Ales' Bjaljacki © Sjarhei Gryc
Ales' Bjaljacki © Sjarhei Gryc

Raus aus der Sackgasse

Für eine neue europäische Belarus-Politik

Ina Rumiantseva, 10.12.2025

Deutschland und die Europäische Union kritisieren die verheerende Menschenrechtslage in Belarus scharf. Das Regime soll mit Sanktionen zur Einstellung der Repressionen gezwungen werden. Diese Politik ist seit fünf Jahren erfolglos, die Lage hat sich weiter verschlechtert. Doch Belarus wird immer mehr mit Russland gleichgesetzt, eine eigenständige Belarus-Politik gibt es kaum noch. Auf diese Weise wird Belarus Moskau preisgegeben. Ein anderer Ansatz ist nötig und möglich. Sanktionen sind kein Ersatz für Diplomatie, sie müssen als Mittel der Diplomatie eingesetzt werden. Erstes und oberstes Ziel ist die Freilassung der politischen Gefangenen. Dann gilt es, den Handlungsspielraum von Minsk gegenüber Moskau zu vergrößern. Dies ist ein eminentes Interesse Deutschlands und der EU.

Am 10. Dezember 2022 wurde der Gründer des belarusischen Menschenrechtszentrums „Vjasna“, Ales‘ Bjaljacki, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet (gemeinsam mit dem russischen Menschenrechtszentrum „Memorial“ und dem ukrainischen „Zentrum für bürgerliche Freiheiten“). Bjaljacki saß damals bereits anderthalb Jahre in Untersuchungshaft. Seither sind weitere drei Jahre vergangen. Noch einmal so viel liegen vor ihm bis zu seiner voraussichtlichen Entlassung aus dem Straflager im Februar 2029. Ales‘ Bjaljacki ist dabei einer von mehr als 1200 politischen Gefangenen in Belarus, die unter unmenschlichen Bedingungen und zum Teil seit mehr als fünf Jahren zu Unrecht inhaftiert sind. Insgesamt hat „Vjasna“ 3814 Fälle dokumentiert, in denen Menschen seit 2020 aus politischen Gründen strafrechtlich verurteilt wurden. Mindestens neun von ihnen sind aufgrund von Folter, unmenschlichen Haftbedingungen oder unterlassener medizinischer Hilfe während ihrer Haft gestorben.

Und doch hat sich in diesem düsteren Gesamtbild etwas Entscheidendes verändert: Seit Juli 2024 wurden rund 400 politische Gefangene vorzeitig aus der Haft entlassen – dank internationaler diplomatischer Bemühungen, insbesondere der USA. Die EU spielte in diesem Prozess hingegen bislang kaum eine Rolle.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten thematisieren regelmäßig die verheerende Menschenrechtssituation in Belarus, setzen aber seit fünf Jahren primär auf Sanktionen und politische Isolation im Umgang mit Belarus. Dieser Ansatz hat jedoch seine menschenrechtlichen Ziele nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Lage in Belarus hat sich seit 2020 erheblich verschlechtert. Gleichzeitig hat die Isolationspolitik der EU die ohnehin dramatische Abhängigkeit des Landes von Russland weiter vertieft. Das Regime in Minsk trägt dafür zwar selbst die Hauptverantwortung, doch eine Situation, in der Russland die vollständige Kontrolle über alle innen- und außenpolitischen Entscheidungen in Belarus übernimmt, liegt weder im Interesse der EU noch der NATO.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie eine kluge Neuausrichtung der Belarus-Politik aussehen könnte, die die Freilassung der Gefangenen ins Zentrum rückt und die europäischen Staaten in die Lage versetzt, den begonnenen diplomatischen Prozess konstruktiv auszuweiten. Eine solche Politik kann zugleich ein zentraler Baustein einer nachhaltigen Sicherheitsstrategie der EU für die Region sein, in der der Einfluss Russlands eingedämmt und die Eigenstaatlichkeit von Belarus gewahrt wird.

Bestandsaufnahme

Seit geraumer Zeit mehren sich die Stimmen, die eine Neuausrichtung der europäischen Belarus-Politik und den Beginn von humanitären Verhandlungen mit Minsk anmahnen. Diese Einschätzungen beruhen auf einer Reihe von Erkenntnissen:

Erstens: Die drei zentralen Forderungen der Proteste von 2020 – die Freilassung aller politischen Gefangenen, ein Ende staatlicher Gewalt sowie freie und faire Wahlen – wurden nicht erfüllt. Stattdessen hat sich die humanitäre Krise in Belarus weiter verschärft und verfestigt.

Zweitens: Aljaksandr Lukšenka hat seine Macht seit 2020 konsolidiert und den Repressionsapparat massiv ausgebaut. Mittelfristige Szenarien umfassen – neben einem chaotischen Zusammenbruch des Regimes infolge politischer und wirtschaftlicher Instabilität in Russland – unterschiedliche Formen autoritärer Kontinuität. Diese reichen von einer begrenzten Öffnung gegenüber Europa und einer teilweisen Rückkehr zu einer multivektoriellen Außenpolitik bis zum Verharren im Status eines Moskauer Marionettenstaats oder sogar zum gänzlichen Verlust der Eigenstaatlichkeit .Wohin Belarus sich entwickelt, hängt in hohem Maße – aber nicht ausschließlich – von Russland und dem Fortgang des Kriegs in der Ukraine ab. Eine umfassende Demokratisierung gilt nicht als realistische Option.[1]

