Russlands Überfall auf die Ukraine

Der Krieg und die Grundfragen des Rechts

Christian Tomuschat, 31.3.2022

Russlands Überfall auf die Ukraine ist völkerrechtlich eine Aggression. Sie ist eines der schwersten internationalen Verbrechen. Russland ist zur Wiedergutmachung aller Unrechtsfolgen verpflichtet. Freilich ist der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch Russlands Veto blockiert. Nach internationalem Strafrecht haben sich die Befehlshaber, an ihrer Spitze Präsident Putin, persönlich schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht, möglicherweise sogar des Verbrechens des Völkermords. Dennoch wird eine Verfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof kaum erfolgen. Aber die russländischen Generäle werden wegen des für Kriegsverbrechen geltenden Weltrechtsprinzips auch vor nationalen Strafgerichten angeklagt werden können, soweit man ihrer habhaft werden kann.

Der Überfall der Streitkräfte der Russländischen Föderation auf das Kernterritorium der Ukraine am 24. Februar 2022 hat in ganz Europa Bestürzung hervorgerufen. Neben den großen Fragen nach den menschlichen und politischen Auswirkungen eines Angriffskrieges hat der Konflikt auch zahlreiche rechtliche Grundfragen aufgeworfen. Die tatsächlichen Umstände des massiven Überfalls auf die Ukraine sind in ihren Grundzügen allgemein bekannt, obwohl durch den Fortgang der Kampfhandlungen täglich neue Einzelheiten hinzutreten. Die publizistischen Medien haben im westlichen Europa wie auch sonst in der Welt berichten können, wie am 24. Februar 2022 russländische Streitkräfte plötzlich in kampffähiger Stärke auf ukrainisches Staatsgebiet vordrangen, dort mit Artillerie und Raketen wahllos zahlreiche Ziele bombardierten und diese Angriffshandlungen durch Beschuss aus der Luft und von See her verstärkten, nachdem sie schon in der davorliegenden Zeit mit militärischer Gewalt die Aufständischen in der östlichen Ukraine, in den Gebieten Luhans’k und Donec’k, unterstützt hatten. Nur in Russland sollen die Menschen von der von ihren Streitkräften verübten Invasion in das Territorium eines fremden souveränen Staates nichts erfahren. Bis heute leugnen die vom Kreml beherrschten Staatsmedien in vollem Einklang mit der offiziellen Linie ihrer Regierung, dass es sich in der Ukraine um einen echten Krieg zwischen zwei Staaten handele. Russlands Regierung spielt das Geschehen terminologisch zu einer „Sonderoperation“ herunter, die angeblich den Charakter einer bloßen Polizeiaktion habe.

Es lohnt nicht, auf solche verharmlosenden Zweifel sachlich einzugehen. Die Tatsachen sprechen ihre eigene Sprache. Die Ukraine hat bis zum heutigen Tage eine Vielzahl von Todesopfern zu beklagen, deren Anzahl sich allerdings unter den gegebenen Umständen nicht genau beziffern lässt, da die offiziellen Stellen in den beiden Ländern entweder an einer Bestandsaufnahme gehindert sind oder bewusst schweigen, um ihre Situation zu verdecken. Unter den Opfern befinden sich viele Militärangehörige, die bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen sind, vor allem aber Zivilisten, unter ihnen eine hohe Anzahl von Frauen und Kindern. So fanden am 16. März 2022 Hunderte von Zivilisten den Tod, als russländische Truppen in Mariupolʼ das städtische Theater bombardierten, dessen Keller der eingeschlossenen Bevölkerung, vor allem Frauen und Kindern, als letzte Zuflucht gedient hatte. Die Zahl der Todesfälle vor allem in Mariupolʼ, aber auch sonst in der Ukraine mit den Großstädten Kiew und Charkiv wird sich aller Voraussicht nach in den nächsten Tagen und Wochen signifikant weiter erhöhen, da die Zivilbevölkerung zunehmend von der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten abgeschnitten wird. Auf der Gegenseite ist nicht bekannt, dass es bisher irgendwelche Todesopfer in der russländischen Bevölkerung auf Russlands Staatsgebiet gegeben hätte. Alle Kampfhandlungen haben sich auf ukrainischem Staatsgebiet abgespielt, und sämtliche Verluste sind auf Operationen der russländischen Streitkräfte zurückzuführen.

Rechtliche Grunddaten

Zu den für die Beurteilung des Krieges wesentlichen rechtlichen Faktoren gehört die einfache Tatsache, dass es sich sowohl bei der Ukraine als auch bei der Russländischen Föderation um souveräne Staaten handelt, die im Verhältnis der Gleichordnung zueinander stehen. Die Ukraine ist eines der ursprünglichen Mitglieder der Vereinten Nationen seit dem Gründungsjahr 1945. Sie hatte von Anfang an Sitz und Stimme in der Generalversammlung der Weltorganisation; im Unterschied zur Sowjetunion war ihr kein ständiger Sitz im Sicherheitsrat anvertraut worden. Bis zum heutigen Tage sind dort nur die „Großen Fünf“ (China, Frankreich, die Russländische Föderation [nach dem Wortlaut der Charta die „Sowjetunion“], das Vereinigte Königreich und die USA) dauerhaft mit dem besonderen Entscheidungsrecht des Vetos ausgestattet. Für die Ukraine galt von Anfang an das in der UN-Charta verankerte Prinzip der souveränen Gleichheit (Art. 2 Abs. 1). Außer dem in Art. 27 Abs. 3 niedergelegten Vetorecht für die Entscheidungen des Sicherheitsrats kennt die UN-Charta keine sonstigen Vorrechte eines Mitgliedstaates. Sie sieht keine Einflusszonen oder Zonen „besonderen Interesses“ vor. Im Gegenteil hat sich die Charta von Anfang an darauf festgelegt, das System des Kolonialismus mit seiner Vorherrschaft der europäischen Großmächte stufenweise zu beseitigen. Seit dem Inkrafttreten der Charta im Jahre 1945 standen alle Mitglieder der Weltorganisation im Zeichen der Gleichheit unter dem Schutz des in Art. 2 Abs. 4 an hervorragender Stelle verankerten Gewaltverbots. Verboten ist nach dieser Bestimmung

„jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Kein Staat ist von der Reichweite dieser Vorschrift ausgenommen.[1] Da dem Sicherheitsrat nach Art. 24 die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ übertragen worden ist, obliegt damit auch seinen Mitgliedern und insbesondere seinen ständigen Mitgliedern eine besondere Obhutspflicht für diese Grundpfeiler einer durch das Völkerrecht geprägten Weltordnung. Diese Garantenstellung hat die Russländische Föderation nicht nur nicht wahrgenommen, sondern durch ihren militärischen Angriff in das Gegenteil verkehrt. Vom Wahrer des Friedens in der Welt ist die russländische Regierung zur Triebkraft des Unrechts geworden, indem sie zusätzlich am 25. Februar 2022 bei der Abstimmung im Sicherheitsrat über eine Beschlussvorlage, in der das russländische Vorgehen verurteilt und gleichzeitig der sofortige Abzug der russländischen Truppen von ukrainischem Gebiet gefordert wurde, ihr Veto einlegte.[2] In klaren Worten beschrieb bei dieser Gelegenheit der mexikanische Vertreter das Vorgehen Russlands:

