Schlag auf Schlag

Ausweitung des Luftkriegs und Fortsetzung des Rüstungswettlaufs – der Krieg in der Ukraine am Jahreswechsel 2023/2024

Nikolay Mitrokhin, 8.1.2024

Stillstand an der Front, hohe Dynamik im Luftkrieg ‑ dieses Muster prägt den Krieg in der Ukraine seit vielen Monaten. Es hat sich in den beiden Wochen um den Jahreswechsel 2023/2024 erneut bestätigt. Am Boden geht die Abnutzungsschlacht weiter, bei der beide Seiten Soldaten und Material verlieren, ohne Aussicht auf substantielle Erfolge zu haben. Russland und die Ukraine wollen die materielle und psychische Erschöpfung des Gegners im Luftkrieg erreichen. Der Rüstungswettlauf bei Drohnen und Raketen ist in vollem Gang. Ohne Ausweitung der westlichen Unterstützung wird die Ukraine ihn verlieren.

Die Armeen Russlands und der Ukraine liefern sich weiter an knapp zehn Frontabschnitten intensive Kämpfe. Unter harten klimatischen Bedingungen, in überfrierendem Schlamm, ohne natürliche Deckung, aber unter permanenter Beobachtung durch Hunderte, wenn nicht Tausende Drohnen des Gegners verlieren beide Seiten Soldaten, Fahrzeuge und Gerät. Doch weder die ukrainische noch die russländische Armee konnten über den Jahreswechsel auch nur einen einzigen Kilometer vorrücken.

Die Ukraine hat sich offenbar entschlossen, die weitgehend eingekreiste Stadt Adijivka nicht aufzugeben. Am 29. Dezember 2023 besuchte Präsident Zelens’kyj die Verteidiger in der Stadt. Neben dem Durchhaltesymbol erhielten diese Verstärkung und konnten noch vor dem Jahreswechsel im zentralen Bereich der westlichen Stadtseite die anrennenden Besatzer ein wenig zurückdrängen.

In der Abnutzungsschlacht um den Brückenkopf, den die ukrainische Armee schon vor vielen Wochen am linken Ufer des Dnipro bei Krynki errichten konnte, den Russland aber permanent schwer beschießt, gab es keine Veränderungen, jedoch eine Erklärung der ukrainischen Armeeführung. Der Brückenkopf ziehe russländische Truppen aus dem gesamten südlichen Frontabschnitt auf sich, die dann ein gutes Ziel für Angriffe abgeben. Bis Jahresende 2023 hat die Ukraine dort mehr als 60 Fahrzeuge und Geschütze des Gegners zerstört, darunter zwei der äußerst teuren und seltenen Mehrfachraketenwerfer „Solncepek“ (TOS-1 Buratino). Die Ukraine hat hingegen nach eigenen Angaben weder im Bereich des Brückenkopfs noch am gegenüberliegenden rechten Ufer ein einziges Fahrzeug verloren – abgesehen von den Motorbooten, mit denen kleine Landungstruppen den Dnipro überqueren und die Russland mit Artillerie und Drohnen angreift. Die in Russland zirkulierenden Berichte über den massenhaften Tod ukrainischer Soldaten bei der Überquerung des Flusses sind wohl eher Propaganda. Aber es muss davon ausgegangen werden, dass viele ukrainische Soldaten am Ort des Brückenkopfs sterben, den Russland regelmäßig mit thermobarischen Sprengladungen angreift. Bei diesen wird ein brennbares Aerosol durch den bei einer Initialexplosion entstehenden Unterdruck auch in alle nicht luftdicht abgeschotteten Schutzunterstände gesogen, wo es sich entzündet.

Russland erleidet hohe Verluste bei dem Versuch, Avdijivka zu erobern, aber ebenso bei Sin’kovka. Dieses Dorf, das ganz im Norden der Frontlinie vor der Stadt Kupjans’k liegt, versucht die Besatzungsarmee bereits seit rund drei Monaten zu erobern. Die vordersten Positionen der russländischen Armee vor dem Nordrand des Dorfs liegen auf freiem Feld und sind von mindestens einem Dutzend ausgebrannter Panzer und gepanzerter Fahrzeuge geziert. Erst kürzlich hat die ukrainische Armee, wie ein neues Video zeigt, in einem Umkreis von nur 100 Metern fünf gepanzerte Fahrzeuge eines Konvois zerschossen.

Der Luftkrieg

Während am Boden das wechselseitige Abschlachten ohne Ergebnisse ein Dauerzustand ist, haben sich die beiden Kriegsparteien in den Tagen um den Jahreswechsel eine intensive Luftschlacht geliefert, bei der sie mit Raketen und Drohnen angriffen, die sie zuvor über mehrere Monate angehäuft hatten. Angriffe und Abwehrversuche zeugen von einer permanenten technischen Weiterentwicklung.

