Ausgebrannter Zug nach russländischem Angriff auf den Eisenbahnknotenpunkt in Kozjatyn am 28. August. Foto: Forbes.ua
Ausgebrannter Zug nach russländischem Angriff auf den Eisenbahnknotenpunkt in Kozjatyn am 28. August. Foto: Forbes.ua

Russlands Sommeroffensive gescheitert

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 179. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 1.9.2025

Russland hat die Gespräche über ein Ende des Kriegs in der Ukraine aus einer Position der Stärke geführt. Doch die in Alaska erhobenen Maximalforderungen entsprechen nicht der Stärke der Moskauer Truppen. Die mit großem Truppeneinsatz und unter hohen Verlusten geführte Sommeroffensive ist gescheitert. Trotz großer Rekrutierungsschwierigkeiten, die zu inneren Spannungen führen, hat die ukrainische Armee dem Druck standgehalten und Ende August kleinere Gegenangriffe geführt.

Ukrainische Medien und Politiker, einschließlich des Präsidenten, sprechen seit Ende August von einem Scheitern der Sommeroffensive Russlands. In der Tat haben vier Monate erbitterter Angriffe, bei denen Russland nach Angaben der ukrainischen Armee mehr als 200 000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren habe, nicht zu einem entscheidenden Durchbruch der Okkupationsarmee geführt. Lediglich im „Dreiländereck“ der Gebiete Donec’k, Zaporižžja und Dnipropetrovs’k sowie im zentralen Frontabschnitt zwischen Pokrovs’k und Kostjantynivka konnten die Besatzer vorrücken. Doch Russlands Armee hat in drei Monaten keine einzige größere Stadt im Gebiet Donec’k erobern können. Es ist ihr lediglich gelungen, die ukrainischen Truppen aus Mittelstädten wie Torec’k und Časiv Jar zu verdrängen, wo diese zu Beginn des Sommers noch zwischen 25 und 50 Prozent des Stadtgebiets gehalten hatte. Die Agglomeration von Pokrovs’k ist heute zu 75 Prozent eingekreist, zu Beginn des Sommers war der Umschließungsring nur halb so groß.

Doch die Lage der Okkupationstruppen dort ist prekär. Zwischen Dobropillja und Druživka sind mehrere Hundert russländische Soldaten abgeschnitten, die Ukraine hat bereits Gefangene genommen. Die russländischen Militärblogger sprechen schon nicht mehr von der Spitze eines Durchbruchs, sondern von „Sabotagetrupps, die hinter der Front operieren“. Auch von einer 30 Kilometer tiefen „Pufferzone“, die Russland auf ukrainischem Territorium in den Gebieten Charkiv und Sumy schaffen wollte, ist keine Rede mehr.

Vielmehr ist seit dem 15. August zu beobachten, dass die Ukraine an einigen Stellen eine Gegenoffensive begonnen hat. Die russländische Armee ist seit einigen Monaten dazu übergegangen, mit sehr kleinen Sturmtrupps vorzustoßen, die nicht mehr versuchen, die Knotenpunkte der ukrainischen Verteidigung einzunehmen, sondern die Verbindung zwischen diesen zu kappen. Dies gelang, solange die Ukraine keine Reserven heranführen konnte, die den Keil des Vorstoßes von der Seite attackierten. Grundsätzlich sind diese Stoßtrupps sehr verwundbar, da sie kaum Munition und Lebensmittel mitführen können und nicht über Feuerdeckung durch schwere Artillerie verfügen, da diese eine leichte Beute ukrainischer Drohnen würde.