„we are confronted with the invasion of one sovereign country by another, which constitutes a flagrant violation of Article 2, paragraph 4, of the Charter of the United Nations and also constitutes an act of aggression under the terms of General Assembly resolution 3314 (XXIX), adopted by all Member States of the United Nations.“[3]

Die notwendige numerische Mehrheit (neun Stimmen) war mit 11 von 15 Stimmen zwar erreicht und übertroffen worden. Doch Russland verhinderte kraft seines Vetos die Annahme der Vorlage. Keines der anderen ständigen Mitglieder legte ein Veto ein. Auch China distanzierte sich von der Russländischen Föderation, indem es sich der Stimme enthielt. Enthaltung übten ferner Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Nachdem der Sicherheitsrat auf diese Weise davon Abstand genommen hatte, seine Verantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit wahrzunehmen, berief er wieder mit der gleichen Stimmenkoalition eine Notsondersitzung (Emergency Special Session) der Generalversammlung ein.[4] Für solche verfahrensrechtlichen Beschlüsse gibt es kein Vetorecht. Eingebracht wurde wiederum eine Beschlussvorlage, mit der der russländische Angriffskrieg scharf kritisiert und der sofortige Abzug aller Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet gefordert wurde. Diese Vorlage wurde mit einer großen Mehrheit von 141 Stimmen gegen 5 bei 35 Enthaltungen angenommen.[5] Damit wurde das für wichtige Fragen vorgeschriebene Quorum (Art. 18 Abs. 2) einer Zweidrittelmehrheit (129 Stimmen) weit übertroffen. Die Russländische Föderation fand sich isoliert in einer Minderheitsgruppe von wenigen Gefolgsleuten, die sich sichtbar außerhalb eines breiten universellen Konsenses bewegten.

Jedem, der sich jemals mit dem System der Vereinten Nationen auseinandergesetzt hat, ist bekannt, dass Resolutionen der Generalversammlung keine verbindliche Kraft besitzen. Dennoch eignet ihnen, wenn mit großer Mehrheit angenommen, eine gewichtige moralische und politische Autorität. Ein Land, das sich derart von den Ansichten der Mehrheit der übrigen Staaten entfernt hat, weiß, dass sein Verhalten schärfste Missbilligung verdient und dass die Auferlegung von Sanktionen nur durch verfahrenstechnische Besonderheiten verhindert wird. In einer Abwägung, ob dem Unrecht auch durch handfeste Gegenmaßnahmen entgegengetreten werden soll, entscheidet sich die UN-Charta in der Befürchtung, dass die Durchsetzung der legitimen Position gleichzeitig schweren Schaden mit sich führen könnte, für Zurückhaltung, um jedenfalls eine friedliche Lösung im Wege von Verhandlungen zu erreichen. Die Generalversammlung kann nur ihre Meinung kundtun, sie besitzt eben keine echte Entscheidungsmacht.

Zu den für die Bewertung des Krieges wesentlichen Grundgegebenheiten gehört auch die Tatsache, dass sich die Russländische Föderation nach der Auflösung der Sowjetunion im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994, einem von dem Vereinigten Königreich und den USA garantierten völkerrechtlichen Vertrag, verpflichtet hat, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren.[6] Die Ukraine erhielt diese Garantie als Gegenleistung für ihren Verzicht auf Nuklearwaffen.

Rechtsverstöße

Nachfolgend wird an erster Stelle der Problemkomplex Aggression erörtert, weil der russländische Einmarsch in die Ukraine den Boden für alle weiteren Verletzungen völkerrechtlicher Regeln bereitet hat. Der begonnene Krieg hat mit jedem weiteren Tag weiteres Unrecht gezeugt. Ein ehrliches, für beide Seiten akzeptables Verhandlungsergebnis über ein Ende der Kampfhandlungen würde also die Quelle des Übels versiegen lassen.

I Aggression

1) Zwischenstaatliche Verantwortlichkeit

a) Der Tatbestand der Aggression

Durch seinen Überfall auf die Ukraine hat die Russländische Föderation offensichtlich einen Bruch des Gewaltverbots in seiner höchstgesteigerten Form, nämlich einer Aggression, begangen. Der Ausdruck „Aggression“ wird nicht ausdrücklich in Art. 2 Abs. 4, der allgemeinen Bestimmung über das Gewaltverbot, erwähnt, erscheint aber an prominenter Stelle in Art. 39, wo die Aufgaben des Sicherheitsrates bei schwerwiegenden Verstößen gegen die rechtliche Weltordnung umschrieben werden. Es heißt dort:

„The Security Council shall determine the existence of any threat to the peace, breach of the peace, or act of aggression and shall make recommendations, or decide what measures shall be taken …“

Verständlicherweise hat man sich in den verantwortlichen Entscheidungsgremien der Vereinten Nationen von Anfang an mit großem Einsatz darum bemüht, Einigkeit über den Begriff der Aggression zu erzielen, um genau zu wissen, welch gesteigerte Form der Verantwortlichkeit aus einer Aggression erwächst. Eine erste Verständigung wurde im Jahre 1970 im Zuge der Umschreibung der grundlegenden Prinzipien der UN-Charta erreicht, wo die von allen Mitgliedsländern getragene Formel gefunden wurde:

„A war of aggression constitutes a crime against the peace, for which there is responsibility under international law.“[7]

Nach jahrelangen Verhandlungen gelang es der Generalversammlung danach im Jahre 1974, eine genauere tatbestandliche Definition des Begriffs der Aggression zu erarbeiten, die ohne förmliche Abstimmung, also im sogenannten „consensus“-Verfahren, angenommen werden konnte.[8] Die Hauptform der Aggression wird in Art. 1 so umschrieben:

„Aggression is the use of armed force by a State against the sovereignty, territorial integrity or political independence of another State, or in any other manner inconsistent with the Charter of the United Nations …“

Genau um diese Form der Verletzung der Rechte eines anderen Staates handelt es sich im vorliegenden Falle. Die Russländische Föderation ist mit ihrer bewaffneten Macht über die Ukraine hergefallen, ohne dass die Ukraine der Russländischen Föderation irgendeinen Vorwand für eine solche militärische Operation geliefert hätte. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in seinem Nicaragua-Urteil aus dem Jahre 1986 ausdrücklich betont, dass es sich bei dem Angriff mit Waffengewalt auf ein anderes Land um die schwerwiegendste Verletzung des Gewaltverbots handele.[9] Es kann angesichts der Sachlage kein Zweifel daran bestehen, dass genau diese Sachverhaltskonstellation im vorliegenden Fall gegeben ist, zumal eben die Russländische Föderation mit ihrem Überfall gleichzeitig das Budapester Memorandum von 1994 verletzt hat, das in spezifischer Weise die Sicherheit der Ukraine schützen sollte.

b) Rechtfertigung?

Die Ukraine hat in dem jetzigen Streitfall vor dem Internationalen Gerichtshof wegen einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung von Völkermord eine ganze Reihe von Gründen vorgetragen, derentwegen die Invasion trotz des ausdrücklichen Verbots in der Charta zulässig sein soll.[10] Behauptet wurde vor allem, zulasten der russischsprachigen Minderheit sei in weitem Umfang Völkermord betrieben worden.