Drittens: Die europäische Sanktionspolitik blieb in Bezug auf die Menschenrechtssituation weitgehend wirkungslos. Die schärfsten Sanktionen waren dabei keine Antwort auf die schweren Menschenrechtsverbrechen, sondern standen im Zusammenhang mit der Beteiligung von Belarus an Russlands Krieg gegen die Ukraine. Die wirklich schmerzhaften Sanktionen kamen zu einem Zeitpunkt, als das Regime – auch aufgrund des raschen Moskauer Eingreifens– seinen schwächsten Moment längst überwunden hatte.[2]

Viertens: Das von Svjatlana Cichanoŭskaja geführte „Vereinte Übergangskabinett“ (United Transition Cabinet, UTC) ist zwar zentraler Ansprechpartner der EU, verfügt aber nur über sehr begrenzten Einfluss auf die Lage in Belarus. Vor und nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 konnte Cichanoŭskaja breite gesellschaftliche Gruppen mobilisieren, nicht zuletzt, weil sie geopolitische Fragen bewusst ausklammerte. Heute vertritt das UTC in zentralen innen- und außenpolitischen Fragen meist Positionen, die im Einklang mit den europäischen Partnern stehen und auch von einem Teil der Diaspora mitgetragen werden. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass diese Positionen in Belarus selbst heute kaum mehrheitsfähig sind.

Fünftens: Russland hat das Vakuum, das die EU nach ihrem Rückzug aus Belarus hinterlassen hat, konsequent genutzt und seinen Einfluss mit Hilfe des sogenannten Unionsstaates massiv ausgebaut. Weder die stärkere Kooperation mit China noch neue Partnerschaften in Afrika bieten Minsk eine echte strategische Alternative. Die tiefe Abhängigkeit von Russland ist zu einer existenziellen Bedrohung der belarusischen Eigenstaatlichkeit geworden. Von dieser Entwicklung profitiert vor allem Russland.

Gelingt es Moskau, den Zugriff auf Belarus weiter auszubauen, gefährdet dies die regionale Sicherheit erheblich. Ein stabiler Frieden in der Ukraine ist kaum möglich, wenn Russland von belarusischem Territorium unmittelbar nördlich von Kiew uneingeschränkt operieren kann. Genau von dort erfolgte im Februar 2022 der Angriff auf die ukrainische Hauptstadt. Ein „Beitritt“ von Belarus zur Russländischen Föderation im Zuge einer „politischen Annexion“ könnte zudem zur Blaupause für Russlands imperiale Bestrebungen in Zentralasien werden.

Das bloße Warten auf „bessere Zeiten“ – konkret: auf einen Zusammenbruch des Regimes in Moskau oder in Minsk – setzt auf eine ungewisse Zukunft und verschärft die gegenwärtige Lage. Zudem mindert es die Chancen auf einen späteren Wandel. Kommt es im Rahmen möglicher Verhandlungen über ein Ende des Angriffskriegs gegen die Ukraine zur Aufhebung der Sanktionen gegen Russland, würden möglicherweise auch die restriktiven Maßnahmen gegen Belarus aufgehoben. Dann hätte Lukašenka seine Ziele gegenüber dem Westen erreicht, ohne dafür Gegenleistungen wie die Freilassung der politischen Gefangenen oder die Einstellung der Repressionen erbracht zu haben.

Entscheidend ist es daher, die europäischen Sanktionen als Instrument einer aktiven Diplomatie zu nutzen – und nicht als Ersatz für Diplomatie. Die Verhandlungserfolge der USA haben gezeigt, dass sich auf diese Weise konkrete humanitäre Ziele erreichen lassen. Gleichzeitig können so Voraussetzungen geschaffen werden, um die strukturelle Abhängigkeit von Russland schrittweise zu verringern, damit der Weg in Richtung Europa für ein Belarus nach Lukašenka offenbleibt.

Freilassungen seit 2024

Die Begnadigungen politischer Gefangener in Belarus begannen am 28. Juni 2024, als fünf ukrainische Staatsbürger im Rahmen eines Gefangenenaustauschs mit Russland freikamen. Am 2. Juli 2024 wurden 18 weitere Gefangene begnadigt, unter ihnen der krebskranke Rygor Kastuseŭ. Es folgten bis Januar 2025 monatlich weitere Freilassungen von durchschnittlich knapp 30 Personen.

Es handelt sich unzweifelhaft um einen systematischen Prozess, auch wenn die genaue Logik der Entscheidungen – wer wurde wann und warum freigelassen – bis heute unklar ist. Das Ergebnis ist jedoch sicher: 450 Gefangene wurden vorzeitig entlassen. Die meisten davon waren als politische Gefangene anerkannt. Mehr als jeder Fünfte gehörte zur Gruppe der besonders gefährdeten Gefangenen, für die sich Menschenrechtler seit Jahren auf höchster politischer Ebene eingesetzt hatten.

Die USA haben bereits im Jahr 2024 unter Präsident Joe Biden, die Chancen für weitere Freilassungen über den Verhandlungsweg ausgelotet. Am 26. Januar 2025, kurz nach der Amtseinführung von Donald Trump, konnte die Freilassung der US-Amerikanerin Anastasia Nuhfer verkündet werden; bis Ende April wurden vier weitere Gefangene mit US-amerikanischer Staatsbürgerschaft freigelassen. Eine zentrale Rolle spielte John Coale, der heute als Sondergesandter der US-Regierung für Belarus fungiert. Er intensivierte ab dem Frühjahr 2025 die Gespräche mit Minsk. Am 21. Juni konnte er vierzehn politische Gefangene an der belarusisch-litauischen Grenze in Empfang nehmen. Unter ihnen war Sjarhei Cichanoŭski, Ehemann von Svjatlana Cichanoŭskaja und erbitterter Gegner von Machthaber Lukašenka, dessen vorzeitige Freilassung niemand für möglich gehalten hatte.

