Stellungskrieg und Deutungskampf

Nikolay Mitrokhin, 26.9.2023

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: die 83. Kriegswoche

Die Ukraine hat faktisch die Kontrolle über das nordwestliche Schwarze Meer übernommen und kann immer mehr wichtige Ziele auf der Krim aus der Luft zerstören. Am Boden bleiben ihr solche Erfolge versagt. Die Offiziellen betreiben Erwartungsmanagement. Damit die Hoffnung nicht versiegt, aber auch keine erneute Enttäuschung aufkommt, setzen sie die Minimalziele für die verbleibenden Wochen der Gegenoffensive des Jahres 2023 herunter.

Die Lage an der Front

In der dritten Septemberwoche sind die Gefechte an nahezu allen Frontabschnitten stark abgeflaut. Selbst im Raum Vremivka bei Velyka Novosilka, wo seit Juni ununterbrochen gekämpft wurde, ruhen die Waffen meist. Südlich von Bachmut gehen die schweren Kämpfe allerdings weiter, jedoch ohne Geländegewinne einer der beiden Seiten.

Einzig südlich von Orichiv ist die ukrainische Armee zwischen Novopokrovka und Verbove um einen Kilometer vorgerückt und gräbt einen Frontvorsprung zwischen die Stellungen der russländischen Armee in Richtung Tokmak.

Im politisch-medialen Ringen um die Dosierung der Erwartungen versucht die Ukraine nach einer Welle der westlichen Enttäuschung über den Verlauf der Gegenoffensive, die Zuversicht aufrechtzuerhalten und zugleich die Ziele für das Jahr 2023 herunterzusetzen. Der Kommandeur der operativ-strategischen Gruppe „Tavrija“ Aleksandr Tarnavskij sprach in einem CNN-Interview einerseits von einem „Durchbruch“ bei Verbove und betonte zugleich die Bedeutung der ukrainischen Schläge gegen Versorgungslinien und Depots der russländischen Armee im rückwärtigen Frontgebiet. Am 21. September wurde etwa ukrainischen Quellen zufolge eine „geheime Militärbasis in einem Motorenwerk in Melitopol‘ getroffen“ und der Kommandeur der russländischen 58. Armee sowie der Stabschef und ein Dutzend Offiziere getötet.

Andererseits versucht die Ukraine, die Erwartungen zu dämpfen. Tarnavskij nennt in dem Interview Tokmak als „Minimalziel“ für die kommenden Wochen. Auch für das Erreichen dieses herabgesenkten Ziels macht er zugleich Hoffnung und versucht, einer Enttäuschung vorzubauen: Die größte Schwierigkeit sei momentan nicht die Surovikin-Linie, sondern „Straßenkreuzungen, Baumreihen und Minenfelder zwischen den Baumreihen. Kleine koordinierte Verteidigungstrupps des Gegner sind gegenwärtig sehr präzise und klug platziert.“

Gemessen an den ursprünglich verkündeten Zielen der Sommeroffensive muss man diese als gescheitert bezeichnen. Gelingt der Ukraine in den kommenden Wochen die Einnahme von Tokmak, so hat sie nicht viel gewonnen. Die Kleinstadt ist durchaus ein Verkehrsknotenpunkt für das umliegende Gebiet, durch sie verläuft eine große Straße in das am Dnipro unweit der Front gelegene Vasylivka sowie eine offenbar gegenwärtig nicht genutzte Bahntrasse. Aber eine Einnahme von Tokmak verspricht keine grundlegende Veränderung der Lage an der Front und bis zu den großen okkupierten Städten am Asowschen Meer ist es noch weit.

Möglicherweise dienen die Kämpfe zwischen Orichiv und Tokmak aber auch nur noch der Ablenkung. Einige russländische Quellen sprechen davon, die Ukraine würde auf der rechten Seite Dnipro gegenüber von Nova Kachovka größere Verbände zusammenziehen. Nicht ausgeschlossen, dass die ukrainische Armee plant, alle Kräfte auf einen Vorstoß an dieser Stelle zu konzentrieren, statt auf einen weiteren Vormarsch in Richtung Tokmak. Bereits im August hatte die Ukraine die russländische Armee dazu gebracht, größere Verbände von der Front am Dnipro nach Robotyne zu verlegen, um dann westlich von Nova Kachokva bei Kozači Laheri den Fluss zu überschreiten und dort ein größeres Gebiet am linken Ufer zu befreien. Diesen Brückenkopf musste sie allerdings einige Zeit später wieder aufgeben.

Luftangriffe auf die Krim

Viel größere Erfolg erzielt die Ukraine auf einem anderen Kriegsschauplatz: dem Schwarzen Meer mit der Krim. Immer deutlicher zeichnet sich der ukrainische Plan ab. Erst hat sie mit der Zerstörung der S-400 Systeme auf der Tarchankut-Halbinsel sowie bei Evpatorija Russlands Flugabwehr auf der Krim geschwächt und zudem die Anlagen zur Luftraumüberwachung im besetzten Gebiet Cherson sowie auf den Bojko-Bohrinseln zerstört oder unter Kontrolle genommen. Jetzt folgen immer neue Angriffe auf die Schwarzmeerflotte im Hafen von Sevastopol‘ sowie auf Kommandostellen, Flugplätze und andere militärische Einrichtungen in der Stadt und in ihrem Umland.

