Rasender Stillstand
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 184.-185. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 16.10.2025
Die ukrainische Armee hält den russländischen Angriffen im Osten des Landes weiter stand. Trotz heftiger Gefechte gab es zuletzt kaum Gebietsverluste. Dies hat auch damit zu tun, dass die Offensivkraft der russländischen Armee erschöpft ist. Sie kann kaum noch kampffähige Männer für die verlustreichen Sturmangriffe rekrutieren. Im Kontrast zum Stillstand an der Front treiben beide Seiten den Luftkrieg voran. Die Attacken werden mit immer mehr Drohnen mit immer größeren Gefechtsköpfen geführt. Ins Visier der ukrainischen Angriffe könnte bald auch Russlands Baltische Flotte geraten.
Die beste Nachricht aus dem Osten der Ukraine ist: Es gibt kaum Neuigkeiten. Zwar wird an mindestens einem Dutzend Frontabschnitten schwer gekämpft. Doch die ukrainischen Truppen hielten den Vorstößen der Okkupationstruppen in der ersten Oktoberhälfte fast überall stand. Einzig im Gebiet Zaporižžja gelingt es den Besatzern, die Verteidigungsstellungen der ukrainischen Armee im Raum Huljaj-Pol’e zu umgehen und entlang der Grenze zum Gebiet Dnipropetrovs’k vorzudringen.
Die Lage an der Front
Russlands Präsident Putin hat sich zu seinem Geburtstag am 7. Oktober ein Treffen mit der Militärführung geschenkt. Neben Generalstabschef Gerasimov waren die Kommandeure der sechs Armeegruppen nach Petersburg geladen. Gerasimov rapportierte, Russlands Streitkräfte hätten im Jahr 2025 5000 Quadratkilometer Land mit 219 Siedlungen „befreit“ – die zurückeroberten Landstriche im Gebiet Kursk auf dem Territorium Russlands eingerechnet. Seine Ausführungen gaben einen Einblick in das Einsatzgebiet der Armeegruppen. Die Gruppe Nord operiert von den Gebieten Kursk und Belgorod aus in den ukrainischen Gebieten Charkiv und Sumy. Der Angriff auf das im Osten des Gebiets Charkiv gelegene Kupjans’k wird allerdings ebenso wie jener auf Lyman im Gebiet Donec’k von der Gruppe West geführt. Diese ist im Gebiet Luhans’k stationiert, ihr Einsatzgebiet liegt im Frontabschnitt nördlich des Sivers’kyj Donec, also zwischen Kreminna und der Staatsgrenze im Bereich des russländischen Gebiets Belgorod. Die Gruppe Süd operiert von den Gebieten Luhans’k und Donec’k aus und greift die ukrainischen Verteidigungsstellungen Sivers’kyj Donec an. Ihre aktuelle Aufgabe ist die Eroberung von Sivers’k, Časiv Jar und Kostjantynivka – sowie ganz im Süden ihres Operationsgebiets der restlichen ukrainischen Stellungen in Torec’k. Weitere Ziele sind die aktuell noch 25-30 Kilometer von der Front entfernten Großstädte Slovjans’k und Kramators’k.
Die Gruppe Zentrum ist im Raum Pokrovs’k eingesetzt. Den Gruppen Süd und Zentrum gelangen in der ersten Hälfte des Jahres 2025 die größten Eroberungen. Gegenwärtig sind sie stark geschwächt. Aufgrund hoher Verluste ist ihr Vormarsch weitgehend gestoppt, bei Dobropillja musste sich die Gruppe Zentrum nach dem Verlust von rund 1000 Soldaten um 15 Kilometer zurückziehen.