Vorweg ist dazu festzustellen, dass es nach allen verlässlichen Quellen – das russländische Fernsehen gehört nicht dazu – im Osten der Ukraine im Donbass zu keiner Zeit massenhafte Schreckenstaten gegen die russischsprachigen Einwohner der Region gegeben hat. Behauptungen zu angeblichem Völkermord sind aus der Luft gegriffen und stellen sich als lügenhafte Hirngespinste dar. Auch sonst stehen die erhobenen Vorwürfe auf wenig sicherem Boden. Den Berichten der dort tätigen OSZE-Missionen zufolge ist das Geschehen ganz im Gegenteil durchweg so abgelaufen, dass Aktivisten der sogenannten Volksrepubliken die ukrainetreue Bevölkerung seit 2014 durch kriminelle Taten, Mord und Verschleppung eingeschüchtert und terrorisiert haben und dieses Treiben im Schutze der Okkupationsmacht fortsetzen.[11]

Festzustellen ist überdies, dass bei jedem angeblichen Übergriff auf die Rechte einzelner Personen, soweit solche Übergriffe zu einem massenhaften Phänomen anwachsen, die Gremien der Vereinten Nationen jederzeit hätten in Anspruch genommen werden können. Da ja die Russländische Föderation ständiges Mitglied im Sicherheitsrat ist, wäre es für die betroffene russophone Bevölkerung ein Leichtes gewesen, ihre Beschwerden einzubringen und einer gründlichen Überprüfung zuführen zu lassen. Die UN-Charta sieht überdies zahlreiche weitere Verfahrenswege für die friedliche Beilegung von zwischenstaatlichen Streitigkeiten vor. Die Art. 2 Abs. 3 und 33 bieten eine reiche Fülle von verschiedenen Modalitäten an, die von der unförmlichen Verhandlung bis zum Internationalen Gerichtshof reichen. Verhandlungen sind das sich primär anbietende Instrument für solch einen Ausgleich. Zu keinem Zeitpunkt hat die Ukraine sich gegen Verhandlungen gesträubt. Auch bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen hat es eine aktive Zusammenarbeit gegeben. Von einer Blockade durch die ukrainischen Regierungsstellen konnte in den vergangenen Jahren nicht die Rede sein. Auf keinen Fall sind im Übrigen einseitige Drohgebärden und der Einsatz von Waffengewalt ein geeignetes Mittel zur Beilegung einer Streitigkeit. Ganz bewusst stellt die UN-Charta die Mittel der friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Abs. 3) als Alternative dem Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 gegenüber.

Staaten haben auch die Möglichkeit, sich einseitig zur Wehr zu setzen, wenn sie meinen, ein anderer Staat beeinträchtige sie in ihren Rechten. In dem ARSIWA-Entwurf der UN-Völkerrechtskommission (ILC)[12] wird ausdrücklich auch das Instrument der Gegenmaßnahmen aufgeführt (Art. 49–54), mit dessen Hilfe es zulässig ist, zur Abwehr eines sich vollziehenden oder bereits abgeschlossenen Rechtsbruchs nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit in die Rechte des Streitgegners einzugreifen, um ihn zu einem rechtstreuen Verhalten zu bewegen, vorausgesetzt nur, die allgemeinen Regeln der Charta über das Interventionsverbot und das Gewaltverbot werden beachtet. So kann etwa ein Land Behinderungen des freien Personenverkehrs mit ähnlichen Restriktionsmaßnahmen beantworten. Da hier die russländischen Beschwerden die Behandlung des russischsprachigen Teils der Bevölkerung in der östlichen Ukraine zur Grundlage hatten, hätte die Russländische Föderation jederzeit ein Verfahren der Staatenbeschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eröffnen können (EMRK, Art. 33). Es fehlte also nicht an leicht zugänglichen und wirksamen Rechtsbehelfen. Das Argument, man sei als ultima ratio auf Gewaltanwendung angewiesen gewesen, verfängt also in keiner Weise. Gewaltanwendung scheidet überdies in jeder Lage aus, soweit es sich nicht um Selbstverteidigung nach Art. 51 handelt, die jedem Staat in der Tat als letztes Hilfsmittel zusteht.

Eine Ausnahme bleibt, die allerdings nach wie vor theoretisch wie rechtlich im Streit steht. Die NATO-Staaten haben sich in ihrer bewaffneten Auseinandersetzung mit Serbien zugunsten der albanischen Bevölkerung im Kosovo unmissverständlich darauf berufen, dass der Einsatz von Waffengewalt notwendig gewesen sei, um die mit Völkermord bedrohten Personen albanischer Ethnizität vor dem Tod zu bewahren. In der Tat muss es bei anstehender konkreter Gefahr von Völkermord zu einer Güterabwägung kommen können; das Gewaltverbot kann nicht als starres Prinzip verstanden werden, das keinerlei Einschränkung zulässt. Auf diese schwierige Streitfrage braucht aber an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden, da keinerlei Anzeichen dafür vorliegen, dass vor dem Ausbrechen der Aufstände in der Ostukraine dort tatsächlich rechtlose Zustände von Willkür und Missachtung des menschlichen Lebens geherrscht hätten.

Wäre tatsächlich in den Bezirken Luhansʼk und Donecʼk auch nur ansatzweise der Versuch unternommen worden, Menschen wegen ihrer spezifischen angeborenen Eigenschaften zu Tode zu bringen, wäre dies auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Vor allem die OSZE-Missionen, die stets auf absolute Neutralität und Objektivität verpflichtet sind, hätten solche Versuche in ihren Berichten festgehalten. Die Russländische Föderation hätte als Mitglied der OSZE alle Möglichkeiten gehabt, solchen Vorwürfen nachzugehen und in geeigneter Form aufzuklären. Nichts von alledem ist aber an das Licht der Öffentlichkeit geraten. Die These von der Notwendigkeit des Waffeneinsatzes zum Schutze der russophonen Menschen in der Ostukraine erweist sich bei genauerer Betrachtung daher als bloße fabulierte Zweckkonstruktion, der jeder verlässliche und nachweisbare faktische Unterbau fehlt.

Festzustellen ist demnach, dass die Streitkräfte der Russländischen Föderation einen flagranten Bruch der ihnen nach der UN-Charta und dem Budapester Memorandum obliegenden Verpflichtung zur Wahrung und Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine begangen haben. Es liegen keinerlei Gründe vor, welche diesen schwerwiegenden Rechtsverstoß rechtfertigen könnten.

c) Wiedergutmachung

Jede Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung zieht die Haftung des verantwortlichen Staates nach sich. Dieser bewährte traditionelle Grundsatz ist vor wenigen Jahren von der UN-Völkerrechtskommission auch in ihre Kodifikation des völkerrechtlichen Deliktsrechts übernommen worden. In Art. 1 dieser Kodifikation: „Responsibility of States for internationally wrongful acts“ (ARSIWA),[13] heißt es in Art. 1:

„Every internationally wrongful act of a State entails the international responsibility of that State.“

An sich ist ein solches Regelwerk, erstellt von einer Unterorganisation der Generalversammlung, ohne verbindliche Kraft, sondern ist als bloße Empfehlung einzustufen. Aber ARSIWA ist eben mehr als eine bloße rechtspolitische Aussage, sondern stützt sich als Festschreibung des geltenden Gewohnheitsrechts auf feste Grundlagen. Der Internationale Gerichtshof hat die Regelwerk ARSIWA schon mehrfach als Ausdruck des anwendbaren positiven Völkerrechts in seiner Rechtsprechung herangezogen.

