Höhe über die Ölplattform Petrobaltic. Einen Tag später durchflogen drei MIG-31-Kampfflugzeuge den estnischen Luftraum über der Ostsee. Schließlich wurde ein Schiff der russländischen Marine entdeckt, das sich mit ausgeschaltetem Erkennungssystem mehrere Tage in der Nähe der dänischen Küstenzone vor der Insel Langeland aufhielt.
Doch der Schuss ging nach hinten los. Die NATO-Staaten haben als Reaktion ihre Zusammenarbeit und die Kooperation mit der Ukraine intensiviert. Die seit langem angekündigte Verschärfung der Sanktionen zur Unterbindung russländischer Ölexporte könnte nun kommen. Auch wollen die westlichen Staaten konsequenter gegen russländische Kryptobörsen sowie weltweit gegen Banken und Unternehmen vorgehen, die Russlands Rüstungsindustrie am Laufen halten.
Im militärischen Bereich haben sie die Lieferung neuer Waffen an die Ukraine angekündigt. Nach Angaben des US-Vizepräsidenten prüfen die USA den Verkauf von Tomahawk-Marschflugkörpern an die europäischen Verbündeten zur Weitergabe an die Ukraine. Diese haben je nach Typ eine Reichweite von bis zu 2500 Kilometern und können mit bunkerbrechenden Gefechtsköpfen bestückt werden. Nach ukrainischen Angaben sei auch bereits beschlossen, dass die Luftwaffe weitere westliche Kampfflugzeuge erhält, darunter schwedische Maschinen des Typs Saab JAS 39 Gripen. Der schwedische Verteidigungsminister Pål Jonson widersprach allerdings der Darstellung, dass die Entscheidung über die Gripen-Jets bereits gefallen sei.
Schließlich intensivierten die NATO-Staaten die militärische Zusammenarbeit untereinander und mit der Ukraine. Polnische Soldaten sind in die Ukraine entsandt worden, wo sie in der Abwehr von Drohnen geschult werden. Die ukrainische Armee hat versprochen, aktiver gegen Drohnen vorzugehen, die in Richtung des polnischen Luftraums fliegen. Im estnischen Tartu wurde die Ankunft von Leopard-Panzern registriert, die im Falle eines Eindringens russländischer Truppen nach Estland zum Einsatz kommen. Und die NATO will eine Brigade mit 4000–5000 Mann im finnischen Lappland stationieren, die hauptsächlich von schwedischen Truppen getragen wird.
Die Lage an der Front
In der zweiten Septemberhälfte fanden an mindestens 12 Frontabschnitten heftige Kämpfe statt. Dennoch ist die Lage abgesehen von der Entwicklung im Raum Kupjans’k insgesamt stabil. Kleinere Geländegewinne der Okkupationsarmee bei Lyman und Pokrovs’k haben die Lage der ukrainischen Truppen bislang nicht weiter verschlechtert. Die in ukrainischen Militärkreisen geäußerte Befürchtung, Russland könne seine Offensive mit dem Einsatz von weiteren 100 000 Mann intensivieren, die im Raum Pokrovs’k zusammengezogen worden seien, ist bislang nicht eingetreten. Es ist kaum wahrscheinlich, dass ein solcher Großangriff noch im Jahr 2025 erfolgen wird. Mitte Oktober beginnt der Herbstregen, ein Vordringen mit Fahrzeugen wird dann auf den aufgeweichten Böden kaum noch möglich sein. Zudem kann sich die Infanterie des Angreifers nach dem Laubfall nicht mehr der Entdeckung durch Drohnenkameras entziehen.
Kupjans‘k
Die russländischen Besatzungstruppen sind in der letzten Septemberwoche offenbar in Richtung des Stadtzentrums der im Gebiet Charkiv gelegenen Stadt Kupjans’k vorgerückt. Die genaue Lage ist unklar, da die Kriegsparteien widersprüchliche Darstellungen liefern. Das Moskauer Verteidigungsministerium behauptete zunächst, die ukrainischen Truppen seien eingekreist und dann am 23. September sogar, zwei Drittel der Stadt seien unter Kontrolle gebracht. Die ukrainische Armee und die Staatsführung behaupteten hingegen, der Vormarsch sei gestoppt worden. Auch die russischsprachige Abteilung von BBC widersprach der Moskauer Darstellung.