Die Gruppe Ost hat nach einer langen Phase mit schweren Verlusten, vor allem bei Vuhledar, in den vergangenen anderthalb Jahren große Geländegewinne erzielt. Sie drang im Raum Kurachove–Novosilka nach Westen in Richtung des Dreiländerecks der Gebiete Donec’k–Dnipropetrovs’k–Zaporižžja vor und stößt nun von dort in südlicher Richtung in den Rücken der starken ukrainischen Verteidigungsstellungen im Raum Huljaj-Pole vor, wo die Ukraine im April 2022 den Vormarsch der Besatzungstruppen gestoppt hatte. Ende September 2025 gelang einer Einheit dieser Gruppe ein plötzlicher Vorstoß nach Verbove im Südosten des Gebiets Dnipropetrovs’k. Da die ukrainischen Reserven diese Truppen des Gegners nicht rechtzeitig zurückdrängen konnten, gelang es diesen, den Vorstoß auszubauen. Nun bedrohen sie die ukrainischen Truppen nördlich und südlich der neuen Frontausbuchtung. Nach Gerasimovs Angaben habe die Gruppe Ost seit dem 1. September 200 Quadratkilometer unter Kontrolle gebracht. Die ukrainische Armeeführung schenkt dieser von zahlreichen kleinen Dörfern geprägten Region keine besondere Aufmerksamkeit. Dies könnte sich rächen, wenn nicht nur Huljai-Pol’e, sondern auch das nördlich gelegene Pokrovs’ke (nicht zu verwechseln mit der weiter nordöstlich gelegenen Industriestadt Pokrovs’k) eingeschlossen werden.
Die Gruppe Dnepr schließlich versucht, entlang des Dnipro auf die Großstadt Zaporižžja vorzurücken. Seit drei Monaten wird um die einstmals am Ufer des Kachovka-Stausees gelegenen Siedlungen Stepnohirs’k und Primors’ke gekämpft. Russländische Kriegsblogger beklagen, dass die Ukraine in diesem Bereich besonders viele FPV-Drohen im Einsatz habe, was einen Vormarsch verhindere.
Im Visier: Russlands „Baltische Flotte“
Die Ukraine hat in den vergangenen anderthalb Jahren mehrfach Ölterminals russländischer Ostseehäfen mit schweren Kampfdrohnen angegriffen. Von Attacken auf die Baltische Flotte ist bislang nichts bekannt. Nach den zahlreichen Drohnenvorfällen im Ostseeraum stellt sich allerdings die Frage, welche Rolle die Baltische Flotte bei diesen spielte und ob die Ukraine nun auch militärische Ziele in Nordwestrussland und im Gebiet Kaliningrad angreifen wird. Dies könnten Munitions- und Treibstofflager sein, ebenso Luftabwehrstellungen und Kommunikationsanlagen der Marine. Auch Stabsquartiere und Kasernen, insbesondere solche der Marineinfanterie, ungeschützte Schiffe – etwa Schlepper oder auf Reede bzw. in einer Werft liegende Kreuzer – sowie militärische Einrichtungen an Land könnten zum Ziel von Angriffen werden, die vor allem die Verwundbarkeit der Baltischen Flotte demonstrieren sollen.
Natürlich geht es dabei auch um die Schiffe, mit denen Russland Öl auf den Weltmarkt bringt. Am 30. September stoppte die französische Marine einen Tanker, der wahrscheinlich der russländischen Schattenflotte zuzurechnen ist und vom Ölterminal Primorsk bei St. Petersburg zu der Raffinerie im nordwestindischen Vadinar unterwegs war, an der Rosneft‘ mit 49 Prozent beteiligt ist. Die Besatzung des Schiffs, das zuvor innerhalb kurzer Zeit drei Mal den Namen und den Flaggenstaat gewechselt hatte, steht im Verdacht, auf der Fahrt durch dänische Küstengewässer jene Drohnen gestartet zu haben, die eine zeitweilige Schließung dänischer Flughäfen verursachten. Am nächsten Tag forderte der Telegram-Kanal Rybar‘, der die Ansichten des Militärgeheimdiensts GRU verbreitet, dass Russland angesichts der „offenen Piraterie von Seiten der NATO-Staaten“ die Baltische Flotte häufiger zum Schutz seiner Handelsschiffe einsetzen solle. Angesichts der geringen Kapazitäten der Baltischen Flotte müssten, so Rybar‘, neue Kriegsschiffe gebaut und bis zu deren Einsatzfähigkeiten andere Methoden zum Schutz der Handelsschiffe eingesetzt werden.