Da die Ukraine das Opfer eines bewaffneten Angriffs geworden ist, steht ihr nach Art. 51 das Recht der Selbstverteidigung zu. Hervorzuheben ist, dass Selbstverteidigung nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Charta nicht allein individuelle Selbstverteidigung bedeutet, sondern auch in der Form der kollektiven Selbstverteidigung organisiert werden darf. Demzufolge dürfen beliebige Drittstaaten der Ukraine zu Hilfe kommen, auch wenn sie nicht der europäischen Region angehören. Wer auf diese Weise die Ukraine in ihrem Abwehrkampf unterstützt, handelt völkerrechtsgemäß, muss sich allerdings wie jeder andere am Konflikt beteiligte Staat den Regeln des humanitären Rechts unterordnen. Sollten etwa Polen oder Deutschland aktiv in den Konflikt eingreifen, könnte ihnen nicht der Vorwurf gemacht werden, dass sie ihrerseits die Rolle des Aggressors übernommen hätten. Militärisch gegen sie vorzugehen wegen ihrer Unterstützung der Ukraine würde abermals einem schweren Bruch des Gewaltverbots gleichkommen. Auf der anderen Seite macht sich jeder Staat, der sich auf die Seite des Aggressors schlägt, seinerseits der Aggression schuldig. Dies kann etwa für Belarus gelten, wenn das Land sich, was der Verfasser dieser Zeilen nicht zu beurteilen vermag, an der noch andauernden Aggression beteiligt. Leider muss angenommen werden, dass Belarus in jedem Fall von der Russländischen Föderation geschützt wird, auch wenn die Sach- und Rechtslage dem entgegensteht.

Die Folgen für den Aggressor Russländische Föderation lassen sich in rechtlicher Hinsicht leicht bestimmen. Die Russländische Föderation ist für den gesamten von ihr angerichteten Schaden verantwortlich und muss diesen ausgleichen, auch wenn sie dazu in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten gestürzt würde. So müsste die Russländische Föderation vollumfänglichen Ausgleich für den entstandenen Schaden leisten, obwohl sich in der Praxis der Bereinigung von Kriegsschäden herausgestellt hat, dass solche Totalwiedergutmachung die Wirtschaftskraft des Verursachers meist übersteigt. Als untragbar erwies sich vor allem für Deutschland die im Vertrag von Versailles festgelegte Verpflichtung zur Reparation aller durch den Ersten Weltkrieg verursachten Schäden. Aber in den ARSIWA-Regeln hat sich diese Einsicht nicht niedergeschlagen. Sie verlangen vorbehaltlos „full reparation“ (Art. 31). Auch Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten nicht in der Lage, jedem geschädigten Staat und seinen Bürgern einen Ausgleich zu gewähren, der die erlittenen Verluste gänzlich hätte wettmachen können. Aber wie dies in akuten Fällen zu handhaben ist, bleibt der Politik überlassen, die ja auch immer berücksichtigen muss, dass Staaten nicht abstrakte Einheiten sind, sondern aus Menschen bestehen, die letzten Endes die Lasten tragen müssen. Dass jüngere Generationen verdammt sein sollen, die von einer älteren Generation verursachten Schäden über Jahrzehnte hinweg abzutragen, ist eine schwer erträgliche Vorstellung für ein Denken, das an Kategorien der Menschenrechte geschult ist.

Die UN-Völkerrechtskommission hatte bei ihren Beratungen über das Projekt der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit eine Zeitlang erwogen, bei Rechtsverletzungen zwischen „Verbrechen“ (crimes) und sonstigen Rechtsverstößen (delicts) zu unterscheiden. Der Gedanke war dabei, dass bei solchen Verbrechen die Ersatzpflichten härter ausgestaltet werden sollten, gegebenenfalls auch mit einer Art Strafschadensersatz in mehrfacher Höhe des verursachten Schadens. Ein erster Entwurf war in diesem Sinne bereits verabschiedet worden.[14] Aber die Komplexität des Themas ließ eine solche Regelung nicht zu, vor allem weil man nicht einfach auf Modelle aus dem Privatrecht zurückgreifen konnte. Es bleibt also im Grundsatz bei der vollständigen (einfachen) Wiedergutmachung, die sich schon als solche nur schwer realisieren lässt, wenn es um die Bereinigung grundlegender Verwerfungen wie insbesondere kriegerischer Auseinandersetzungen geht.

Hinzu kommt allerdings eine weitere Verpflichtung, die dem Verursacherstaat Russländische Föderation aus der Vertreibung von Millionen Ukrainern aus ihrem Lande erwächst. Mit hoher Selbstverständlichkeit haben sich benachbarte Staaten wie vor allem Polen, die Slowakei, Rumänien und Deutschland bereitgefunden, die Flüchtlinge bei sich aufzunehmen und mit allem Lebenswichtigen – Nahrung, Kleidung, Unterkunft etc. – zu versorgen. Die den Nachbarstaaten damit aufgebürdete Last ist unmittelbar auf den von der Russländischen Föderation geführten Angriffskrieg zurückzuführen. Der Angreifer kann sich nicht auf die Ausrede stützen, dass es ja die freie Entscheidung der Menschen gewesen sei, ihr Land zu verlassen und jenseits der Grenzen Schutz zu suchen. Wer vor die Wahl von Leben oder Tod gestellt wird, hat keine echte Entscheidungsfreiheit, und die aufnehmenden Länder sind nach ihren internationalen Verpflichtungen zum Menschenrechtsschutz auch verpflichtet, den Ankömmlingen angemessene Lebensbedingungen zu gewährleisten. All dies ist für den Angreifer ja auch vorhersehbar, zumal er das strategische Ziel verfolgte, die Bevölkerung der Ukraine in möglichst weitem Umfang zu vertreiben.

2) Individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit

Die Kriterien für die mögliche strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Personen finden sich in Art. 25 des Römischen Statuts. Es heißt dort in Abs. 3, dass strafrechtlich haftbar ist

„wer ein solches [völkerrechtliches] Verbrechen selbst, gemeinschaftlich mit einem anderen oder durch einen anderen begeht, gleichviel ob der andere strafrechtlich verantwortlich ist.“

Für das Verbrechen der Aggression wurde im Jahre 2010 zur Klarstellung in Art. 8bis Abs. 1 noch hinzugefügt, dass Täter nur eine Person sein könne,

„die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.“

Für eine Strafbarkeit wegen des Überfalls auf die Ukraine kommen daher in erster Linie jene Personen in Betracht, die in Russland die politische Entscheidungsgewalt innehaben und über den Einsatz der Streitkräfte entscheiden können. Konkret heißt dies, dass Staatspräsident Putin selbst, Verteidigungsminister Sergej Šojgu und die an der Spitze der Armee stehenden militärischen Führer wie Generalstabschef Valerij Gerasimov als mögliche Täter in jede Überprüfung einzubeziehen sind. Es ist nicht ersichtlich, dass noch irgendwelche entferntere Dritte in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen könnten.