Der Schlagabtausch begann am 26. Dezember 2023 mit einem Raketenangriff der Ukraine auf den Hafen von Feodossija auf der Krim, wo das Landungsschiff Novočerkassk nach zwei Treffern und einer nicht anders als episch zu nennenden Explosion auf Grund lief. Auf die zwei Einschläge folgte eine zweite Explosion und dann ein Brand, dessen Feuersäule mindestens 100 Meter in die Höhe reichte, während kleine und große Teile des zerstörten Schiffs auf die Stadt niederregneten. Russland hat den Tod von 70 Mann der Besatzung eingeräumt. Nach der Versenkung des Flaggschiffs der Schwarzmeer-Flotte, des Raketenkreuzers „Moskva“ im April 2022, war dies der größte Verlust der russländischen Marine. Inoffiziellen Angaben zufolge hatte das Schiff Angriffsdrohnen vom Typ Geran‘ geladen, die Russland vom Festland aus in Richtung Ukraine starten wollte. Russland hat seit Kriegsbeginn nach westlichen Zählungen 20 Prozent seiner Kriegsschiffe im Schwarzen Meer verloren. Ein direkter Treffer in einem Hafen, der zur Totalzerstörung des Schiffes führt, ist gleichwohl ein großer Erfolg für die Ukraine.

Russland reagierte drei Tage später mit einem massiven Luftangriff auf zahlreiche ukrainische Städte. Die Attacke am 29. Dezember mit mehr als 100 Raketen und mehreren Dutzend Drohnen hatte zur Folge, dass alleine bei einem Einschlag in Kiew mehr als 30 Menschen starben. Insgesamt betrug die Zahl der Toten weit über 50. In der Ukraine hatte man seit dem Herbst befürchtet, dass wie im vorhergehenden Winter das Stromnetz im Zentrum neuer russländischer Luftangriffe stehen würde. Am 29. Dezember sowie bei weiteren Angriffen in den Tagen danach stand jedoch ganz offensichtlich Rache im Vordergrund – für die Versenkung des Landungsschiffs auf der Krim sowie für einen ukrainischen Luftangriff auf die grenznahe Großstadt Belgorod, den Kiew am Tag nach der Großattacke vom 29. Dezember gestartet hatte. Russland hatte seit Oktober weniger Raketen und Drohnen verschossen, als es produzierte, nun setzten Präsident Putin und Verteidigungsminister Šojgu sie ein – ein Angriff diesen Ausmaßes kann nur auf deren Befehl ausgeführt worden sein –, um den Menschen in zahlreichen ukrainischen Großstädten eine Woche des Terrors zu bereiten. Neben zivilen Zielen griff Russland mit den im Verlauf einer Woche zu Hunderten eingesetzten Geran‘-2-Drohnen, darunter auch solche mit Schaumstoffummantelung zur Dämpfung des Radarsignals, das von der Luftabwehr lokalisiert werden kann, Betriebe an, in denen die Ukraine elektronische Komponenten für Drohnen produziert. Ziel ist es, die ukrainischen Bemühungen um eine massive Ausweitung der Drohnenherstellung und deren technologische Verbesserung zu unterbinden. Dass die Ukraine dabei bereits Fortschritte macht, zeigte der Angriff auf Belgorod am 30. Dezember, bei dem 25 Menschen starben und über 100 verletzt wurden. Er wurde mit den präzisionsgelenkten Raketen vom Typ Vil’cha durchgeführt, die das Kiewer Konstruktionsbüro Luč entwickelt hat und von denen die Armee im Jahr 2019 eine erste Lieferung erhielt. Sie werden ständig weiterentwickelt. Insbesondere die Reichweite erhöht sich.

Bis zum 30. Dezember hieß es, die Ukraine wage es nicht oder sei nicht in der Lage, mit diesen Raketen Russland auf dessen Territorium anzugreifen. Seitdem fliegen immer neue Raketen in Richtung Belgorod. Auch wenn die russländische Luftabwehr einen Großteil abfängt, hat die Stadtverwaltung dennoch alle Großveranstaltungen inklusive der Weihnachtsgottesdienste abgesagt und erklärt, auf eine Evakuierung der 350 000 Einwohner von Belgorod in grenzfernere Städte des Gebiets vorbereitet zu sein.