Am 11. September 2025 wurde nach Verhandlungen zwischen Minsk und Washington die bisher größte Gruppe von Gefangenen freigelassen: 52 Inhaftierte, darunter 40 politische Gefangene und etliche EU-Bürger. Unter den Freigelassenen war auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat und langjährige Oppositionspolitiker Mikalaj Statkevič, der sich jedoch seiner Abschiebung nach Litauen widersetzte und wahrscheinlich wieder in ein Straflager gebracht wurde. Washington hat im Gegenzug erstmals Sanktionen aufgehoben und die Fluggesellschaft Belavia von der Sperrliste genommen. Zugleich wurde die Wiedereröffnung der Botschaft der USA in Minsk in Aussicht gestellt.

Unabhängig von den Gesprächen zwischen Washington und Minsk wurden im Jahr 2026 an nationalen Feiertagen weitere größere Gruppen politischer Gefangener begnadigt. Am 20. November 2025 wurde bekannt, dass die beiden bekannten katholischen Geistlichen Henryk Okołotowicz und Andrzej Juchniewicz begnadigt wurden. Kurz zuvor hatte Kardinal Claudio Gugerotti, Präfekt des Dikasteriums für die Orientalischen Kirchen im Vatikan und Sonderbeauftragter von Papst Leo XIV., Belarus besucht und sich mit Aljaksandr Lukašenka getroffen.

Auch die Ukraine konnte am 22. November 2025 – unter Vermittlung der USA – die Begnadigung von 31 weiteren ukrainischen Staatsbürgern erwirken, unter ihnen mindestens vier politische Gefangene. Eine wichtige Rolle spielten hierbei das ukrainische Menschenrechtszentrum Zmina (Wandel) und das belarusische Menschenrechtszentrum Vjasna, die sich unter anderem für die nun endlich freigelassene 18-jährige Marija Misjuk eingesetzt hatten.

Am 26. November 2025 meldete Reuters unter Berufung auf Quellen in der US-Regierung, Minsk und Washington würden über die Freilassung von mindestens 100 weiteren politischen Gefangenen verhandeln.

Reaktionen auf den Erfolg der US-Diplomatie

Auf belarusischer Seite überwiegt eindeutig die Erleichterung über die zahlreichen Freilassungen. Svjatlana Cichanoŭskaja dankte Donald Trump am Rande der 80. Sitzung der UN-Generalversammlung im September persönlich – während ihr Berater Dzjanis Kučynski zufällig auf den belarusischen Außenminister Maksim Ryžankoŭ traf und ihm ebenfalls für die Freilassungen dankte. Sjarhei Cichanoŭski machte in einem Meinungsbeitrag in der Washington Post Ende November 2025 und bei einem Vortrag an der Yale-University deutlich, dass er die USA inzwischen als wichtigsten Hoffnungsträger für die Zukunft von Belarus sieht.

Gleichzeitig ist klar, dass der amerikanisch-belarusische Verhandlungsprozess transaktional geprägt ist. Das Interesse der USA besteht nach Worten von John Coale in einer Normalisierung der bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern. In Teilen der belarusischen Diaspora wird allerdings kritisiert, dass die Freigelassenen gezwungen werden, das Land zu verlassen, viele von ihnen ohne Ausweisdokumente. Anastasija Kascjuhova, deren Mutter zu 10 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde und die als frühere Kommunikationsberaterin von Svjatlana Cichanoŭskaja zu einer wichtigen Stimme im öffentlichen Diskurs zählt, vertritt etwa die Auffassung: „Heute sind solche Freilassungen möglich oder gar keine.“ Der amerikanische Ansatz hat deutliche Schwächen, gerade deswegen sollten die europäischen Staaten versuchen, mehr zu erreichen: Freilassungen zu verhandeln, bei denen die Betroffenen selbst entscheiden können, ob sie das Land verlassen oder bleiben; Garantien zu erwirken, dass den Freigelassenen keine neuen Schikanen oder eine erneute willkürliche Verhaftung drohen.

Zur Lage der politischen Gefangenen in Belarus

Menschenrechtsorganisationen zählen gegenwärtig rund 1200 politische Gefangene in Belarus. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist dies ein Vielfaches mehr als in Russland.[3] Die tatsächliche Zahl der Inhaftierten liegt wahrscheinlich deutlich höher. Genau ist sie nicht auszumachen, da die Behörden den Zugang zu Informationen massiv erschwert haben.

Die Haftbedingungen in Belarus sind bewusst darauf ausgelegt, Menschen zu erniedrigen und zu brechen. Die Vorstellungen von Strafvollzug stammen aus sowjetischer Zeit, dazu gehört etwa schwere Zwangsarbeit. In der sogenannten Industriezone (promzona) arbeiten die Gefangenen in langen Schichten an sechs Tagen in der Woche ohne grundlegenden Arbeitsschutz oder ausreichende Pausen, in lauten, staubigen Hallen bei zum Teil kaum erträglichen Temperaturen. Spezielle Arbeitskleidung wird nicht ausgegeben, wer die ausgegebene Gefängniskleidung beschmutzt, riskiert Strafen.

Im Straflager Nr. 4 in Homel‘, wo fast alle in Belarus inhaftierten Frauen einsitzen, arbeiten die Insassinnen täglich in zwei Schichten: nach der Fabrikarbeit entladen sie Lebensmittel in schweren Säcken von Lastern, kochen und reinigen die Wohnbaracken und den Hof. Freie Zeit und eine Privatsphäre haben die Frauen praktisch nicht.

