Putins rationaler Wahnsinn
Manfred Sapper
Putin ist getäuscht von seinem eigenen Weltbild
Die ZEIT, 2.3.2022
Wir haben lange ignoriert, welche enorme Rolle einzelne Politiker und ihre Prägungen für die Weltpolitik spielen können. Auch Wladimir Putin ist nur in seiner eigenen Logik zu verstehen. Das, was er tut, wirkt aus seiner Weltsicht heraus rational. Das Problem ist, dass diese Weltsicht nach unseren Maßstäben irrational ist. Mitunter wirkt sie geradezu wahnsinnig.
Putins Weltsicht lautet: Die Auflösung der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe, die geschehen konnte. Deshalb ist jede seiner Handlungen darauf ausgerichtet, eine imperiale Ordnung wieder- herzustellen. Putin ist im Glauben des Sowjetmenschen sozialisiert: Wir sind besser als andere, wir sind die Größten. Andere müssen uns fürchten. Er ist ein mustergültiger Repräsentant der sowjetischen Geheimdienstmentalität, für die es nur Freund oder Feind gibt. Viele von uns haben vor einigen Tagen die Sitzung von Putins Sicherheitsrat verfolgt. Das war wie ein Mafiatreffen. Sergej Naryschkin, Chef des Auslandsgeheimdienstes, suchte zitternd nach Worten, dann wurde er schulmeisterlich von Putin abgekanzelt. Putin ist der capo dei capi, Boss der Bosse, und so agiert er schon immer.
Eigentlich überrascht mich am meisten, dass jetzt alle überrascht sind von ihm. Putin ist nicht kontrolliert. Er ist bekannt für seine emotionalen Ausreißer. Der Gossenjargon gehört zu ihm. Er hat in seiner ersten autorisierten Biografie davon erzählt, dass er als Jugendlicher ein Hänfling war. Auf Leningrader Hinterhöfen lernte er: Wer schwach ist, wird geschlagen. Putin wollte nicht mehr schwach sein. Vor Jahren, als ihn Journalisten nach Russlands Vorgehen im Tschetschenienkrieg fragten, sagte er: Wir werden sie noch auf der Latrine kaltmachen. In solchen Momenten wird der echte Putin sichtbar. Da brechen die Aggressionen, das Ressentiment, die Gewalt und die Verachtung für andere hervor, die tief in ihm verankert sind. Putin ist ein zutiefst zynischer, aggressiver, autoritärer Geist. Ausbrüche sind Teil seines psychischen Kostüms.
Betrachten wir, was derzeit in der Ukraine passiert: Putin hat sich mit seinem Angriffskrieg vorläufig verkalkuliert. Die Erfolge an der Front sind, Stand Montag, begrenzt, seine Armee ist in Schwierigkeiten, und politisch ist es ein Debakel. Er hat es fertiggebracht, die Ukrainer endgültig gegen sich aufzubringen. Er hat die EU zusammengeschweißt. Er hat die angeblich hirntote Nato wiederbelebt. Er hat die politischen Kräfte, die in den westlichen Gesellschaften seine letzten nützlichen Idioten waren, endgültig demaskiert – etwa Gerhard Schröder. Er hat Nord Stream 2 ruiniert. Er hat die Bedingungen für eine neue Isolation Russlands geschaffen. Seine Politik hat somit fatale Ergebnisse gezeitigt. Deshalb droht er nun mit der Atom- bombe – ein Eingeständnis der militärischen Schwäche im konventionellen Krieg gegen die Ukraine.
Je mehr Putin sich bedrängt fühlt, umso mehr muss man sich sorgen. Eine Triebfeder für ihn ist Rache. Sein Umgang mit dem Oppositionellen Alexej Nawalny zeigt das, auch sein Angriff auf die Ukraine ist durchdrungen von Rachegedanken gegen alle, die sich nach Westen wenden. Zugleich summieren sich die Rückschläge, die er erlebt. Er ist gekränkt, nachdem er politisch vielfach gescheitert ist. Das Jahr 2011/12 etwa ist für ihn im Rückblick eine riesige Niederlage. Er war davon ausgegangen, dass Russlands Bevölkerung klaglos jene Rochade akzeptieren würde, die ihm den Machterhalt erlauben sollte: Putin hatte Dmitri Medwedew zum Platzhalter-Präsidenten gemacht, um die Verfassung zu umgehen und schließlich selbst als Präsident zurückzukehren. Aber das Volk protestierte. Seither beobachten wir die Radikalisierung des Putinismus.
Ein Problem ist, dass es heute in Russland kaum mehr Machtkontrolle gibt, die es sogar in der Sowjetunion noch gab. Dort herrschten Handlungsabläufe, die benennbar waren. Man wusste um die Rolle des Zentralkomitees und kannte das Politbüro. Es war klar, wer welche Entscheidung traf. Auch heute haben noch Geheimdienstler und Militärs Putins Ohr. Allerdings weiß man selbst in Putins engerem Kreis nicht mehr, wer ihn berät. Das ist das Diktatoren-Dilemma: Wer 23 Jahre an der Macht ist, um den wird es immer einsamer.
Als Putin seinen Auslandsgeheimdienstchef Naryschkin verhöhnte, wurde klar, welche Risse es in der russischen Führung gibt. Sollte es in der Ukraine schwierig für Putin bleiben und sollten die Sanktionen stärker spürbar werden, werden diese Friktionen aufbrechen. Auch das hat er nicht kalkuliert. Es gibt eben kein richtiges Handeln innerhalb einer falschen, irrationalen Weltsicht.