Moskau reagierte auf den Beschuss der Stadt mit einer Propagandakampagne und verlangte die Einberufung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Die westlichen Staaten verhinderten dies und erklärten mit Verweis auf den Beschuss ukrainischer Städte durch Russland, dass der Angriff auf Belgorod im Rahmen dieses Kriegs kein ungewöhnliches Ereignis gewesen sei. Im Zuge der Racheangriffe vom 31. Dezember 2023 und 1. Januar 2024 beschoss Russland neben weiteren Rüstungsbetrieben auch Kraftwerke und Umspannstationen, was in einigen Städten zu einem zeitweiligen Stromausfall führte und die nationale Elektrizitätsgesellschaft zur Ankündigung veranlasste, „wegen des Frosts“ müsse möglicherweise die Stromversorgung gedrosselt werden, um einen Netzzusammenbruch zu verhindern. Darüber hinaus griff Russland auch symbolische Ziele an – etwa ein Stepan-Bandera-Museum und eine Roman-Šuchevyč-Gedenkstätte im Gebiet Lemberg sowie ein Unternehmen, das hochwertige Militärkleidung herstellt und aus dessen Kollektion auch Präsident Zelens’kyj seine Garderobe wählt.

Russlands massiver Angriff zeigte, dass selbst das am besten mit westlichen Luftabwehrsystemen geschützte Kiew beim Anflug einer solchen Zahl von Raketen und Drohnen verwundbar ist – von anderen Städten wie Charkiv oder Odessa, die permanent beschossen werden, oder den komplett ungeschützten ländlichen Gegenden nicht zu reden. Fliegen mehrere Dutzend Objekte gleichzeitig ein, so können auch die westlichen Systeme nicht schnell genug nachladen. Es stellt sich aber vor allem auch die grundsätzliche Frage, über wie viele der eine Million Dollar teuren Abwehrraketen die Ukraine überhaupt verfügt und wie viele sie einsetzen soll, wenn Dutzende Drohnen angreifen, von denen jede in der Produktion nur rund 40 000 Dollar kostet und die mit ihren verhältnismäßig kleinen Sprengsätzen nur einen begrenzten Schaden anrichten, aber sehr wohl zahlreiche Menschen töten können. Russland steht vor der gleichen Frage. Allerdings fängt Russland die meisten ukrainischen Angriffsdrohnen mittels elektronischer Kampfführung ab, während dies der Ukraine offenbar nur in den seltensten Fällen gelingt.

Gleichzeitig hat Russland neue Waffen entwickelt, die nun erstmals zum Einsatz kommen. Die Drohnen vom Typ „Lancet“, die zunächst über dem Zielgebiet kreisen (loitering weapons) können nun erstmals im Schwarm und mit automatischer Zielerfassung eingesetzt werden. Der ukrainische Technik-Blogger Sergej Fleš warnt, dass Russland dabei ist, FPV-Drohnen mit Wärmebildkameras und automatischer Zielerfassung einzusetzen. Da diese nicht mehr ferngesteuert werden müssen, gibt es kein Signal mehr, das mit elektronischen Mitteln gestört werden könnte.

Doch auch die Ukraine rüstet weiter, indem sie Elemente westlicher Raketentechnik mit eigenen Entwicklungen kombiniert oder die Reichweite und andere Eigenschaften der Kampfdrohne „Bober“ verbessert. Während der Angriffe um den Jahreswechsel wurde diese nicht zuletzt eingesetzt, um die russländische Luftabwehr abzulenken, während der eigentliche Angriff von Raketen ausging. Von der Ausweitung der Rüstungsproduktion zeugen auch die Angriffe in der ersten Januarwoche auf die westliche Krim, von denen vor allem Sevastopol‘ betroffen war. Sie zielten vor allem auf Kommunikationszentralen und Luftabwehrstellungen. Russländischen Angaben zufolge wurden zwar alle anfliegenden Objekte abgeschossen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Ukraine bis vor einiger Zeit nur eine oder zwei Neptun-Raketen pro Angriff einsetzte, nun aber bereits sechs. Gleichzeitig ist die Luftabwehr auf der Krim durch frühere Angriffe geschwächt.

Insgesamt zeichnet sich gleichwohl ab, dass Russland im Rüstungswettlauf der vergangenen zwei Jahre schneller war und im Jahr 2024 sowohl bei der Luftabwehr als auch bei den Angriffswaffen quantitativ wie qualitativ überlegen sein wird.

Die Frage wird sein, ob der Westen bei der Entwicklung und Produktion von Raketen, Angriffsdrohnen und Luftabwehrsystemen wie bislang das Tempo aus Friedenszeiten beibehält oder sowohl bei der technologischen Neuerung als auch bei den Stückzahlen auf das Tempo von Kriegszeiten umstellt. Die Ukraine bemüht sich um eine massive Ausweitung der Rüstungsindustrie, ist jedoch mit knappen Ressourcen und geringeren Organisationskapazitäten ausgestattet, muss aber vor allem auch mit der permanenten Gefahr von Luftangriffen auf Produktionsstätten rechnen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.