Politische Gefangene werden in der Regel einer Kategorie von Gefangenen zugewiesen, die angeblich „zu extremistischen oder destruktiven Handlungen“ neigen, und müssen zur Kennzeichnung gelbe Aufnäher an ihrer Kleidung tragen. Damit gehen automatisch Beschränkungen einher: Diese Gefangenen dürfen noch seltener von Angehörigen oder ihrem Anwalt besucht werden oder mit diesen telefonieren, der Empfang von Päckchen ist für sie eingeschränkt, ebenso die Zusatzversorgung im Lagerladen. Post dürfen sie nur von nahen Verwandten erhalten. Bei leichten Verstößen gegen die Lagerordnung – etwa nicht ordnungsgemäßes Grüßen des Lagerpersonals oder ein nicht zugeknöpfter Knopf an der Lagerkleidung – werden Inhaftierte mit gelben Aufnähern besonders hart bestraft, in der Regel mit mehreren Tagen im Strafisolator (SchISO). Häufig provoziert das Wachpersonal solche „Verstöße“ oder konstruiert sie. Anderen Gefangenen wird signalisiert, dass sie sich von den „Gelben“ fernzuhalten haben.

Eine noch grausamere Schikane ist der Versuch, (männliche) Gefangene an den untersten Rand der informellen Gefängnishierarchie zu drängen. Die Lagerverwaltung streut gezielt Gerüchte über angebliche Pädophilie oder Homosexualität oder zwingt die Betroffenen zu Arbeiten, die ausschließlich Gefangene mit diesem sogenannten „niedrigen Status“ verrichten müssen, etwa die Reinigung der Gemeinschaftstoilette. Wer diesen Status erhält, wird von anderen Gefangenen aus Angst vor „Kontamination“ gemieden und dauerhaft gedemütigt.

Mehrere, meist bekannte politische Gefangene unterliegen zudem einer totalen Kontaktsperre (incommunicado-Haft), die in manchen Fällen seit Jahren aufrechterhalten wird. Zu diesen Gefangenen haben weder Angehörige noch Anwälte Kontakt, im schlimmsten Fall noch nicht einmal andere Gefangene. Der inhaftierte Rechtsanwalt Maksim Znak befindet sich seit fast drei Jahren in incommunicado-Haft.

Die Betroffenen kommen abwechselnd in Einzelhaft (pomeščenie kamernogo tipa, PKT) oder in einen „Strafisolator“. Dieser wird als winzige unbeheizte Zelle beschrieben, in der die Temperaturen im Winter oft nur knapp über dem Gefrierpunkt liegen. Die Häftlinge erhalten eine spezielle, sehr dünne Häftlingskleidung und müssen ihre Unterwäsche abgeben. Die Schlafpritsche wird tagsüber hochgeklappt, Decken oder eine Matratze gibt es nicht. Das Essen wird durch eine kleine Luke gereicht. Die Toilette ist ein stinkendes Loch im Boden.

Mangelernährung, schlechte Haftbedingungen und das Fehlen einer angemessenen medizinischen Versorgung führen häufig zu irreversiblen gesundheitlichen Schäden. Fast alle Entlassenen haben massive Zahnprobleme. Einige Gefangene sind in Haft erblindet oder haben schwere chronische Krankheiten entwickelt. Eine Umfrage unter ehemaligen weiblichen politischen Gefangenen ergab, dass 75 Prozent unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Je länger die Haft dauert, desto höher ist das Risiko lebenslanger Folgeschäden für die Betroffenen.

Wege zu einer kontrollierten Deeskalation

Die verheerende Situation in den belarusischen Straflagern verdeutlicht, wie dringend jede Initiative zur Freilassung der Gefangenen ist. Die bisherigen Erfahrungen lassen ein klares Muster erkennen: Unter erhöhtem Druck reagiert das Regime aggressiv, während es in Phasen der Annäherung zu gewissen humanitären Schritten bereit ist. Die EU muss daher Wege finden, die seit über fünf Jahre anhaltende Abwärtsspirale in den Beziehungen zu Belarus zu durchbrechen, wenn sie in dieser Frage handlungsfähig bleiben will. Dazu bedarf es keiner Abkehr von den bislang vertretenen Prinzipien. Wohl aber braucht es eine präzisere Strategie: statt weiterer Konfrontation ein kontrollierter Prozess begrenzter Deeskalation, der auf klaren Bedingungen, Überprüfbarkeit und Umkehrbarkeit beruht.

Einen solchen Ansatz skizziert eine von vier Autoren im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung entwickelte „Roadmap“. Sie ist das erste öffentlich zugängliche Konzept, das konkret beschreibt, wie ein schrittweiser Prozess strukturiert und gesteuert werden könnte „unter Berücksichtigung der Risiken einer Zusammenarbeit mit einem autoritären Regime, dessen Handlungsfähigkeit durch die Abhängigkeit von Russland eingeschränkt ist“. Die Roadmap verzichtet bewusst auf unrealistische Maximalforderungen wie freie und faire Wahlen und konzentriert sich auf erreichbare, verifizierbare humanitäre Ziele.

Gleichzeitig zeigt sie, wie sich humanitäre Fragen mit grundlegenden sicherheitspolitischen Interessen der EU verbinden lassen, insbesondere mit dem Ziel, den russischen Einfluss zu begrenzen und die Eigenstaatlichkeit von Belarus zu schützen.

Im Kern unterscheidet das Papier zwei Bereiche, in denen die EU von Belarus konkrete Zugeständnisse verlangen könnte:

  1. Eindämmung der schweren humanitären Krise (Freilassung politischer Gefangener, Verbesserung der Haftbedingungen);
  2. Schritte zur Verbesserung der Mobilität und Beendigung der Migrationskrise (Beendigung der Grenzprovokationen, Wiederherstellung des Vertrauens in die Zivilluftfahrt).