Diese Schwäche hat die Ukraine nun genutzt und in der Agglomeration von Pokrovs’k seit dem 15. August einige Gegenangriffe lanciert. Einer davon ist die Attacke bei Dobropillja, bei der eine große Zahl russländischer Soldaten eingekesselt wurde. Am südöstlichen Rand von Novoėkonomične sind die ukrainischen Truppen zunächst zehn Kilometer bis zur Ortschaft Malynivka vorgestoßen, wurden dann aber ihrerseits gestoppt und mussten sich einige Kilometer zurückziehen. Auch einige Zangen des russländischen Vorstoßes westlich von Kupjans’k konnte die ukrainische Armee “abschneiden“. Nun ist der Ukraine, worüber beide Seiten bislang kaum sprechen, Ende August im Zentrum der russländischen Offensive bei Svjatohirs’k nördlich von Lyman ein Durchbruch gelungen. Bereits zu Beginn der letzten Augustwoche fiel die Siedlung Novomichajlivka wieder an die ukrainische Armee, nun versucht diese bereits, sich im Zentrum von Ridkodub festzusetzen. Die Gefahr einer Einnahme von Lyman, der nördlichsten Kreisstadt des Gebiets Donec’k, wo bis zum Februar 2022 rund 20 000 Menschen lebten, ist damit gebannt. Wenn es den ukrainischen Truppen, die dort vorrangig von der Nationalgarde gestellt werden, gelingt, den Gegner vom Ufer des Flusses Žerebec‘ zu verdrängen, wäre dies die größte Niederlage der russländischen Armee seit zwei Jahren.

Der Luftkrieg

Beide Seiten setzen die Attacken mit Drohnen und Raketen im Hinterland des Gegners fort. Russland versucht mit ein bis zwei Großangriffen pro Woche, bei denen mehrere Geschosse in dasselbe Ziel gelenkt werden, für eine vollständige Zerstörung des Objekts zu sorgen. Fehler bei der Zielprogrammierung führen zu zahlreichen zivilen Opfern. So starben am 28. August beim Einschlag zweier Raketen in ein fünfstöckiges Wohnhaus in Kiew 23 Menschen, darunter vier Kinder und Jugendliche. An benachbarten Büroräumen der Vertretung der EU, des British Council und anderer internationaler ausländischer Einrichtungen entstanden Schäden.

Neben Angriffen auf Unternehmen des Rüstungssektors und Militärflughäfen versucht Russland wie die Ukraine auch, den Eisenbahnverkehr mit Luftschlägen zu unterbrechen. Am 28. August wurde der Eisenbahnknotenpunkt in Kozjatyn im Gebiet Vinnycja angegriffen, der das Zentrum des Landes mit dem Süden und dem Westen verbindet. Dabei wurden u.a. Intercity-Züge beschädigt – ein Symbol für die Modernisierung bei der Ukrainischen Bahn. Immer wieder werden auch Bahnumspannwerke beschossen und so der Bahnverkehr ganzer Landkreise mit mehreren Zehntausend Einwohnern lahmgelegt.

Die ukrainischen Drohnenstreitkräfte setzen ihre systematischen Angriffe auf Russlands Ölinfrastruktur fort. Ziel sind weiter sowohl Raffinerien als auch Pump- und Kompressorstationen des Erdöl- und Erdgaspipelinenetzes. Spürbare Folgen hat dies zwar bislang nur in wenigen Gebieten Russlands, in den oppositionellen Exilmedien sowie den halboffiziellen Militärkanälen werden diese jedoch diskutiert. Letztere suchen einen Umgang mit der Tatsache, dass die Luftabwehr nicht in der Lage ist, selbst die größten Raffinerien des Landes vor den im Durchschnitt alle fünf Tage erfolgenden Angriffen zu schützen. Vorgeschlagen werden u.a. der Einsatz von Hubschraubern, aus denen anfliegende Drohnen abgeschossen werden sollen, als auch die Installierung klassischer Flugabwehrkanonen. Die Erfolgsaussichten solcher Maßnahmen dürfen in Zweifel gezogen werden.

Intensivierung des Kriegs auf dem Meer

Am 28. August haben beide Kriegsparteien ihre Fähigkeit zum modernen Seekampf bewiesen und Schiffe des Gegners angegriffen. Die Ukraine hat im Asowschen Meer östlich der Krim mit zwei Drohnen einen kleinen Raketenkreuzer vom Typ Bujan-M angegriffen und u.a. das Radarsystem beschädigt. Die Flugobjekte könnten von ukrainischen Seedrohnen gestartet worden sein, allerdings ist unklar, wie diese ins Asowsche Meer gelangt sind, da Fangnetze im Bereich der Krim-Brücke dieses absperren.