Der strafrechtliche Tatbestand der Aggression war im Jahre 1998 als abstrakter Begriff in das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH)[15] übernommen worden (Art. 5 (d)), ist aber erst im Jahre 2010 durch die Übernahme der Definition der Generalversammlung aus dem Jahre 1974, durch Schärfung des Tatbestandes im Interesse strafrechtlicher Rechtsklarheit[16] und einige präzisierende verfahrensrechtliche Anpassungen im Wege der Vertragsergänzung operativ geworden.[17] Damit steht endgültig fest, dass die Aggression wegen ihrer unheilvollen Auswirkungen zu den anwendbaren Tatbeständen des internationalen Strafrechts gehört. Allerdings ist die Zuständigkeit des IStGH im Falle der Russländischen Föderation lahmgelegt, denn grundsätzlich sieht das Statut im Hinblick auf Aggression eine Zuständigkeit nur in Bezug auf die Vertragsstaaten vor (Art. 15bis Abs. 4), aber weder die Russländische Föderation noch die Ukraine sind dem Statut beigetreten. Überdies muss im Falle der Befassung durch einen Staat oder wenn der Ankläger selbständig Ermittlungen eingeleitet hat, zunächst der Sicherheitsrat eine positive Entscheidung über die Verfolgung des in Betracht gezogenen Tatgeschehens abgeben (Art. 15bis Abs. 6). Auch die einseitige Anerkennung der Gerichtsbarkeit durch die Ukraine für auf ihrem Staatsgebiet begangenen Akte der Aggression nach Art. 12 Abs. 3 des Statuts (Erklärung vom 8.9.2015)[18] hilft deswegen nicht weiter. Alternativ könnte der IStGH auch durch den Sicherheitsrat selbst befasst werden (Art. 15ter), doch ist dieser Verfahrensweg durch die Beteiligung der Russländischen Föderation ebenfalls faktisch ausgeschlossen. Das Vetorecht des ständigen Mitglieds behauptet sich auch in Fällen, wo es selbst über einen seiner Angehörigen im Visier einer möglichen strafrechtlichen Anklage steht. Das Vetorecht beherrscht auch das internationale Strafrecht, was den Durchsetzungsmechanismus angeht. Diese Rechtslage widerspricht an sich dem allgemeinen Rechtsgrundsatz „nemo judex in re sua“, dass also niemand Richter in eigener Sache sein darf. Aber das gesamte System der Vereinten Nationen hat bestimmte machtpolitische Voraussetzungen, die sich nicht mit der Elle allgemeiner rechtsstaatlicher Grundsätze messen lassen.

Das ernüchternde Ergebnis lautet, dass keine der russländischen Führungspersönlichkeiten, welche die Verantwortung für den Angriffskrieg auf die Ukraine tragen, wegen der Begehung des Verbrechens der Aggression vor dem IStGH angeklagt werden kann. Die internationale Gemeinschaft hat zwar mit der Strafbarerklärung der Aggression, die eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit nach sich ziehen soll, einen wichtigen Schritt in eine bessere Welt des international gesicherten Friedens getan, doch gleichzeitig dieses Instrument derart geschwächt, dass es auf eine bloße Symbolik reduziert ist. Ganz offensichtlich war man bei den Beratungen über die neuen Vorschriften des Statuts über die Aggression, die bei einer Konferenz der Vertragsstaaten des Römischen Statuts in Kampala im Jahre 2010 beschlossen wurden, von der Annahme ausgegangen, dass die Begehung der Straftat der Aggression durch Angehörige einer der drei ständigen Mächte im Sicherheitsrat undenkbar sei. Die Sonderstellung der ständigen Sicherheitsratsmächte ist aber nun leider in die strafrechtliche Dimension hinein verlängert worden. Die Korrekturfunktion des Strafrechts hat dadurch einen schweren Schaden erlitten.

II Völkermord und sonstige Verstöße gegen das humanitäre Recht

1) Strafverfolgung durch den IStGH

Was die strafrechtlichen Folgen des russländischen Angriffskrieges mit seinen vielfältigen Verletzungen des humanitären Rechts angeht, so ist eine Unterscheidung zu treffen zwischen einer Strafverfolgung vor dem IStGH und einer Strafverfolgung durch nationale Gerichte.

Nach dem Römischen Statut sind strafbar im völkerrechtlichen Rahmen Völkermord (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), Kriegsverbrechen (Art. 8) sowie das Verbrechen der Aggression (Art. 8bis). Zu beachten ist von vornherein, dass dem IStGH nicht aufgetragen ist, einzelne Straftaten zu identifizieren und insoweit die verantwortlichen Straftäter ausfindig zu machen. Bei dem Straftatbestand des Völkermordes steht von vornherein fest, dass er nicht von einer Einzelperson verwirklicht werden kann. Völkermord setzt voraus, dass das Mordgeschehen in großem Maßstab durchgeführt wird, im Regelfall aufgrund einer vorbereitenden Planung oder in einem Zusammenwirken, das sich ohne solche vorherigen Planschritte in einer gemeinsamen Aktion mit gemeinsamen Zielen vollzieht. Für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist in Art. 7 Abs. 1 ausdrücklich spezifiziert, dass die in Betracht kommenden Handlungen „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ begangen werden muss. Abweichend in der Formulierung ist die Definition des Kriegsverbrechens im Rahmen des Statuts. Hier heißt es (Art. 8 Abs. 1), dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs sich auf jede Art von Verbrechen beziehe, „insbesondere“, wenn diese „als Teil eines Planes oder einer Politik oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden“.

Die hier angestellte rechtliche Betrachtung kann bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen keine Aussagen zu einzelnen konkreten Tatkomplexen machen, sondern muss sich damit begnügen, auf der Grundlage der für die Öffentlichkeit zugänglichen Informationen zu einzelnen typischen Strategien der russländischen Armee Stellung zu beziehen.

a) Völkermord

Der Tatbestand des Völkermordes ragt aus den Vorschriften des Römischen Statuts prominent heraus. In der Literatur wird der Völkermord häufig als „crime of crimes“ bezeichnet,[19] weil in der Tat die massenhafte Vernichtung menschlichen Lebens in bewusster Absicht die Grundlagen einer zivilisierten internationalen Friedensordnung zum Einsturz bringt. Im gegenwärtigen Krieg zwischen der Russländischen Föderation und der Ukraine mit seinen zahlreichen Opfern liegt es in der Tat nahe, dass es auch zu Taten des Völkermordes gekommen ist und dass sich möglicherweise das mörderische Geschehen im Laufe des Jahres 2022 noch weiter fortsetzen wird.

Die Definition des Völkermordes lautet in Art. 6 des Römischen Statuts im Originalwortlaut:

„For the purpose of this Statute, „genocide“ means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: (a) Killing members of the group; (b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; (c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; (d) Imposing measures intended to prevent births within the group; (e) Forcibly transferring children of the group to another group.“

Den Kern des Tatbestands des Völkermordes bildet die Absicht, eine bestimmte Gruppe – sei sie national, ethnisch, rassisch oder religiös bestimmt – zu zerstören (destroy, frz. détruire). Eine solche Absicht bricht mit allen Banden der Mitmenschlichkeit, sie betrachtet das Opfer lediglich als störendes Element, dessen Verschwinden nach Ansicht der Täter die Welt besser machen soll. Offensichtlich führt die genozidale Absicht zwangsläufig zu einem hohen Blutzoll. Bei Völkermord handelt es sich nicht um Unfälle in einer ansonsten geregelten Welt, sondern um Strategien, welche die Unmenschlichkeit zu einem erstrebenswerten Ziel verklären.