Zentrales Ziel ist es, das Wohlergehen der Menschen in Haft unmittelbar zu verbessern („people first“). Repressive Praktiken sollen sofort eingestellt werden, gegebenenfalls über Moratorien. Die Anpassung der gesetzlichen Grundlagen, die diese Praktiken ausdrücklich erlauben und damit den Rahmen für die latente Dauerbedrohung der Bevölkerung schaffen, sollte im zweiten Schritt erfolgen.

Grundlage für die Überprüfung von Fortschritten in beiden Bereichen sind Indikatoren, die von belarusischen Menschenrechtsorganisationen entwickelt wurden. Zudem muss Minsk gewährleisten, dass Menschenrechtler die Umsetzung der vereinbarten Schritte vor Ort überprüfen können.

Die Europäische Union kann mit diplomatischen, politischen und ökonomischen Instrumenten die Erfüllung dieses Anliegens stimulieren bzw. mit diesen auf die Erfüllung oder Nichterfüllung reagieren. Die US-amerikanischen Gespräche mit Minsk, aber auch die Erfolge des Vatikan, haben gezeigt, dass selbst klassische Diplomatie – etwa offizielle Besuche oder vertrauliche Gespräche – konkrete humanitäre Ergebnisse erzielen kann. Eine Kontaktaufnahme impliziert keine politische Anerkennung von Lukašenka. Sie führt auch nicht automatisch zu einer Rücknahme von Sanktionen. Und: Die Kontaktaufnahme hat keinen negativen Einfluss auf die Unterstützung demokratischer Kräfte. Sie bringt jedoch Klarheit über die Gesprächsbereitschaft von Minsk und die Chancen für den weiteren Prozess.

Kern des europäischen Instrumentariums bleiben jedoch die Sanktionen. Die Autoren der „Roadmap“ unterteilen ein mögliches Vorgehen in fünf Stufen („tiers“). Ziel ist es, eine schrittweise Vertrauensbildung zu ermöglichen und zugleich im Falle eines Missbrauchs durch Minsk den Prozess zu stoppen oder rückgängig zu machen.

Für eine begrenzte Deeskalation eignen sich Maßnahmen mit geringem militärischem Risiko (Stufen 1 bis 3). Erfüllt Minsk die menschenrechtlichen Forderungen, können Sanktionen gelockert werden, die unmittelbare Auswirkungen auf die Bevölkerung haben. Deren Aufhebung selbst hätte positive humanitäre oder zivilgesellschaftliche Auswirkungen. Dazu gehören etwa Visaerleichterungen, sektorale Dialoge, die Wiederaufnahme des Flugverkehrs oder punktuelle Lockerungen wirtschaftlicher Beschränkungen. Die Stufen vier und fünf betreffen umfassende wirtschaftliche und militärisch relevante Sanktionen und kommen erst dann in Frage, wenn es in Minsk zu tiefgreifenden politischen Veränderungen gekommen ist, einschließlich einer Distanzierung von Russland. Die Zugeständnisse der EU sollten zudem nach ihrem wirtschaftlichen Effekt für das Regime gewichtet werden. Je mehr dieses von einer Maßnahme profitiert, desto später soll diese zur Anwendung kommen. Auf diese Weise bleibt stets ein Anreiz, sich auf weitere Schritte einzulassen.

Die EU sollte Entscheidungen stets revidieren, wenn sie festgestellt, dass Vereinbarungen nicht eingehalten wurden: Statt eine bestimmte Sanktionsmaßnahme gänzlich aufzuheben, könnte diese eingefroren und bei Bedarf wieder aktiviert werden.[4]

Prozess und beteiligte Akteure

Der in der Roadmap skizzierte vorgeschlagene Prozess wird von der EU initiiert. Am Anfang könnte etwa der Vorschlag stehen, dass Minsk einen Vertreter der EU, Deutschlands, Österreichs, des Vatikan oder eines anderen europäischen Landes auf ausreichend hoher Ebene empfängt, um sich mit Lukašenka zu treffen und die „Roadmap“ zu übergeben. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte könnte ebenfalls einbezogen werden. Das Treffen kann je nach Vereinbarung der Parteien öffentlich oder nicht öffentlich stattfinden. In einem frühen Stadium könnten auch „humanitäre Diplomaten“ vermitteln, die über persönliche Zugänge und diplomatische Glaubwürdigkeit verfügen, mit deren Auftreten jedoch keine formelle Anerkennung einhergeht.

In dieser ersten Phase soll Minsk jene etwa 200 politischen Gefangenen freilassen, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen als besonders gefährdet und schutzbedürftig gelten. Auch müssen besonders gravierende Maßnahmen wie incommunicado-Haft, unzureichende medizinische Versorgung in den Haftanstalten oder die Deportation freigelassener Gefangener ins Ausland eingestellt werden.

Bei den ersten hochrangigen Besuchen und der weiteren Kommunikation auf Arbeitsebene sollten die nächsten Schritte besprochen werden, die die europäischen Außenministerien, die OSZE, die UNO, die EU (EEAS) und internationale Finanzinstitutionen einschließen könnten. Wichtig wäre es, frühzeitig mögliche zukünftige Erleichterungen zu signalisieren, um die Verhandlungsbereitschaft in Minsk zu erhöhen.

Die Rolle belarusischer Menschenrechtsorganisationen bestünde in der Unterstützung beim Monitoring der Fortschritte im Land. Die demokratischen Kräfte könnten in beratender Funktion eingebunden werden.

