Schießen ohne Sprechen
Nikolay Mitrokhin
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 167. Kriegswoche
11.6. 2025
Nach dem Scheitern der Waffenstillstandsverhandlungen in Istanbul geht der Krieg mit unverminderter Härte weiter. Russland rückt im Gebiet Sumy weiter vor, im Donbass hat sich die Lage vorübergehend etwas stabilisiert. Moskau bezeichnet seine massiven Luftangriffe als Vergeltung für die Zerstörung strategischer Bomber durch die Ukraine. Kiew versucht, Produktionsstätten der russländischen Rüstungsindustrie mit Drohnenattacken lahmzulegen.
Die von den USA vermittelten Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland über einen Waffenstillstand sind endgültig gescheitert. Moskaus absurde Forderung nach einer Übergabe der vier annektierten ukrainischen Gebiete einschließlich der noch unter der Kontrolle Kiews stehenden Teile ist für die Ukraine nicht erfüllbar.
Geblieben ist von dem Versuch lediglich die Wiederaufnahme direkter, der Öffentlichkeit vorab bekannt gegebener Gespräche zwischen Kontaktgruppen, bei denen es um konkrete militärische Fragen und humanitäre Themen geht. Nach dem großen Austausch von je 1000 Kriegsgefangene Ende Mai folgte am 9. Juni ein weiterer kleinerer Austausch, bei dem gefangene Soldaten unter 25 Jahren in ihr Heimatland zurückkehren konnten. Weitere 2500 Schwerverletzte und kranke Männer sollen zu einem späteren Zeitpunkt in ihre Heimat zurückkehren. Geplant ist auch eine Überführung der Leichen getöteter Soldaten – die Ukraine spricht von 6000, Moskau macht keine Angaben zu Zahlen.
Zudem hat die Ukraine Russland eine Liste mit den Namen von 339 – anderen Quellen zufolge: 500 – Kindern übergeben, die die russländischen Behörden rechtswidrig aus den besetzten Gebieten in der Ukraine nach Russland gebracht hätten oder auf besetztem Gebiet festhalten würden. Kiew spricht generell von mehr als 19 546 „entführten Kindern“, von denen bis zum 1. Juni 2025 nur 1345 in die Ukraine gebracht worden seien.[1] Die Zahl von 339 oder 500 Namen auf der jetzt vorgelegten Liste könnte bedeuten, dass es nur in diesen Fällen Eltern oder nahe Verwandte gibt, die heute im nicht besetzten Teil der Ukraine leben und sich von den Kiewer Behörden Hilfe versprechen, während es in vielen Fällen keine solchen Verwandten gibt.
Nach dem ergebnislosen Ende der Waffenstillstandsverhandlungen haben beide Seite in vollem Umfang den Krieg in seinen vier Dimensionen aufgenommen: den Landkrieg, den Luftkrieg, den Seekrieg und die Anschläge auf Infrastruktur des Gegners.
Zuvor hatte US-Präsident Donald Trump Russland praktisch grünes Licht für Vergeltungsschläge nach der ukrainischen Drohnenattacke auf Russlands strategische Bomberflotte gegeben. Im Anschluss an ein Telefongespräch mit Putin gab er bekannt, dieser habe eine massive Vergeltung angekündigt. Ein Wort der Missbilligung äußerte Trump nicht. Putin und seine Minister kündigten die Schläge mit den Worten an, das „Kiewer Regime“ sei nun endgültig „zur Terrororganisation degeneriert“. Daraufhin folgten in den Nächten vom 6. auf den 7. sowie vom 8. auf den 9. Juni schwere Luftangriffe auf mindestens zehn ukrainische Städte. Ziel waren nicht nur Objekte der ukrainischen Rüstungsindustrie, sondern auch Eisenbahnstrecken – eine Reaktion auf mehrere Anschläge des ukrainischen Geheimdiensts, bei denen Ende Mai und Anfang Juni in Russland Züge zum Entgleisen gebracht worden waren. Die russländischen Luftangriffe galten u.a. einer Brücke der Kiewer U-Bahn. Der Angriff auf das Wärmekraftwerk Nr. 5 in Kiew kann als Vergeltungsschlag für die Zerstörung mehrerer großer Umspannwerke im besetzten Süden des Gebiets Zaporižžja angesehen werden. Nach den Attacken der ukrainischen Armee Ende Mai und Anfang Juni hatten rund 600 000 Menschen auf dem okkupierten Gebiet längere Zeit keinen Strom.
Zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen wird es erst im Herbst nach Russlands Sommeroffensive kommen. Dann wird sich gezeigt haben, ob Russland weitere große ukrainische Gebiete unter seine Kontrolle gebracht hat und davon ausgeht, seine Kriegsziele auf dem Schlachtfeld erreichen zu können – oder ob es ein strategisches Patt gibt und Russlands Kriegswille so erschöpft ist, dass Moskau zumindest eine vorübergehende Einstellung der Kampfhandlungen anstrebt.
Die Lage an der Front
Die ukrainische Armee konnte in der 168. Kriegswoche verhindern, dass Russland den Durchbruch im Raum zwischen Pokrovs’k und Torec’k für weitere Vorstöße nutzt. Im Norden der Ukraine gelang es den Okkupationstruppen allerdings, im Gebiet Sumy weiter vorzurücken. Auch im „Dreiländereck“ zwischen den Gebieten Donec’k, Zaporižžja und Dnipropetrovs’k konnten die Besatzer Geländegewinne verzeichnen.
Im Gebiet Sumy haben die Besatzungstruppen zwar lediglich drei weitere Dörfer erobert, sind jedoch stellenweise bis zur dritten ukrainischen Verteidigungslinie vorgestoßen. Einer der Gründe könnte sein, dass die Verteidigungsanlagen nicht auf die veränderte Kriegsführung mit Drohnen umgerüstet wurden. Für die nun noch 25 Kilometer von der Frontlinie entfernte Gebietshauptstadt Sumy hat sich die Gefahr erheblich vergrößert. Dies zeigte sich etwa am 2. Juni, als Russlands Armee das Zentrum der zuvor weitgehend unbehelligt gebliebenen Stadt aus Raketenwerfern beschoss. Die Sprengköpfe der einschlagenden Raketen vom Typ „Tornado“ waren mit Streubomben besetzt. Auch wenn dieses System Ziele in 120 Kilometern Entfernung treffen kann, ist Sumy zuvor nicht beschossen worden. Nun muss die Stadt damit rechnen, dass Russland sie mit FPV-Drohnen angreift. Dies ist bereits in Charkiv geschehen, das 30 Kilometer von der Front entfernt liegt. Bislang haben die ukrainischen Behörden keine Zwangsevakuierung angekündigt. Doch bald schon könnte es nicht mehr möglich sein, die Stadt zu verlassen, ohne unter Beschuss zu geraten. Für einen Vorstoß auf die Stadt am Boden fehlen der russländischen Armee jedoch offenbar die Kräfte.
Kaum Nachrichten gibt es von den Frontabschnitten in den Gebieten Donec’k und Zaporižžja. Alles deutet darauf hin, dass die Besatzungsarmee den vor einigen Wochen erzielten Durchbruch nicht für einen tiefen Vorstoß nutzen konnte. Weder hat sie bislang den bei Torec’k stehenden ukrainischen Verband zum Rückzug gezwungen noch konnte sie Konstantynovka einnehmen
Allerdings sind russländische Truppen nach Angaben des Moskauer Verteidigungsministeriums erstmals auf das Gebiet Dnipropetrovs’k vorgestoßen. Die Ukraine bestreitet dies. Doch weist die proukrainische Plattform Deepstate Kämpfe in einer Entfernung von nur 600 Metern zur Grenze des Gebiets Dnipropetrovs’k aus. Wenngleich die Kampfhandlungen in diesem Raum bislang eher symbolische Bedeutung haben, so ist doch erkennbar, dass Russland der Verdrängung der ukrainischen Armee aus dem Südwesten des Gebiets Donec’k hohe Priorität beimisst. Für die Ukraine scheint hingegen die Verteidigung dieses Raum nicht den gleichen Stellenwert zu haben.
