Russland intensiviert die Angriffe

Nico Lange, 3.2.2023

Russland intensiviert die Angriffe, um die Initiative zurückzugewinnen und die Ukraine zum Einsatz von Reserven zu zwingen. Die Ukraine braucht Zeit, um weiter Reserven auszubilden und neue Waffensysteme zu integrieren. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Die Ukraine erzielt mit den Angriffen im Gebiet Luhans’k in Richtung Svatove kaum noch Fortschritte. Russland ersetzt gleichzeitig weiter südlich bei Kreminna Einheiten geringeren Kampfwerts schrittweise durch ausgeruhte und stärkere Verbände. Russland verstärkt nicht nur die Front, sondern versucht mit Angriffen bei Kreminna die Initiative in Richtung Lyman zurückzugewinnen. Ein erfolgreicher russischer Vorstoß in Richtung Lyman würde die Lage an der Front für den nördlichen Donbass strategisch verändern.

Im Donbass greift Russland nördlich von Bachmut weiter über Blahodatne hinaus an, das an der Straße von Bachmut nach Sivers’k liegt. Südlich von Bachmut stößt Russland bis zur Straße zwischen Bachmut und Kostjantynivka vor. Zwei zentrale Nachschubwege nach Bachmut sind damit für die Ukraine unzugänglich.

Weiter südlich brachte Russland bei Vuhledar frische Kräfte der Marineinfanterie für einen größeren Angriff ein, die Truppen blieben jedoch nach anfänglichen Erfolgen stecken. Vuhledar bleibt unter ukrainischer Kontrolle. Damit bleiben die russischen Nachschubwege in Richtung der südlichen Front und der Landweg zur Krim weiter durch ukrainisches Artilleriefeuer bedroht.

Russland beschießt zunehmend auch wieder das Gebiet Charkiv von Russland aus mit Artillerie und Mörsern. Vermutlich geschieht dies im Rahmen der Ausbildung neuer Rekruten, die einfach in ukrainisches Gebiet schießen.

Russland terrorisiert Charkiv, Kramators’k, Zaporižžja und Cherson weiterhin mit sporadischem Feuer in zivile Wohnviertel durch Raketenartillerie und umfunktionierte S-300-Raketen. Die russländische Armee will die Initiative wiedergewinnen, um dann den Angriff in mehreren Achsen in Richtung Slovjans’k und Kramators’k weiter voranzutreiben. Russland will nun die Front an mehreren Abschnitten unter Druck setzen, damit die Ukraine gezwungen ist, Reserven einzusetzen. Dadurch würden potenzielle ukrainische Gegenangriffe erheblich geschwächt.

Die Ukraine braucht unterdessen Zeit. Erfolgversprechende Gegenangriffe sind möglich, wenn die neuen Schützenpanzer und Kampfpanzer gut integriert werden können. Dazu braucht es nicht nur die Ausbildung der Besatzungen, sondern anschließend auch gemeinsame Übungen im Gefecht der verbundenen Waffen. Eine sehr gute Ausbildung und intensive Übung für den gemeinsamen, verbundenen Einsatz von Kampfpanzern, Schützenpanzern, Artillerie, Drohnen, Minenräumgeräten usw. zum Durchbrechen der Front haben einen höheren Einfluss auf eine Erfolgswahrscheinlichkeit als die reinen technischen Leistungsdaten.

Es ist vor diesem Hintergrund eine große verpasste Chance für die Ukraine, dass die Lieferung der Schützenpanzer und Kampfpanzer so spät erfolgt. Russland hat dadurch Zeit bekommen, die Truppendichte zu erhöhen, Verteidigungsstellungen zu befestigen und neue Truppen auszubilden und heranzuführen.

Russlands Angriffe könnten im schlechtesten Fall dazu führen, dass die Ukraine zu wenige Reserven zurückbehält und zu wenig Zeit für die Übung mit verbundenen Waffen und eine bestmögliche Vorbereitung der Gegenangriffe hätte.

Die Ukraine braucht viel Munition, vor allem Artilleriemunition, Lenkflugkörper für die Luftverteidigung sowie Hilfe für Munitionslogistik und Transport.

Die Ukraine braucht Präzisionswaffen und Munition mit höheren Reichweiten. Sollte Raketenartillerie mit mehr als 150 km Reichweite (GLSDB) in das nächste Paket der Lieferungen aus den USA gelangen, wäre das eine gute Nachricht. Die USA sollten auch Ballistische Kurzstreckenraketen (ATACMS) für die Ukraine freigeben. Die Ukraine braucht weiterhin möglichst viele Drohnen aller Größen und Typen und Systeme zur Drohnenabwehr. Für die Luftverteidigung braucht die Ukraine Systeme, die auch die umfunktionierten russischen S-300-Raketen abwehren können, mit denen Russland in Frontnähe die Zivilbevölkerung in ukrainischen Städten terrorisiert. Die neuen Signale aus Israel, dass die Regierung für Gespräche über eine Unterstützung der Ukraine mit dem bodengestützten Raketenabwehrsystem Iron Dome ist, sind diesbezüglich eine gute Nachricht.

Die Partner der Ukraine dürfen sich nach den hinausgezögerten Entscheidungen für Schützenpanzer und Kampfpanzer nicht zurücklehnen, um das weitere Geschehen abzuwarten. Die Vorbereitung neuer Lieferungen und die Erhöhung der Produktionskapazitäten müssen sofort angegangen werden.

Unsere Hilfsformel für die Ukraine sollte jetzt lauten: viel mehr Munition liefern, Produktionskapazitäten für Munition und Material steigern, Waffen und Munition mit höheren Reichweiten liefern und eine ständige Pipeline der Ausbildung und Übung organisieren.

Nico Lange (1975), Politikwissenschaftler, Publizist und Politikberater