Bei einem Blick auf die Geschehnisse in der Ukraine der Monate Februar und März 2022 fällt auf, dass das Panorama der Ereignisse in den einzelnen Landesteilen höchst unterschiedlich ist. Offensichtlich gibt es Bezirke, in welche Russlands Armee noch nicht vorgedrungen ist – dort kann von Vorwürfen des Völkermordes nicht die Rede sein. Aber selbst dort, wo die Okkupationsarmee bereits Fuß gefasst hat, gibt es offenbar Gegenden, wo ein ziviles Leben nach wie vor in eingeschränktem Umfang möglich ist. Medienvertreter berichten etwa davon, dass sie die Hauptstadt Kiew nach wie vor verlassen könnten und auch in der Lage seien, dorthin zurückzukehren. Solche Nachrichten vermitteln nicht das Bild eines Landes, in dem ein fremdes Heer, das russländische, Völkermordaktionen unternimmt. Aber an anderer Stelle wird die Not der Zivilbevölkerung mit jeder Stunde vorgeführt, wo das Leben von Menschen, die nicht den Streitkräften angehören, robust und brutal vernichtet wird, um den Tod zum Herrscher zu machen und auf diese Weise die Verteidiger zu terrorisieren.

Offensichtlich ist Mariupolʼ ein solcher Ort, wo sich die Spannungen verdichtet haben und wo ein Überleben kaum noch möglich ist, weil die russländische Armee mit allen ihren Kräften angreift, vom Lande her, aus der Luft und von See her, ohne Rücksicht auf die Verluste in der Zivilbevölkerung. Angesichts der Massivität der Angriffe, die keinen einzigen Schutzort verschonen, liegt die Annahme nahe, dass hier ein Prozess des Völkermordes stattfindet.

Der Tatbestand des Völkermordes verlangt im objektiven Sinne, dass eine Gruppe angegriffen wird, die als „erheblicher“ („substantial“) Teil der verfolgten ethnischen oder nationalen Einheit angesehen werden kann.[20] Im Falle von Mariupolʼ handelt es sich um die gesamte Bevölkerung der Stadt mit ihren über 400 000 Menschen, eine Teilgruppe des ukrainischen Volkes, die nicht nur vertrieben werden, sondern vernichtet werden sollte und soll, damit Russland die unumschränkte Herrschaft in der Stadt selbst wie auch in ihrer Umgebung übernehmen kann. Es geht also nicht etwa um eine weniger bedeutsame Personengruppe, sondern um eine Bevölkerung, die repräsentativ steht für die gesamte Wohnbevölkerung der Ukraine am Ufer des Asowschen Meeres. Über Tage hinweg lag die Stadt vom Beginn der Invasion an bis Mitte März unter Feuer, bewusst waren sämtliche Versorgungseinrichtungen für Elektrizität, Gas und Wasser zerstört worden. Für die Belagerten gab es keine Fluchtmöglichkeiten, sie mussten in der Stadt ausharren, auch wenn sie am Rand des Verhungerns und Verdurstens waren. Auch die Krankenversorgung war völlig zusammengebrochen, es gab keine Hilfe durch das Rote Kreuz oder sonstige humanitäre Einrichtungen. Das Rote Kreuz hat angesichts der Bedrohungslage mitsamt seinem Personal und seinen Hilfsmitteln die Stadt verlassen müssen. Ein großer Teil der Wohngebäude war durch den Beschuss zerstört worden, die Menschen waren der harten Kälte ausgesetzt. Erst am 16. März 2022 konnte ein größerer Konvoi die Stadt verlassen. Ihm wurde aber kein Geleitschutz zur Seite gegeben, und während seiner Fahrt in das umliegende Land wurden die Menschen beschossen. Schlimmer kann es der Bevölkerung einer Stadt kaum ergehen.

Verwirklicht worden sind damit von den Tatbeständen des Art. 6 des Römischen Statuts

Was das subjektive Element der Vernichtungsabsicht angeht, bedarf es nach der Rechtsprechung des Jugoslawien-Gerichtshofs nicht des Nachweises eines Gesamtplans. Auf die verbrecherische Absicht kann auch anhand der relevanten Umstände geschlossen werden. Sie müssen zwingend den Schluss ergeben, dass eine andere Zielsetzung ernsthaft nicht in Frage kommt.[21] Es trifft wohl zu, dass die russländische Armee in erster Linie bestrebt war, eine Landverbindung zu der illegal annektierten Krim herzustellen. Aber es handelte sich nicht um reinen Landgewinn, wie dies eine Eroberungsmacht im Allgemeinen anstrebt, sondern um eine zielgerichtete und bewusste Bombardierung von Zivilisten, die entgegen den Planungen der militärischen Chefstrategen noch in der Stadt zurückgeblieben sind, ohne sich zu ergeben. Insofern ist die Sachlage grundlegend anders als in dem vom IGH entschiedenen Fall Kroatien gegen Serbien, wo das Gericht die kriegerische Eroberungsabsicht von einer genozidalen Absicht unterschied.[22] Da das Hindernis nicht ohne weiteres zu überwinden war, wurde von der Armeeführung beschlossen, die widerspenstigen Bürger, die ihrem Land die Treue halten wollten, zu beseitigen. Für die Eroberer war die Vernichtung der Bevölkerung von Mariupolʼ als Teil des ukrainischen Volkes die einzige Möglichkeit, ihre Ziele schnell und effektiv zu erreichen. E ging ihnen nicht allein darum, den ihnen entgegengesetzten Widerstand zu brechen, sondern die Opponenten gerade wegen ihres durch ihren Widerstandswillen manifestierten Bekenntnisses zum ukrainischen Volk zu vernichten. Deswegen wurden über viele Tage hinweg keine Fluchtkorridore eröffnet, die Bevölkerung war gezwungen, in der eingekesselten Stadt zu verbleiben, sie wurde bewusst der physischen Zerstörung ausgesetzt. Einen ihrer Höhepunkte erreichte diese Strategie mit dem Angriff auf die Geburtsklinik Roddom in Mariupolʼ am 11. März 2022 und deren vollständige Zerstörung, wo Frauen und Kinder die Opfer wurden, sowie mit dem Anschlag auf das städtische Theater am 16. März 2022, wo sich im Keller Hunderte von Frauen und Kindern aufhielten. Im Augenblick ist über die Zahl der Todesopfer bei diesem zweiten verbrecherischen Anschlag noch nichts bekannt, aber allein die Tatsache, dass ein Ort der öffentlichen Kommunikation für friedliche Zeiten gezielt angegriffen wurde, zeigt, dass die Täter von bösartigen Motiven beseelt waren, die auf keine andere Ursache als zerstörerischen Hass auf die ins Visier genommenen Menschen einer anderen nationalen oder ethnischen Gruppe zurückgeführt werden kann.

Natürlich wird es noch spezieller Sachverhaltsfeststellungen in künftigen Strafverfahren bedürfen. Aber alle äußeren Anzeichen deuten darauf hin, dass der Tatbestand des Völkermordes erfüllt worden ist, weil den russländischen Befehlshabern mit dem Einsatz ihrer Waffen über viele Tage hinweg daran gelegen war, die verbliebenen Einwohner von Mariupolʼ speziell wegen ihrer Eigenschaft als ukrainische Staatsbürger zu Tode zu bringen. Russlands Armeeführung wird sich nicht darauf berufen können, dass an den beiden Orten zufällig ein Treffer gelandet sei.