Der Luftkrieg
Russland hat seine Luftangriffe stark ausgeweitet. Die größte Gefahr für die Ukraine stellen weiterhin nicht Raketen dar, da Moskau nur über eine begrenzte Anzahl dieser Abstandswaffen verfügt. Viel gefährlicher sind die Drohnenattacken. Nach Angaben des ukrainischen Militärnachrichtendiensts HUR produziert Russland mittlerweile pro Monat 2700 schwere Angriffsdrohnen vom Typ Geran‘-2 und ebenso viele Attrappen, die eine Überlastung der ukrainischen Luftabwehr herbeiführen sollen. Im August 2024 habe die monatliche Produktion noch bei 500 solcher Drohnen gelegen, im Dezember bei 2000. Zudem hatte Russland im Frühjahr 2025 während der politischen Auseinandersetzung um mögliche Waffenstillstandsverhandlungen die Drohnenangriffe reduziert und greift nun auf volle Arsenale zurück. Alleine in der Nacht auf den 9. Juni registrierte die ukrainische Luftabwehr den Anflug von 479 Drohnen diesen Typs – so viele wie nie zuvor in einer Nacht. Nach offiziellen ukrainischen Angaben hätten nur 19 davon ihr Ziel erreicht.
In der 168. Kriegswoche griff Russland erstmals seit langer Zeit wieder Städte im Westen der Ukraine an. Insbesondere Luc’k, Ternopil‘, Rivne und Dubno waren unter Beschuss. Der Schutz dieser Städte mit F-16-Flugzeugen ist offenbar angesichts der hohen Anzahl der anfliegenden Drohnen nicht mehr gewährleistet. Russlands Luftschläge zielen auf tatsächliche oder vermeintliche Rüstungsunternehmen, Reparaturwerkstätten der Armee, Militärgelände und Kasernen. Nur selten gelangen Videoaufnahmen von getroffenen Objekten ins Internet. Geschieht dies doch, so zeigen die Einschläge von gleich mehreren Raketen – etwa auf dem Gelände eines Rüstungsbetriebs im Zentrum von Luc’k – oder Drohnen – so auf dem Luftwaffenstützpunkt von Dubno, wo möglicherweise F-16-Flugzeuge stationiert waren –, dass die Behauptung, die meisten Flugobjekte würden abgefangen, nicht den Tatsachen entspricht.
Besonders betroffen aber waren in der 168. Kriegswoche erneut die Gebietshauptstädte in Frontnähe, wo Russland das ganze Spektrum seiner konventionellen Angriffswaffen einsetzen kann – von kleinen FPV-Drohnen über schwere Angriffsdrohen bis zu Gleitbomben und ballistischen Raketen. In Cherson etwa wurde das leerstehende Gebäude der Gebietsverwaltung mit mehreren Gleitbomben zerstört. Charkiv erlebte in der Nacht auf den 7. Juni die schwersten Luftangriffe mit Drohnen und Gleitbomben seit Beginn des Krieges. Aber auch Städte wie Pryluky im Gebiet Černihiv sowie Kremenčug im Gebiet Poltava nahm Russland unter Beschuss.