Noch rätselhafter ist der Ablauf eines russländischen Angriffs auf das Aufklärungsschiff Simferopol‘ des ukrainischen Militärgeheimdiensts HUR, das 25 Kilometer flussaufwärts der Donaumündung westlich von Vylkove ankerte. Es wurde von einer schwimmenden Drohne getroffen, bei der Explosion starb mindestens ein Seemann; ob das Schiff, wie von Russland behauptet, sank, ist den ukrainischen Angaben nicht zu entnehmen.

Die Ukraine zerstörte daraufhin auf der Krim den Radar eines S-400 Flugabwehrsystems und griff am 30. August mit Raketen – möglicherweise des neuen Typs Flamingo den Militärflughafen in Simferopol‘ an, wo zwei Militärhubschrauber zerstört wurden. Mit solchen hatte Russland in jüngster Zeit ukrainische Seedrohnen bekämpft. Am Folgetag gab der ukrainische Marinechef Dmytro Pletenčuk bekannt, ein unter der Flagge von Belize fahrendes ziviles Schiff sei auf der Fahrt nach Odessa auf eine Seemine gelaufen und beschädigt worden. Die Vorfälle könnten darauf hindeuten, dass Russland den Krieg auf dem Schwarzen Meer wieder intensiviert, das zwischen der Donaumündung und der Meerenge von Kerč nahezu unangefochten unter ukrainischer Kontrolle gestanden hatte.

Ukrainische Rekrutierungsprobleme

Der ukrainische Präsident Zelens’kyj hat Ende August bekannt gegeben, dass das seit Kriegsbeginn für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren geltende Ausreiseverbot von nun an erst ab 23 Jahren gilt. Gleichzeitig werden weiter Reservetruppen für den Kriegseinsatz vorbereitet und im ganzen Land Männer von der Straße weg verhaftet und an die Front gebracht. Die Entscheidung fiel wenige Tage nach einem Vorfall in Warschau. Am 9. August entrollte bei einem Konzert des belarussischen Punk- und Rapmusikers Maks Korž im Nationalstadion eine Gruppe junger Zuschauer eine schwarz-rote Fahne mit dem ukrainischen Dreizack. Diese Flagge hatte die 1942 gegründete Ukrainische Aufstandsarmee verwendet, die von 1943 bis 1945 in Wolhynien und Galizien zwischen 50 000 und 100 000 polnische Zivilisten ermordete. In Warschau kam es sofort zu einer Schlägerei zwischen den ukrainischen jungen Männern und polnischen Fans. 63 festgenommene Ukrainer wurden anschließend des Landes verwiesen.

Zelens’kyj begründete die Aufhebung des Ausreiseverbots für junge Männer zwar damit, dass diese die Gelegenheit zu einer Ausbildung in Europa nutzen sollten, um anschließend in die Ukraine zurückzukehren, wo Männer ab dem 25. Lebensjahr – vor April 2024 ab dem 27. – zum Kriegsdienst eingezogen werden. Tatsächlich ermöglicht die Entscheidung jedoch kampffähigen jungen Ukrainern die Ausreise. Dies führt in Polen zu Unmut, wo sich die Stimmung im vergangenen Jahr immer mehr gegen ukrainische Migranten gewendet hat.

Aber auch in der Ukraine wurden gerade in Armeekreisen Zweifel laut. Der bekannte Kriegsreporter Jurij Kas’janov, der Offizier der ukrainischen Streitkräfte und Spezialist für Drohnensysteme ist, kritisierte die Entscheidung scharf: Die politische Führung sorge nicht für die Durchhaltefähigkeit der Ukraine, sondern bereite ihre Wiederwahl nach dem Krieg vor – in einem „Föderalbezirk Kleinrussland“.

Wenige Tage zuvor hatte der bekannte Aktivist Serhij Stepenko, der von 2014-2017 in Odessa Vorsitzender der Partei Rechter Sektor gewesen war und seit 2022 Geld für Drohnen sammelt, behauptet, die Armee würde wegen des Soldatenmangels bereits Drohnenführer in die Schützengräben schicken. Der Generalstab hatte erklärt, man würde keine Personen an vorderster Front einsetzen, die von „entscheidender Bedeutung für das Abfangen von Drohnen sind“. Doch das Vertrauen in solche Aussagen sinkt.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.