Ansätze der „Koalition für die Freilassung politischer Gefangener"

Die in der Roadmap dargelegten Schritte spiegeln weitestgehend das Konzept der Koalition für die Freilassung politischer Gefangener, der wichtigsten und sichtbarsten Gruppe innerhalb der demokratischen Opposition im Exil, die sich für humanitäre Verhandlungen einsetzt. Erklärtes Ziel der Koalition ist es, die tiefe Menschenrechtskrise in Belarus zu entschärfen und zugleich die Frage der belarusischen Souveränität wieder in den Fokus zu rücken. Zur Kerngruppe gehören der Diplomat Valeryj Kavaleŭski, die Schwester von Maria Kalesnikava, Tatsiana Khomich, und die Frauenrechtlerin Volha Harbunova.[5]

Der von der Koalition vorgeschlagene Ansatz umfasst drei Pfeiler:

  1. Strategische Kommunikation. Um positive Schritte seitens Minsk zu bestärken, sollten diese in der öffentlichen Kommunikation auf europäischer Seite gelobt werden, ohne dies im gleichen Atemzug mit Kritik an den Missständen zu entwerten. Diese Missstände müssen in geeigneter Form angesprochen werden, etwa im Rahmen des in der Roadmap vorgeschlagenen Prozesses.
  2. Aktive Diplomatie. Der Rückzug der EU aus Belarus hat ein Vakuum hinterlassen, das in erster Linie Russland nutzt. Dem müssen die EU-Staaten durch aktive Diplomatie auf vielen Ebenen entgegenwirken. Die Heraufstufung der Geschäftsführerin der deutschen Botschaft in Minsk zum Chargé en titre ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der nächste Schritt sollte die Entsendung eines Botschafters oder einer Botschafterin sein.[6]
  3. Sanktionen als Instrument. Die von der EU eingeführten Sanktionen sind für Minsk deutlich schmerzhafter als die US-amerikanischen Sanktionen und daher ein mächtiges Mittel der europäischen Diplomatie, sofern sie strategisch eingesetzt werden.

Ähnlich wie in der Roadmap beschrieben, plädiert die Koalition für ein schrittweises Vorgehen, das auf messbaren Ergebnissen beruht und einen flexiblen Sicherungsmechanismus enthält, für den Fall, dass vereinbarte Ergebnisse ausbleiben.

Warum eine Neuausrichtung der Belarus-Politik so schwer ist

Eine Anpassung der bisherigen Belarus-Politik scheitert in Europa bislang weniger an fehlenden Optionen. Es mangelt vor allem am politischen Willen – und das hat vielfältige Gründe. Diese muss man sich bewusst machen, um zu einer Politik zu kommen, die Menschenrechtsverletzungen in Belarus und das weitere Abgleiten des Landes in Richtung Russland nicht nur beklagt, sondern aktiv nach Auswegen aus dieser schweren Krise sucht.

Frustration

In Deutschland und anderen europäischen Staaten herrscht eine tiefe Frustration über Lukašenkas seit drei Jahrzehnten anhaltenden Schaukelkurs zwischen Ost und West. Viele Beteiligte halten den Ansatz der begrenzten Annäherung für gescheitert, weil auf die Öffnungsphase ab 2014 die gewaltsamen Repressionen nach den Protesten von 2020 und die anschließende Verfestigung der Diktatur folgte. Dieser Sichtweise muss entgegengehalten werden, dass in den Jahren 2014-2020 jene Freiräume in Zivilgesellschaft, Kunst, Kultur und Wirtschaft entstanden, die später zu Keimzellen der Friedlichen Revolution von 2020 wurden.

Eine bloße Rückkehr zur Politik der Tauwetterjahre ist jedoch ausgeschlossen. Die Rahmenbedingungen haben sich durch Russlands Krieg gegen die Ukraine und die beispiellosen Repressionen in Belarus grundlegend verändert. Entsprechend haben sich auch die Ziele verschoben: Nicht mehr eine Demokratisierung steht an erster Stelle. Das Regime soll zur Rücknahme von Repressionen bewegt werden, zudem geht es darum, eine weitere Ausweitung des Krieges zu verhindern. Die Zeit zwischen 2015 und 2020 demonstriert jedoch, dass sich positive Entwicklungen in Belarus nicht mit den begrenzten Druckmitteln der EU erzwingen, wohl aber durch eine sorgfältig kalkulierte Deeskalation fördern lassen.

Politik “auf Autopilot”

Die zahlreichen globalen Krisen haben Belarus aus dem Fokus europäischer Politik gedrängt, womöglich auch, weil die Relevanz des Landes für die künftige regionale Sicherheitsarchitektur immer noch unterschätzt wird. Das Land taucht meist nur im Kontext von Sanktionen, Solidaritätsaktionen oder Kontakten mit Personen aus dem Exil auf. Eine eigentliche europäische Belarus-Politik gibt es kaum noch. Statt Zielklarheit und strategischem Denken dominiert Routine: Der prinzipienbasierte Ansatz läuft im Autopilot-Modus, ohne kritische Debatten über Alternativen oder realistische Handlungsoptionen.

Belarus im Schatten von Lukašenka

Der Widerwille, sich mit Lukašenka an einen Tisch zu setzen, ist angesichts der Schwere der von ihm zu verantwortenden Menschenrechtsverstöße verständlich. Durch die extreme Fokussierung auf die Person Aljaksandr Lukašenka gerät jedoch Belarus als Land fast völlig aus dem Blick. Gleichzeitig ist klar, dass es eines Tages einen Wechsel an der Spitze geben wird. Um über die Zukunft des Landes nachzudenken, gilt es also, sich gedanklich von der Figur Lukašenkas zu lösen und Belarus wieder als eigenständiges politisches Subjekt zu begreifen. Nur so kann sich die europäische Politik aus ihrer selbst geschaffenen Logik des Reagierens befreien und zu Ansätzen einer gestaltenden Belarus-Politik finden.