Die Ostsee könnte aber auch deswegen Schauplatz des Luftkriegs werden, weil die Standorte der Schwarzmeer-Flotte mit denen der Baltischen Flotte – sowie der Nordmeerflotte und der Kaspischen Flotte – verbunden sind: kleinere Schiffe sowie U-Boote können über die Neva, den Onega- und den Ladoga-See, die Wolga, den Wolga-Don-Kanal und den Don an einen neuen Einsatzort verlegt werden oder auch in den Werften am Ufer der Wolga (Zelenodol’sk und Nižnij Novgorod) und der Neva repariert werden.
Tatsächlich gab die Ukraine am 4. Oktober bekannt, Spezialkräfte der Armee hätten bei Drohnenangriffen auf Ziele im Gebiet Leningrad und angrenzenden Regionen auf dem Onega-See eines der modernsten Kriegsschiffe Russlands attackiert: den zur Baltischen Flotte gehörenden Raketenkreuzer „Grad“ der Reihe „Bujan-M“. Getroffen wurde offenbar der Maschinenraum des im Jahr 2022 vom Stapel gelaufenen Schiffs, von dem aus Marschflugkörper des Typs Kalibr und Oniks gestartet werden können.
Russlands Rekrutierungsprobleme
Russland bietet Männern, die bereit sind, in den Krieg zu ziehen, immer höhere Summen. Und doch strömen keine Massen zu den Wehrämtern, um einen Vertrag mit der Armee zu unterzeichnen. Dies veranlasste den patriotischen Z-Blogger Aleksandr Kartavskij auf seinem Telegram-Kanal am 5. Oktober zu einer „Umfrage“ zu diesem Thema. Er sei von einem Mann aus der „gosucha“ – verächtlich für Staatsdienst – gefragt worden, warum selbst mit 100 000 Euro nicht mehr Männer dazu gebracht würden, für das Vaterland zu kämpfen, und legte die Frage den Lesern vor. Der Post wurde 255 000 Mal angesehen, 5000 Antworten gingen ein, ein Dutzend weiterer Z-Blogger mit großer Reichweite, darunter sehr bekannte Militärblogger, sowie viele kleinere Kanäle verbreiteten ihn oder fassten die Antworten zusammen. Es war die größte Aktion der patriotischen Z-Öffentlichkeit seit mindestens einem Jahr.
Das Ergebnis der „Umfrage“ deckt sich mit dem, was ukrainische Kanäle seit zwei Jahren immer wieder schreiben – zu propagandistischen Zwecken, gestützt jedoch auf Aussagen von Kriegsgefangenen sowie auf im Internet kursierenden Videos von Angehörigen kämpfender oder wahrscheinlich längst gefallener Männer.
Das „tiefe Volk“ – die Menschen aus den ländlichen Regionen Russlands – war zu Beginn des Kriegs angesichts der für sein Verhältnis unvorstellbar hohen Sold- und Kompensationszahlungen sehr bereit, einen Vertrag mit der Armee zu unterzeichnen. Recht bald wurde allerdings klar, dass man sich damit in die Hände despotischer Kommandeure begibt, die von der Armeeführung unrealistische Vorgaben bekommen, welche Gebiete in welchem Zeitraum einzunehmen seien. Daher benötigen die Kommandeure permanent frische Kräfte für Sturmtrupps. Jeder, der neu an die Front kommt, wird sofort in einen solchen Trupp gesteckt. Militärische Ausbildung und körperliche Eignung spielen keine Rolle. Und natürlich erst recht nicht die Versprechungen, die ihnen bei Vertragsunterzeichnung gemacht wurden. Von einer zweimonatigen Grundausbildung kann keine Rede sein. Die Vorbereitung dauert allenfalls zwei Wochen. Es sind aber auch Fälle bekannt, in denen von der Vertragsunterzeichnung bis zum ersten – tödlichen – Einsatz genau 14 Tage vergangen waren. Das einzige, was einfache Soldaten möglicherweise davor bewahren kann, erneut an die vorderste Front geschickt zu werden, sind mehrfache Verwundungen.