Höchste Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Anordnung des Internationalen Gerichtshofs vom 16.3.2022. Der IGH hat seine Zuständigkeit für den Erlass dieser Anordnung auf die Jurisdiktionsklausel des Art. IX der Anti-Völkermordkonvention gestützt und dabei in der Erwägung gehandelt:

„75. The Court considers that the civilian population affected by the present conflict is extremely vulnerable. The “special military operation” being conducted by the Russian Federation has resulted in numerous civilian deaths and injuries. It has also caused significant material damage, including the destruction of buildings and infrastructure. Attacks are ongoing and are creating increasingly difficult living conditions for the civilian population. Many persons have no access to the most basic foodstuffs, potable water, electricity, essential medicines or heating. A very large number of people are attempting to flee from the most affected cities under extremely insecure conditions.“

Das Ergebnis fiel eindeutig aus:
„The Russian Federation shall immediately suspend the military operations that it commenced on 24 February 2022 in the territory of Ukraine.“
Nur der russische Richter und die chinesische Richterin verweigerten sich dieser verbindlichen Anweisung.

Indem Russlands Regierung schon einen Tag danach, am 17. März 2022, erklären ließ, dass sie sich dem Spruch des Gerichts nicht beugen werde,[23] entfernte sich die Russländische Föderation abermals mit einem drastischen Schritt aus der internationalen Gemeinschaft, die eine Rechtsgemeinschaft ist. Sie gefährdet damit auch ihren Sitz als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat, indem sie ihre Vetomacht entgegen allen Zielen und Zwecken der Weltorganisation der Vereinten Nationen verwendet. Zwar gibt es kein positiv-rechtliches Verfahren der Verwirkung, aber die Legitimität der Vorrangstellung wird entscheidend geschwächt.

b) Sonstige schwere Verstöße gegen das humanitäre Recht (Kriegsverbrechen)

Das humanitäre Kriegsrecht, das sogenannte jus in bello, schützt die an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Personen noch durch weitere Sondervorschriften gegen Verletzungen der Regeln über die Kriegführung. Diese Regeln sind weitgehend als Kriegsverbrechen in Art. 8 des Römischen Statuts aufgeführt. Einschlägig sind im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die Vorschriften des Abs. 2 (b) (i): vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, und Abs. 2 (b) (ii): vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte, das vorsätzliche Aushungern von Zivilpersonen als Methode der Kriegführung, Art. 8 Abs. 2 (b) xxv. Die über die Medien verfügbare Dokumentation hat jedem Beobachter anschaulich vor Augen geführt, dass die russländischen Truppen vor allem mit Artillerie und Raketen wahllos zahlreiche Städte, insbesondere die Hauptstadt Kiew und Charkiv, bombardiert und Tausende Zivilisten getötet haben. Wie betont, weisen die Angriffe auf Mariupolʼ gar die Qualität eines Völkermords auf.

Angesichts des geschilderten Sachverhalts ist ferner davon auszugehen, dass die russländischen Truppen überdies Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 des Römischen Statuts) begangen haben. Mangels näherer Kenntnisse über das Geschehen im Kampfgebiet können dazu aber im vorliegenden Zusammenhang keine Aussagen gemacht werden.

c) Territorialer Geltungsbereich des Römischen Statuts

Bei einer Anwendung des Römischen Statuts geht es immer um die Verantwortlichmachung von Einzelpersonen, wobei hier sowohl die militärischen Führungskräfte als auch die im Felde operierenden Soldaten in Betracht kommen. Da weder die Ukraine noch die Russländische Föderation das Römische Statut ratifiziert haben, kommt eine Zuständigkeit des IStGH auf Grund der allgemeinen Kompetenzbestimmungen des Art. 12 Abs. 1 und 2 nicht in Frage, die eine Vertragsmitgliedschaft voraussetzen. Die Ukraine hat jedoch nach Art. 12 Abs. 3 einseitig die Zuständigkeit des IStGH für auf ihrem Staatsgebiet begangene Verbrechen seit Februar 2014 anerkannt. Für die Aktualisierung dieser Befugnis ist die Institution des Anklägers zuständig. Auf der offiziellen Website des IStGH ist eine Erklärung des Anklägers zu finden, dass er sich entschlossen habe, wegen des Krieges in der Ukraine eine Untersuchung einzuleiten.[24]

2) Strafverfolgung durch nationale Gerichte

Die Zuständigkeit des IStGH verdrängt nicht die Zuständigkeit der nationalen Gerichte für Verletzungen des humanitären Rechts. Nach dem IV. Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949[25] (Art. 146 Abs. 2) sind alle Vertragsparteien zur Ermittlung von Personen verpflichtet, „die der Begehung oder der Erteilung eines Befehls zur Begehung einer … schweren Verletzung“ der Schutzvorschriften des Abkommens beschuldigt sind und müssen dann entsprechende gerichtliche Verfahren einleiten. Eine besondere Nähe zu der jeweiligen Tat ist nicht erforderlich, es gilt das Weltrechtsprinzip. Da der Regelkatalog aus dem Jahre 1949 relativ eng gefasst ist, hat man sich mit dem Zusatzprotokoll I von 1977 zu einer Ausweitung und Spezifizierung entschlossen. Insbesondere hat man die Vorschriften über die Zivilbevölkerung (Art. 50–51) und zivile Objekte (Art. 52–56) in diesem Sinne modifiziert. Nach Art. 85 Abs. 1 von Zusatzprotokoll I von 1977 gilt das Weltrechtsprinzip auch für die auf seiner Grundlage neu eingeführten Strafbestimmungen. Kein Militärführer, der sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hat, kann sich also nach seiner Rückkehr in das Heimatland in den Grenzen seines eigenen Landes sicher fühlen. Im Rechtssinne besteht die Möglichkeit, dass er mittels eines Haftbefehls gesucht wird. Ob er dann auch an den verfolgenden Staat ausgeliefert würde, hängt von dem Stande der gegenseitigen Vereinbarungen über die Auslieferung ab. Generell muss man sagen, dass der Auslieferungsverkehr im Bereich von Kriegsverbrechen eher schwach entwickelt ist. Staatsanwaltschaften scheuen sich in problematischen Fällen meist, Ermittlungsverfahren zu eröffnen, weil jedes derartige Verfahren mit Auslandsbezug erhebliche Schwierigkeiten in Bezug auf die Beweiserhebung und die Sprachenfrage mit sich bringt und damit außerordentlich hohe Kosten verursachen kann.

Die Bundesrepublik Deutschland hat mit dem Erlass des Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB)[26] dafür gesorgt, dass sämtliche völkerrechtliche Straftaten auch innerstaatlich verfolgt werden können. Ein erster Beweis für die Effektivität dieses Mechanismus hat im Januar des Jahres 2022 das Oberlandesgericht Koblenz durch die Verurteilung eines im staatlichen Auftrag handelnden Folterers wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe erbracht.[27] Es kommt also nicht zu rechtstechnischen Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine nach Völkerrecht eingetretene Strafbarkeit auch durch die deutschen Justizorgane durchzusetzen.