Argumentationsfalle „Freilassungen versus Verhaftungen"

Ein häufiges Argument gegen humanitäre Verhandlungen lautet, dass es mehr Verhaftungen gäbe als Freilassungen. Abgesehen davon, dass es fragwürdig ist, die Schicksale von Menschen in Zahlen gegeneinander aufzuwiegen, beruht das Argument auf einer Scheinlogik: Bis zum Sommer 2024 gab es nur Verhaftungen und keine Begnadigungen oder vorzeitigen Freilassungen. Jetzt gibt es neben den Verhaftungen endlich auch Freilassungen. Würden die Freilassungen enden, gingen die Verhaftungen dennoch weiter.

Beide Prozesse laufen parallel, und es sollte alles getan werden, damit es zu weiteren Freilassungen kommt. Grundsätzlich gilt, dass die verschiedenen Dimensionen der großen Krise in Belarus einzeln betrachtet werden sollten. Die Suche nach Wegen zur Freilassung der Gefangenen und das Bestreben, das Regime zur Beendigung der politisch motivierten Verhaftungen und der Repressionen zu bringen, sind eng verwandt, aber doch unterschiedliche Anliegen. Die Roadmap bietet konkrete Ansatzpunkte für eine separate Behandlung, da sie diese Themen in verschiedenen Etappen des Verhandlungsprozesses ansiedelt.

Die Russland-Brille

Minsk wird zu Recht als engster Verbündeter von Moskau bezeichnet und für seine Beteiligung am russischen Angriffskrieg mit Sanktionen belegt. Dennoch sollten auch die Unterschiede zwischen dem Regime in Minsk und Moskau genau beobachtet werden. Sie sind in den vergangenen Monaten wieder deutlicher zu Tage getreten. Dies ermöglicht einen Spielraum, um eine Ausweitung des Krieges zu verhindern. So wurde das von den beiden Staaten gemeinsam abgehaltene Militärmanöver Zapad-2025 auf Betreiben von Minsk deutlich kleiner gehalten als 2021. Auch fand es nicht an den Außengrenzen zur EU statt, sondern im Landesinneren, „um die Anspannung in der Region zu vermindern“, wie Verteidigungsminister Chrenin Ende Mai 2025 erklärte.

Minsk versucht also, seine massive Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Es ist jedoch wichtig zu berücksichtigen, dass es Grenzen der Abkopplung von Russland gibt: Belarus kann sich unabhängig von seiner inneren Verfasstheit derzeit nicht offen gegen Russland stellen, ohne damit das Fortbestehen des Staates zu riskieren. Selbst in weiter westlich gelegenen NATO-Staaten fürchten erhebliche Teile der Bevölkerung eine offene Konfrontation mit Russland. In Belarus hat dies mit einer historisch tief verwurzelten Angst vor Krieg zu tun.

Gerade in Deutschland wird jedoch die Abkehr von der bis 2022 verfolgten Russland-Politik auf Belarus übertragen. Um zu zeigen, dass man aus Fehlern gelernt hat, werden auch Verhandlungen mit Belarus ausgeschlossen – um den Preis, dass wichtige humanitäre Ziele nur noch in der Rhetorik aufrecht erhalten, aber nicht mehr ernsthaft verfolgt werden. Faktisch wird so Belarus mit Russland gleichgesetzt – und unfreiwillig die Moskauer Behauptung bestätigt, Belarus sei Teil einer „natürlichen“ russischen Einflusssphäre.

Umgang mit Menschenrechtsverbrechen

Ein Grund für die Zurückhaltung der EU bei einem neuen Belarus-Kurs ist der schwierige Umgang mit den Menschenrechtsverbrechen des Regimes. Ihre Dokumentation ist von größter Bedeutung, doch die Vorstellung, die Hauptverantwortlichen schon heute juristisch belangen zu können, ist unrealistisch. Eine echte Aufarbeitung wird Aufgabe einer künftigen belarusischen Gesellschaft sein, die nach Lukašenka Wege finden muss, das erlittene Unrecht anzuerkennen und die tiefen gesellschaftlichen Wunden zu heilen.

Die EU muss sich mit dem schwer erträglichen, aber notwendigen Gedanken auseinandersetzen, dass jene, die Verantwortung für die Repressionen tragen, die einzigen sind, mit denen über die Beendigung dieser Unterdrückung verhandelt werden kann. Eine Wiederaufnahme der Kontakte widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden, ist aber der notwendige erste Schritt, um die menschenrechtsverachtenden Praktiken zu beenden, politische Veränderungen zu ermöglichen und Europa wieder einen Zugang zu Belarus zu eröffnen.

Fokussierung auf eine Strömung der belarusischen Opposition

Die deutsche und europäische Politik orientiert sich fast ausschließlich am Vereinten Übergangskabinett von Svjatlana Cichanoŭskaja. Doch Cichanoŭskaja verliert auch unter den Belarusen im Exil an Rückhalt. Allein im Sommer 2024 verließen mit Valeryj Kavaleŭski (Außenpolitik), Volha Harbunova (Sozialpolitik) und Valeryj Sachaščyk (Verteidigung) drei ihrer profiliertesten Experten das Übergangskabinett. Nicht wenige politisch Aktive, unter ihnen Tatsiana Khomich, Schwester der inhaftierten Maria Kalesnikava, kritisieren, das Vereinte Übergangskabinett betreibe eine intransparente Politik und werde nicht mehr von der Zivilgesellschaft im Exil getragen. Die Verbindung zu den Menschen in Belarus ist – Schicksal aller Exilregierungen – ohnehin mit der Zeit immer brüchiger geworden.[7]

Für besonders großen Unmut sorgte im August 2024 die Ernennung Svjatlana Cichanoŭskajas zur zeitlich faktisch unbegrenzten „Nationalen Führerin“.[8]

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass sich westliche Partner mit Vertretern verschiedener Exilorganisationen austauschen. Die USA haben bereits 2023 einen „Strategischen Dialog“ ins Leben gerufen – ein regelmäßiges, moderiertes Treffen, bei dem Vertreter aus Belarus mit unterschiedlichen politischen Standpunkten an einen Tisch gebracht werden.