Wer erst einmal einen Vertrag unterschrieben hat, kommt aus der Armee erst mit seinem Tod oder dem – unabsehbaren – Ende des Kriegs wieder heraus. In vielen Fällen erweist sich auch die Hoffnung auf das viele Geld als Illusion. Die Soldaten müssen für ihre Ausrüstung, ihre Verpflegung und viele andere Dinge selbst bezahlen und werden zudem häufig von den Kommandeuren erpresst. Am Ende bleibt von dem riesigen Sold wenig übrig. Diese Wahrheiten lassen sich nicht verbergen, da sie von Soldaten auf Fronturlaub oder verwundeten Soldaten ins Land getragen werden.
Da sich immer weniger Freiwillige finden, wächst der Anteil der verurteilten Straftäter an den neu angeworbenen Soldaten, die sich mit dem Vertrag bei der Armee aus dem Gefängnis freikaufen. Auch zahlreiche Langzeitarbeitslose und Obdachlose – und unter ihnen viele in fortgeschrittenem Alter – sind der Armee zugeführt worden. Ihre Kampffähigkeit geht gegen Null. Kampffähige junge Männer erhält die Armee vor allem, indem sie Wehrpflichtige, bei Ablauf ihrer Dienstzeit – in der sie nicht an der Front eingesetzt werden dürfen – zur Unterzeichnung eines Vertrags drängt. Jüngere kampffähige Männer finden sich auch unter den – in sehr vielen Fällen wegen Drogendelikten – verurteilten Straftätern. Nicht selten wurde gegen die Männer erst in einem Strafverfahren ermittelt und sie sind dem Urteil und der Haft durch einen Vertrag mit der Armee zuvorgekommen.
Nicht thematisiert wurden in der Debatte der Z-Blogger die ausländischen Söldner in den russländischen Truppen. Deren Anzahl ist nicht bekannt. Fest steht, dass es Tausende sind und sie aus Dutzenden Ländern kommen. Die USA gehen offenbar von bis zu 5000 Kubanern aus.
Dass Kuba wie zuvor Nordkorea Soldaten nach Russland geschickt habe, ist seit Frühjahr 2025 in den russländischen Militärkanälen zu lesen. Angaben über Anzahl und Einsatzort werden jedoch nie gemacht. Auch die ukrainischen Medien berichten nicht über dieses Thema. Investigativjournalisten des von der Zeitung Nastojaščee Vremja (Die Gegenwart) und Radio Free Europe getragenen Projekts „Sistema“ haben jüngst eine Recherche über zwei Frauen aus Rjazan‘ veröffentlicht, die rund 100 Kubaner und Sri-Lanker an die Front vermittelt hatten – wahrscheinlich als Mitglieder der von der Verwaltung des Gebiets aufgestellten Division. Die Frauen stahlen Geld von den Konten der Söldner, flogen auf – und wurden selbst in einem Strafbataillon an die Front geschickt.
Der Luftkrieg
Während die Frontlinie zuletzt weitgehend unverändert blieb und die Kampfhandlungen auf dem Schwarzen Meer weitgehend eingestellt sind, eskalieren beide Seiten den Luftkrieg. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben die Drohnenproduktion massiv gesteigert und stellen immer neue Modelle mit technischen Erweiterungen her.