Am 26. September hieß es im ukrainischen Militärkanal DeepState dann jedoch: „Der Feind sickert weiter nach Kupjans‘k ein, im Stadtzentrum werden einzelne Personen gesichtet. Der beigefügten Karte zufolge ist die Situation sogar noch schlimmer. Zwei große Bezirke im Norden der Stadt sind als „vollständig unter Kontrolle des Gegners“ ausgewiesen, weite Teile der Stadt als „umkämpfte Zone“. Es ist recht eindeutig, dass es der Ukraine in diesem Raum schlicht an Soldaten mangelt. Nach russländischen Angaben halten nur rund 700 Mann die Stadt.
Den russländischen Angriff auf Kupjans’k befehligt ein ehemaliger Kommandeur der ukrainischen Armee. Der heute 50-jährige Sergej Storoženko kommt aus dem Gebiet Charkiv, absolvierte in den 1990er Jahren in Kiew eine renommierte Militärhochschule und war 2009 stellvertretender Kommandeur des ukrainischen KFOR-Kontingents im Kosovo. Nach seiner Rückkehr vom Balkan wurde er Kommandeur einer Brigade auf der Krim, blieb dort nach der Annexion der Halbinsel im Jahr 2014 und wurde in die russländische Armee eingegliedert.[1]
In Kupjans’k, wo Anfang der 1990er Jahre 35 000 Menschen wohnten und Anfang 2022 noch 26 000, befinden sich nach Angaben der Stadtverwaltung Ende September 2025 noch 1660 Zivilisten. Ihre Anwesenheit behindert die ukrainische Armee erheblich, doch während der einmonatigen Kämpfe ließen sich nur 200 Menschen evakuieren.
Mittlerweile sind die kommunalen Dienste sowie die Wasser- und Stromversorgung eingestellt. Möglicherweise kann die ukrainische Armee Kupjans’k noch einige Monate halten, vielleicht wird sie aber auch in den nächsten Wochen aufgegeben werden müssen. Strategische Bedeutung hat die Stadt nicht, doch es handelte sich um die größte Stadt im Nordosten des Gebiets Charkiv und sie hat zweieinhalb Jahre lang die besten Einheiten der Gruppe Nord der russländischen Armee an einem Vorrücken gehindert.
Verschlechtert hat sich auch die Situation in Vovčans’k ganz im Norden des Gebiets Charkiv. Diese ebenfalls fast vollständig entvölkerte Stadt war im Februar 2022 von den Okkupanten eingenommen und im September 2022 von der ukrainischen Armee befreit worden. Seit einem erneuten Angriff im Mai 2024 halten die ukrainischen Truppen nur noch den südlich des Flusses Vovča gelegenen Teil, konnten aber immer wieder in die besetzten Viertel vordringen. Nun haben die Besatzungstruppen die ufernahe Zone südlich des Flusses erobert und das Gelände der lange hart umkämpften Chemiefabrik unter ihre Kontrolle gebracht.[2]
Die Lage an den übrigen Frontabschnitten
Im Norden des Gebiets Sumy wird erbittert gekämpft. Russländische Militärblogger behaupten, die seit Sommer belagerte Ortschaft Junakivka sei eingenommen worden. Auch nördlich von Charkiv hat Russland die Angriffe verstärkt. Umkämpft ist gegenwärtig die Siedlung Lypci, von der es noch 20 Kilometer bis zum Stadtrand von Charkiv sind. Bislang gelingt es der ukrainischen Nationalgarde, die Besatzungstruppen aufzuhalten. Im Raum Lyman im Norden des Gebiets Donec’k wird nördlich und östlich der Stadt gekämpft. Nordwestlich der Stadt haben russländische Truppen die Siedlung Šandryholovo am Fluss Nitrius eingenommen. Von dort sind es nur noch rund 15 Kilometer bis zum Fluss Oskil, einem wichtigen Wasserlauf im Osten des Gebiets Charkiv.
Gleichzeitig befinden sich die Besatzungstruppen damit auch am Ostrand des Walds von Svjatohirs’k, der sich von dort bis zur Stadt Svjatohirs’k und zum Sivers‘kyj Donec’k zieht. Entlang des Sivers‘kyj Donec’k verlief die Frontlinie von Mai bis September 2022, bis die ukrainische Armee die Besatzer in einer Gegenoffensive zurückdrängen konnten. Der Fluss schützt das westlich davon gelegene Slovjans’k, die mit rund 100 000 Einwohnern Anfang 2022 größte Stadt im Nordwesten des Gebiets Donec’k und Hauptziel der Okkupationsarmee in diesem Raum. Die Entwicklung ist bislang nicht dramatisch, jedoch durchaus besorgniserregend. Der in dieser Gegend durchweg mindestens 50 Meter breite Sivers‘kyj Donec’k stellt allerdings ein Hindernis dar, das die Besatzer auch im Sommer 2022 nicht überwinden konnten.