Fazit

Es ist höchste Zeit, eine ernsthafte und fundierte Debatte über Chancen, Grenzen und Kosten der bisherigen EU-Strategie gegenüber Belarus sowie über mögliche Alternativen zu führen. Voraussetzung ist eine klare gedankliche Trennung zwischen Belarus und Russland. Das Regime in Minsk hat das Land in eine fast vollständige Abhängigkeit von Moskau geführt, die von der Isolationspolitik der letzten Jahre noch verstärkt wurde. Diese Entwicklung umzukehren, ist das langfristige politische Ziel. Wer es aus den Augen verliert, hat Belarus als souveränen Staat bereits aufgegeben. Das bloße Warten auf den Tag, an dem das Regime in Belarus stürzt und die Demokratie einzieht, ist fahrlässig.

Erstes Ziel ist die Freilassung der 1200 politischen Gefangenen. Dies ist mit der gegenwärtigen Sanktionspolitik nicht erreicht worden. Die USA haben jedoch mit ihrer diplomatischen Initiative gezeigt, dass Bewegung möglich ist. Sie haben eine Tür geöffnet, durch die Deutschland und die anderen EU-Staaten nun gehen können. Konkrete Pläne für ein abgestuftes Vorgehen, die die Risiken einer solchen Politik sorgfältig abwägen, unrealistische Ziele vermeiden und eine Reaktion auf das Ausbleiben vereinbarter Schritte ermöglichen, liegen bereits vor. Die Erfahrung der internationalen Krisenvermittlung zeigt, dass ein solcher strukturierter Prozess einen Wert an sich darstellt: Er bringt Vorhersagbarkeit in von Willkür und Unberechenbarkeit geprägte Beziehungen. Dies kann sich im besten Fall langfristig auch auf die innere Ordnung auswirken.

Für den Weg des Dialogs warb der Friedensnobelpreisträger Ales‘ Bjaljacki am 13. Februar 2023 in seinen letzten Worten vor Gericht:

„Man muss sich klar darüber sein, dass schwierige Verhandlungen und ein schrittweiser Ausweg aus der Krise besser sind als eine gnadenlose Konfrontation, die sehr schwerwiegende Folgen haben kann: Armut und Elend, Gewalt und Ungerechtigkeit, die Belarus zerstören werden. […] Wenn wir das Land nicht in die Armut stürzen wollen, wenn wir nicht zulassen wollen, dass die Belarusen massenhaft ins Ausland auswandern, um ein besseres Leben zu suchen, […] müssen wir einen gesellschaftlichen Dialog beginnen. Es reicht, dieser Bürgerkrieg muss beendet werden!“

Die Krise in Belarus ist ein europäisches Problem. Die europäischen Staaten müssen den Weg zu einer Lösung beschreiten. Er beginnt mit Schritten, die zur Freilassung der politischen Gefangenen führen.

Ina Rumiantseva (1976), Dipl.-Volkswirtin, Gründerin von "Taskforce Belarus e.V.", Mitinitiatorin der Kampagne "releaseNOW", Berlin


[1] Anfang 2025 hat das niederländische Clingendael-Institut eine Studie mit sechs Szenarien für die mittelfristige Entwicklung von Belarus veröffentlicht: https://www.clingendael.org/sites/default/files/2025-09/The_Crisis_of_Belarusian_Sovereignty.pdf , S. 4.

[2] Die ersten restriktiven Maßnahmen der EU vom 2. Oktober 2020 bestanden aus Einreiseverboten und Vermögenssperren gegen 44 Funktionsträger, die an der Niederschlagung der Proteste beteiligt waren. Nach der Zwangslandung des Ryanair-Flugzeugs im Mai 2021 und dem Beginn der Migrationskrise im Herbst 2021 folgten erste sektorale Sanktionen. Die weitreichendsten Maßnahmen wurden ab 2022 verhängt und standen im Zusammenhang mit der Beteiligung von Belarus an Russlands Krieg gegen die Ukraine.

[3] Gefangenen-Inzidenz (politische Gefangene, die sich derzeit in Haft befinden, auf 1 Mio. EW): Belarus – 136 (1.217 politische Gefangene auf 9 Mio. EW am 9.12.2025). Quelle: https://prisoners.spring96.org/en; Russland – 5 (751 anerkannte politische Gefangene auf 143 Mio. EW am 9.12.2025). Quelle: https://memopzk.org/en/list-persecuted/list-of-political-prisoners-excluding-those-persecuted-for-religion

[4] Ein erprobtes Vorbild für einen solchen Mechanismus bietet ein EU-Ratsbeschluss von 2013, mit dem Sanktionen gegen den damaligen Außenminister Uladzimir Makei zeitweise ausgesetzt wurden.

[5] Kavaleŭski und Harbunova gehörten bis Sommer 2024 dem UTC an, verließen es jedoch aufgrund strategischer Differenzen.

[6] Die gilt umso mehr, als in anderen autokratischen Ländern der Region deutsche Botschafter aktiv sind – siehe Aserbaidschan oder selbst Russland.

[7] Artjem Shrajbman spricht in diesem Zusammenhang von einer „efemernaja svjaz'“, also einer sich verflüchtigenden Verbindung. https://www.dekoder.org/ru/article/neprogovorennaya-problema-belaruskoy-oppozicii/

[8] Per Protokollbeschluss des Koordinierungsrates: https://tsikhanouskaya.org/pratakol.pdf