Russland hat in den ersten sieben Monaten des Jahres 2025 die Ukraine mit 29 000 Kampfdrohnen attackiert – elf Mal mehr als im Zeitraum Januar-Juli 2024. Rund zwei Drittel davon trugen Sprengköpfe, bei rund einem Drittel handelte es sich um Attrappen, die der Überlastung der Flugabwehr dienen. Im Januar 2025 setzte Russland 2500 Kampfdrohnen ein, im Juli bereits 5600. Im August 2025 reduzierte Russland vor dem Hintergrund der Gespräche in Alaska die Zahl der Attacken um ein Drittel. Nach dem Scheitern der Verhandlungen folgten im September Angriffe mit 5638 Drohnen und 185 Raketen. Nicht eingerechnet sind hier Drohnen mit einer Reichweite von unter 100 Kilometern, die Russlands Armee gegen Ziele an der Front und im frontnahen rückwärtigen Raum einsetzt.
Am 5. September setzte Russland einen neuen Negativrekord mit 800 schweren Kampfdrohnen und Attrappen in einer Nacht. Seitdem erfolgen die Angriffe zwei Mal in der Woche mit mindestens 500 Flugapparaten pro Nacht. Frontnahe Städte wie Zaporižžja, Charkiv, Krivyj Rih, Slovjans’k und Kramatorsk werden fast jede Nacht mit Drohnen kürzerer Reichweite attackiert.
Die Ukraine hat ihre Drohnenproduktion ebenfalls gesteigert und attackiert Russland mittlerweile fast jede Nacht. Der bislang größte Angriff erfolgte mit 270 Flugapparaten in einer Nacht.
Gleichzeitig findet ein rasanter Rüstungswettlauf statt. Konnte eine Drohne des am häufigsten von Russlands Armee eingesetzten Typs Geran‘-2 noch vor zwei Jahren einen Brandsatz mit einem Höchstgewicht von 30 Kilogramm transportieren, so sind es heute 90 Kilogramm. Fünf solcher Drohnen können also inzwischen die gleiche Menge an Spreng- und Brandmittel transportieren wie eine Rakete oder ein Marschflugkörper. Beim Angriff auf Kiew am 17. Juni setzte Russland 280 Geran‘-2 und 160 Attrappen ein. Zusätzlich zu dem Drohnenschwarm kamen zwei ballistische Raketen vom Typ Kinžal, 16 Luft-Boden-Marschflugkörper vom Typ Ch-101, vier seegestützte Marschflugkörper vom Typ Kalibr und neun Lenkflugkörper vom Typ Ch-59 oder Ch-69. Die Raketen und Marschflugkörper trugen eine Sprenglast von 12 Tonnen, die 280 Drohnen von 14 Tonnen (wenn alle Gefechtsköpfe mit 50 kg Sprengmittel bestückt waren) oder sogar 20 Tonnen (wenn die Hälfte der Drohnen 90 kg Sprengmittel trugen).
Auch sind die Geran‘-2-Drohnen mittlerweile mit Sensoren ausgerüstet, die angreifende Abfangdrohnen detektieren und ein abruptes Absinken der Flughöhe auslösen – die Drohnen fliegen heute in einer Höhe von 4000 Metern, so dass sie nicht mehr von mobilen Abwehrtrupps mit Maschinengewehren getroffen werden können. Außerdem sind die Flugapparate mit Kommunikations- und Steuersystemen ausgestattet, die sowohl eine direkte Lenkung durch den Drohnenführer als auch eine Weitergabe des Signals von Drohne zu Drohne ermöglichen. Letztere Methode dient der Überwindung der elektronischen Abwehrmaßnahmen der ukrainischen Armee. All dies erlaubt es Russland inzwischen, auch tagsüber mit Drohnen anzugreifen. Dies führt dazu, dass die ukrainische Flugabwehr im 24-Stunden-Einsatz ist und dringend zusätzliches Personal benötigt.