Ungeachtet dieser Schreckensbilanz kann die ukrainische Luftabwehr Erfolge aufweisen. Am 7. Juni gelang es erstmals, mit einer F-16-Maschine ein russländisches Mehrzweck-Kampfflugzeug vom Typ Su-35 abzuschießen. Dies war möglich geworden, weil das um vier Jahrzehnte ältere Flugzeug aus US-Produktion mit modernen Luft-Luft-Raketen bestückt wurde, die eine Reichweite von 160 Kilometern haben, während die der Ukraine zur Verfügung stehenden Kampfflugzeuge aus sowjetischer Zeit erst aus einer Entfernung von 40 Kilometern Luftziele des Gegners bekämpfen können. Bereits zuvor hatte die ukrainische Luftwaffe versucht, mit F-16-Maschinen russländische Kampfflugzeuge in die Nähe zu locken, dabei aber drei Jets verloren. Obwohl die von russländischen Kampfflugzeugen abgeworfenen Gleitbomben mittlerweile aus einer Entfernung von bis zu 90 Kilometern ihr Ziel erreichen können, ist der Abschuss der Su-35 ein Hinweis darauf, dass die russländischen Piloten ihr Zerstörungswerk nicht mehr ganz so leicht betreiben können wie bislang.
Zudem ist es der Ukraine offenbar erstmals gelungen, eine im Gebiet Brjansk stationierte Abschussrampe für Raketen vom Typ Iskander zu zerstören. Zu einem besseren Schutz gegen Luftangriffe wird auch die Inbetriebnahme einiger Patriot-Luftabwehrsysteme beitragen, die Israel nun offenbar an die Ukraine geliefert hat. Israels Botschafter in Kiew bestätigte dies, während das Außenministerium in Jerusalem es bestritt. Eingesetzt werden sie vermutlich zum Schutz des Luftwaffenstützpunkts Dubno.
Die Ukraine hat mit ihren allnächtlichen Drohnenangriffen in der 168. Kriegswoche ein Treibstofflager getroffen, das zum Luftwaffenstützpunkt Ėngel’s im Gebiet Saratov gehört. Mindestens zwei Tanks gingen in Flammen auf. Angriffe gab es auch auf den Betrieb Azot in Novomoskovsk, Gebiet Tula, wo Vorprodukte für Sprengstoff hergestellt werden. Diese Attacke fügt sich ein in eine Reihe von Drohnenangriffen, mit denen die Ukraine versucht, Russlands Rüstungsindustrie lahmzulegen. Im April 2025 hatte ein Angriff dem Unternehmen „Optovolokonnye sistemy“ (Glasfasersysteme) in Saransk gegolten. Seit August 2023 war die Produktionsstätte für militärische Mikroelektronik „Kremnij El‘) in Brjansk mindestens sechs Mal Ziel eines Angriffs. Zwei Mal musste das Werk den Betrieb vorübergehend einstellen. Die jüngste Attacke erfolgte am 28. April 2025. Am 23. April und am 26. Mai war der Betrieb in Alabuga (Tatarstan), wo schwere Angriffsdrohnen hergestellt werden, Ziel ukrainischer Luftattacken. Am 28. Mai wurde die Fabrik „Ėlma“ in Zelenograd attackiert, ebenso das Unternehmen „Kronštadt“ in Dubna (Gebiet Moskau), wo Drohnen produziert werden. Das jüngste bekanntgewordene Angriff galt dem Betrieb „VNIIR-Progress“ in Čeboksary an der Wolga, das störresistente Satellitennavigations-Empfangsgeräte vom Typ „Kometa“ herstellt, die auf Drohnen montiert werden, um die elektronische Störung der Navigation durch die ukrainische Flugabwehr zu verhindern.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
[1] Diese Zahl nennt die Internetplattform Dity vijny / Children of War, die das ukrainische Ministerium für Reintegration und das Nationale Informationszentrum im Auftrag der Präsidialadministration geschaffen haben. Dort gibt es eine nicht nummerierte Liste mit 2012 Namen, es werden jedoch keine Angaben gemacht, wann die ukrainischen Behörden von „deportierten und/oder gewaltsam umgesiedelten Personen“ sprechen. Als Quelle für die Zahl 19 546 wird auf die englischsprachige Seite bringkidsback.org.ua verwiesen, die sich als „strategischen Aktionsplan auf Initiative des ukrainischen Präsidenten“ bezeichnet, aber keine Quelle für die Zahl nennt und ebenfalls keine Auskunft gibt, wann sie davon ausgeht, dass Minderjährige deportiert oder gewaltsam umgesiedelt wurden.
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.