Große Mühe bereitet es insbesondere, stichhaltige Beweise für eine Täterschaft zusammenzubringen. Für die Ausstellung eines Haftbefehls oder später die Erhebung einer Anklage werden durchweg handfeste Unterlagen benötigt. Aber bei Kampfhandlungen im militärischen Konflikt bleibt in den meisten Fällen unklar, wem ein bestimmtes Verbrechen zurechenbar ist, wenn man nicht auf die Figur der command responsibility zurückgreifen kann. In Nürnberg traten in den Jahren 1945 und 1946 sehr viel weniger Zweifel auf, weil die alliierten Siegermächte das gesamte Dokumentarmaterial der Deutschen Wehrmacht in ihren Besitz gebracht hatten. Sollten einzelne nationale Staatsanwaltschaften oder Gerichte den Versuch machen, einen der hohen Kommandeure der russländischen Armee für die Taten seiner Untergebenen zur Verantwortung zu ziehen, würden sie sicherlich keine weitreichende Kooperation vonseiten der russländischen Behörden erwarten können.

In Art. 90 des Zusatzprotokolls I ist dieser Schwierigkeiten wegen die Errichtung einer Internationalen Ermittlungskommission vorgesehen, deren Zuständigkeit indes von einer besonderen Anerkennung durch die betroffenen Staaten abhängig ist. Die Ermittlungskommission ist zwar seit dem Jahre 1992 in Funktion getreten, aber weder die Ukraine noch die Russländische Föderation haben sich ihrer Zuständigkeit unterworfen.

Für im Auftrag des Staates handelnde Personen kann es naturgemäß keine Immunität im Falle von Kriegsverbrechen geben, da sonst das Konzept des Kriegsverbrechens als solches in Frage gestellt würde. Allerdings steht nach dem Urteil des IGH im sogenannten Arrest Warrant-Fall fest, dass eine nationale Strafverfolgungsbehörde nicht das Recht hat, gegen jemanden einen Haftbefehl auszustellen, der aufgrund seiner Amtsstellung persönliche Immunität genießt.[28] Gegen den Diktator Vladimir Putin dürfte daher jedenfalls während seiner Amtszeit ein Haftbefehl nicht ausgestellt werden.

Fazit

Die Verantwortlichkeit für den Überfall auf die Ukraine in Form eines bewaffneten Angriffs (Aggression) liegt in vollem Umfang bei der Russländischen Föderation. Der Angriff lässt sich unter keinem Aspekt rechtfertigen. Die Russländische Föderation ist daher von Rechts wegen zur vollen Wiedergutmachung der entstandenen Schäden verpflichtet. Es erscheint angesichts der herrschenden Machtverhältnisse allerdings als äußerst zweifelhaft, ob die Ukraine diesen Wiedergutmachungsanspruch jemals wird durchsetzen können.

Was individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für die auf dem Boden der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen angeht, so scheidet eine Verfolgung des russländischen Präsidenten wegen des Verbrechens der Aggression aus, weil nach dem Römischen Statut insoweit eine Bewilligung durch den Sicherheitsrat erforderlich wäre. Die für Kriegsverbrechen verantwortlichen Angehörigen der russländischen Streitkräfte können von Rechts wegen nicht nur vor dem IStGH, sondern auch vor nationalen Gerichten verantwortlich gemacht werden. Auch wenn sie sich auf russländisches Territorium zurückbegeben, können sie sich nicht vor Strafverfolgung sicher fühlen.

Manuskript abgeschlossen am 23. März 2022

Christian Tomuschat (1936), Dr. iur. habil., Prof. em. für Öffentliches Recht, Völker- und Europa, Berlin

Der Beitrag ist ein Vorabdruck aus Osteuropa, Heft 1-3/2022.


[1] Die sogenannte „Feindstaatenartikel“ zulasten der im Zweiten Weltkrieg besiegten Länder (Art. 53 und 107) sind mittlerweile obsolet geworden.

[2] UN Dok. S/PV.8979, 25.2.2022, S. 6.

[3] Ebd., S. 5.

[4] Resolution 2623 (2022), 27.2.2022.

[5] Resolution ES-11/1, 2.3.2022. Die fünf Gegenstimmen kamen von Belarus, Eritrea, Nordkorea, Russland und Syrien.

[6] UN-Dok. A/49/765, Art. 1: „1. The Russian Federation, the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the United States of America reaffirm their commitment to Ukraine, in accordance with the principles of the Final Act of the Conference on Security and Cooperation in Europe, to respect the independence and sovereignty and the existing borders of Ukraine.“

[7] UNGA Res. 2625 (XXV), Declaration on Principles of International Law concerning Friendly Relations and Co-operation among States in accordance with the Charter of the United Nations, Prinzip 1, Abs. 2.

[8] UNGA Res. 3314 (XXIX), 14.12.1974.

[9] Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Urteil v. 27.6.1986, ICJ Reports 1986, 14, 101, Absatz 191.

[10] Schriftsatz v. 7.3.2022, S. 6.

[11] Am 16. März berichtete die OSZE über die „Verschleppung von gewählten Gemeindevertretern in den Städten Melitopolʼ und Dniprorudne, OSCE human rights office alarmed by forced removal of elected officials in Ukrainian cities, 16.3.2022 <www.osce.org/odihr/514066>.

[12] ARSIWA ist die Abkürzung für „Articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts“, eine Kodifikation des völkerrechtlichen Deliktsrechts, beschlossen von der ILC im Jahre 2001, Yearbook of the ILC 2001, Vol. II/2, S. 26.

[13] Anlage zu UNGA Res. 56/83, 12.12.2001.

[14] Yearbook of the ILC 1980 II/2, S. 30, Art. 19.

[15] Bundesgesetzblatt 2000 II, S. 1394

[16] Der Text des Art. 8bis Abs. 1 verlangt jetzt eine „offenkundige“ („manifest“) Verletzung der Charta der Vereinten Nationen.

[17] Text der neu eingefügten Artikel über das Verbrechen der Aggression: <https://asp.icc-cpi.int/iccdocs/asp_docs/RC2010/AMENDMENTS/CN.651.2010-ENG-CoA.pdf>.

[18] www.icc-cpi.int/iccdocs/other/Ukraine_Art_12-3_declaration_08092015.pdf.

[19] William A. Schabas: Genocide in International Law: The Crime of Crimes. Cambridge, 22009. – Von der ersten Auflage gibt es eine deutsche Fassung: William A. Schabas: Der Genozid im Völkerrecht. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. Hamburg 2003.

[20] International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY); Fall Kristic, IT-98-33-A, Urteil v. 19.4.2004, Abschnitt 8.

[21] ICTY, Urteil Kristic (Fn. 19), Abschnitt 34, 35.

[22] ICJ, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Croatia v. Serbia), Urteil v. 3.2.2015, ICJ Reports 2015, 3, 124–125, Abschnitte 426–428, 126–127, Abschnitte 435–437.

[23] www.republicworld.com/world-news/russia-ukraine-crisis/russia-refuses-to-comply-with-icj-order-to-stop-ukraine-war-no-consent-here-articleshow.html.

[24] <www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=20220228-prosecutor-statement-ukraine>.

[25] Diesem Übereinkommen gehören auch die Russländische Föderation und die Ukraine an.

[26] V. 26.6.2002, BGBl I, 2254.

[27] Urteil vom 13.1.2022, <https://olgko.justiz.rlp.de/de/startseite/detail/news/News/detail /lebenslange-haft-ua-wegen-verbrechens-gegen-die-menschlichkeit-und-wegen-mordes-urteil-gegen-ein-1/.Fundstelle stimmt.>

[28] ICJ, The Arrest Warrant of 11 April 2000, Urteil v. 14.2.2002, ICJ Reports 2002, 3.