Die von der Ukraine entwickelten Abfangdrohnen seien nach Angaben von Präsident Zelens’kyj sehr erfolgreich. 68 von 100 eingesetzten Apparaten – die zu Kosten von 3000–5000 US-Dollar das Stück hergestellt würden, im Gegensatz zu 150 000 für eine russländische Angriffsdrohne – würden das Zielobjekt zerstören. Kritiker Zelens’kyjs sagen jedoch, Geran‘-Drohnen könnten heute am helllichten Tag ungestört am Himmel über Kiew kreisen.
Die Ukraine setzt heute ebenfalls Drohnen mit größeren Gefechtsköpfen ein. Vor allem aber hat sie auch die Reichweite der Flugapparate gesteigert. Im Oktober schlugen Drohnen in der Raffinerie Antipino im westsibirischen Tjumen‘ ein – 2000 Kilometer hinter der Frontlinie. Zuvor war der weiteste Angriff in einer Entfernung von 1400 Kilometern erfolgt. Das bedeutet, dass das gesamte europäische Russland, einschließlich der Rüstungsunternehmen im Ural, attackiert werden kann. Allerdings hat die Ukraine die neuen Möglichkeiten lediglich demonstriert. Seit dem Einschlag in Tjumen‘ hat es keine Angriffe auf entfernte Ziele mehr gegeben. Dies verschafft Russland natürlich Zeit, sich an die veränderte Lage anzupassen.
Gleichzeitig wächst in der Ukraine die Kritik an den Angriffen auf Infrastruktur in Russland, die keine unmittelbare militärische Bedeutung hat. Eine nächtliche Attacke mit 100–150 Drohnen kosten je nach Schätzung zwischen drei und 15 Millionen US-Dollar. Da 80-90 Prozent ihr Ziel nicht erreichen, ist das Abfackeln eines weiteren Öltanks eine teure Angelegenheit. Ob mit solchen Methoden die Angriffsstärke der russländischen Armee verringert werden kann, wird mittlerweile in Zweifel gezogen. Zwar ist es der Ukraine im August gelungen, in zahlreichen Regionen Russlands einen Benzinmangel zu verursachen. Doch die Armeefahrzeuge werden fast ausnahmslos mit Diesel betankt – und Benzin kann im Notfall mit Verzögerung aus Belarus und China importiert werden. Viel seltener hingegen werden Fabrikhallen der Rüstungsindustrie angegriffen, und ob die Attacken größere Auswirkungen haben, ist meist nicht zu erkennen. Sprengsätze, die ganze Gebäude zerstören könnten, können ukrainische Drohnen bislang nicht transportieren. Und die Umspannstationen für die Stromversorgung der Betriebe hat Russland mittlerweile größtenteils mit Schutzeinrichtungen ausgestattet.
Die Kostenfrage ist vor allem deswegen relevant, weil die ukrainische Armee weiter große Summen benötigt, um die kämpfenden Truppen an der Front auszurüsten. Sie benötigen Fahrzeuge, Waffen – etwa westliche Präzisionsgewehre und die sehr teure Spezialpatronen für diese –, optische Geräte, Computertechnik, persönliche Ausrüstungsgegenstände für die Soldaten und spezielle Drohnen, die nicht in der Ukraine gefertigt werden. Die Summen, die Unterstützer bei Spendenkampagnen einwerben, sind – wie auch im Falle ähnlicher Aktionen in Russland – im Jahr 2025 zurückgegangen. Einige ukrainische Stimmen führen den Mangel an Ausrüstung auch darauf zurück, dass ein Teil der zur Verfügung stehenden Gelder versickert. Die Drohnenproduktion, bei der große Staatsaufträge zur Herstellung eines Massenprodukts vergeben werden, eignen sich ideal für die Abzweigung von Schmiergeldern an die Auftraggeber. Das Ukrainische Amt für den Kampf gegen Korruption (NABU) hat gerade erst die Ermittlungen gegen sieben Drohnenproduzenten aufgenommen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.