In den Frontabschnitten bei Kostjantynivka, Časiv Jar und Torec’k ist die Lage weitgehend unverändert. Lediglich bei Pokrovs’k ist es nach Einnahme der südlich der Stadt gelegenen Ortschaft Trojanda offenbar einigen russländischen Aufklärungstrupps gelungen, in die südöstlichen Außenbezirke vorzudringen. Ihr Ziel ist klar: Sie sollen die nach Westen führende Fernstraße E50 unter Kontrolle nehmen, die letzte größere Verbindung in die Stadt, über die der Nachschub für die gesamten ukrainischen Truppen läuft, die die zu 60 Prozent eingeschlossene Agglomeration von Pokrovs’k halten.
Die ukrainische Armee vermeldet andererseits weitere Erfolge nördlich von Pokrovs’k bei Dobropil’e. Am 18. September reiste sogar Präsident Zelens’kyj dorthin, um die Soldaten für ihren Einsatz bei der Unterbindung eines gefährlichen russländischen Vorstoßes zu belobigen. 160 Quadratkilometer seien befreit, auf weiteren 170 km² die Tätigkeit gegnerischer Sabotagetrupps unterbunden worden. Russland habe rund 1700 Soldaten verloren, weitere 1500 seien schwer verwundet worden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die ukrainische Armee bewusst darauf verzichtet, die Versorgung der eingekesselten Soldaten der Okkupationsarmee zu unterbinden, um dem Gegner durch Beschuss der nachrückenden Truppen weitere Verluste beizufügen.
Die ukrainische Führung scheint mit der Operation bei Dobropil’e so zufrieden zu sein, dass sie nun die Schaffung einer eigenen Teilstreitkraft angekündigt hat. In den „Sturmtruppen“ sollen alle bisherigen Sturmregimenter und -bataillone zusammengefasst werden, um dort eine starke Unterstützung durch Drohneneinheiten zu erhalten. Dies ist eine Reaktion auf die riskante Taktik der russländischen Armee, die sich zuletzt auf tiefe Vorstöße an Schwachstellen der ukrainischen Verteidigung verlegt hat. Entsprechend trainierte und ausgestattete ukrainische Truppen könnten solche Vorstöße rasch unterbinden.
Gebraucht würden solche Einheiten gegenwärtig vor allem dort im „Dreiländereck“ der Gebiete Donec’k, Zaporižžja und Dnipropetrovs’k. Die dortigen Geschehnisse werden von den Medien kaum beachtet, tatsächlich aber hat Russland in diesem Raum in den vergangenen Monaten die größten Geländegewinne gemacht. Woche für Woche erobern die Besatzer dort weitere Siedlungen.
Zivilisten im Kampfgebiet
Ukrainische Medien berichteten am 24. September, bei der Einnahme des erwähnten Dorfs Šandryholovo hätten russländische Soldaten sieben Dorfbewohner erschossen und ein Mädchen als Geisel genommen, das sie anschließend als lebendiges Schutzschild eingesetzt hätten. Russländische Militärblogger reagierten mit der Behauptung, die toten Zivilisten, die auf einem veröffentlichten Video von zu sehen sind, seien von ukrainischem Drohnen getötet worden. Was genau geschehen ist, lässt sich bislang nicht sagen. Die Ereignisse werfen allerdings erneut die Frage auf, weshalb sich Zivilbevölkerung im Kampfgebiet befindet. Immer wieder kommt es zu Tragödien, weil sich als „Zögerer“ (žduny) bezeichnete Menschen trotz aller Gefahren weigern, Haus und Hof zu verlassen. Oft misstrauen die Menschen auch den Behörden. Tatsächlich bleibt die Unterbringung von Evakuierten und deren soziale Absicherung eine große Herausforderung für den ukrainischen Staat.
Nachrichten über überfüllte Erstaufnahmelager tragen dazu bei, dass viele Menschen zu lange warten und nicht nur sich, sondern auch Evakuierungshelfer wie die der NGO Vostok SOS in große Gefahr bringen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
[1] Zum Werdegang von Storoženko und den Hintergründen seines Übergangs in die russländische Armee im Jahr 2014 siehe ein Interview, das die Novaja Gazeta 2016 mit ihm führte.
[2] Zu der Schlacht um Vovčans’k siehe: Kämpfen bis zur Vernichtung: Die Schlacht um eine ukrainische Chemiefabrik gibt tiefe Einblicke in den Krieg. NZZ, 26.10.2024.