Nach russländischen Angaben laufen die Angriffe nach dem immer gleichen Schema ab: Erst werden die Pancyr‘-Flugabwehrsysteme, die die zerstörten oder beschädigten S-400-Anlagen ersetzen sollen, durch Attacken mit einer großen Anzahl von Drohnen und Raketen-Attrappen an die Kapazitätsgrenze geführt. Alleine am 21. September setzte die ukrainische Armee 75 Drohnen ein, um die Abwehranlagen zu überlasten. Anschließend starten Flugzeuge der ukrainischen Luftwaffe vom Stützpunkt Starokonstantynovo im Gebiet Chmel’nyc‘kyj und möglicherweise auch von anderen Flugplätzen in der Zentralukraine und feuern Storm-Shadow-Raketen auf Ziele in Sevastopol‘ ab. Wenn es der russländischen Luftabwehr immer noch gelingt, sieben von zehn solcher Raketen abzufangen, dann finden gleichwohl drei der mit mächtigen Sprengköpfen bestückten Raketen ihr Ziel. Getroffen wurden in der 83. Kriegswoche ein geheimes Kommandozentrum der Schwarzmeerflotte nahe der Siedlung Verchnesadovoe unweit von Sevastopol‘, erneut Schiffe, die in den Buchten Gollandija und Suchernaja ankerten, ein Flugplatz bei Saky südlich von Evpatorija und das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte. Dort schlugen drei Raketen hintereinander ein und zerstörten das Gebäude vollkommen. Der Leiter des militärischen Aufklärungsdiensts der Ukraine (GUR) Kirill Budanov erklärte, zum Zeitpunkt des Angriffs hätte das Flottenkommando dort getagt, die Teilnehmer seien schwer verletzt oder getötet worden. Unter den Schwerverletzten befände sich der Oberkommandierende der Flotte Generalmajor Aleksandr Romančuk und der Stabschef Generalleutnant Oleg Cekov. Der halboffizielle russländische Militärkanal Rybar‘ behauptet, von der Wachmannschaft abgesehen sei niemand in dem Gebäude gewesen. Gewissheit wird es erst geben, falls in einigen Wochen oder Monaten ein offizieller Bericht über die Beerdigung hochrangiger Befehlshaber der Marine auftaucht. Bislang kann man nur festhalten, dass die staatlich kontrollierten Medien in Russland der ukrainischen Behauptung nicht mit einem aktuellen Foto des Flottenkommandanten entgegengetreten sind und den erst nach fünf Stunden gelöschten Brand in dem vollkommen zerstörten Gebäude nur sehr knapp erwähnt haben.

Neben der Zerstörung des Hauptquartiers gibt es weitere wichtige Belege dafür, dass die Ukraine die Kontrolle über den Nordwesten des Schwarzen Meers übernommen hat. Noch zu Beginn des Sommers bewegten sich russländische Schiffe relativ frei in diesem Meeresabschnitt, U-Boote liefen ungestört aus, um von See aus Kalibr-Raketen auf die Ukraine abzufeuern. Dies hat sich radikal geändert. Solche Fahrten finden nahezu nicht mehr statt. Vieles spricht dafür, dass Russlands Schwarzmeerflotte sich einen neuen Heimathafen suchen muss, der nicht in der Reichweite der ukrainischen Seedrohnen und der von Kiew eingesetzten Raketen aus britischer und französischer Produktion liegt.

Luftkrieg

Die Ukraine hat in der 82. Kriegswoche die Drohnenattacken auf Ziele in Zentralrussland fast vollständig eingestellt und ihre Angriffe überwiegend auf die Krim konzentriert. Einzelne Attacken gab es durchaus, am 20. September etwa zerstörte eine Drohne einen Treibstofftank bei Soči und am 24. September schlugen zwei der unbemannten Fluggeräte am Tag des Stadtfestes in Kursk in Verwaltungsgebäude ein. Große Angriffswellen wie im August gab es jedoch keine.

Russland hingegen hat nach einer kurzen Pause in der 82. Kriegswoche den Luftkrieg mit hoher Intensität wieder aufgenommen. Jede Nacht attackierte die Armee mit bis zu zwei Dutzend Shahed-Drohnen aus eigener Produktion zivile Ziele in der gesamten Ukraine: Lagerhallen, Industrieanlagen, Kraftwerke und Umspannstationen. Getroffen wurde u.a. ein Lager bei Lemberg, eine petrochemische Fabrik im Gebiet Poltava und ein Hotel im Gebiet Čerkasy, in dem angeblich Soldaten untergebracht waren. Neben Drohnen setzt Russland in manchen Nächten bis zu 20 Marschflugkörper aus der Luft-Boden-Reihe „Ch“ (Ch-22 u.a.) ein. Nahegelegene Ziele wie etwa solche in Charkiv werden mit S-300-Raketen angegriffen. Raketen vom Typ „Kalibr“ hingegen wurden überhaupt nicht eingesetzt und der Marschflugkörper „Iskander“ nur in sehr geringer Zahl. Möglicherweise ist Russland zumindest für den Moment der Nachschub ausgegangen.

Die Ukraine gibt an, rund drei Viertel der angreifenden Drohnen abzufangen. Wie hoch die Quote tatsächlich ist, lässt sich nicht überprüfen, da in den offiziellen Verlautbarungen generell nur noch die Rede davon ist, dass sich unter den herabstürzenden Trümmerteilen abgeschossener Drohnen auch der Sprengkopf befunden habe. Die Schäden sind jedoch beträchtlich. Am 21. September fiel erstmals seit dem Frühjahr nach russländischen Angriffen in über 400 Orten in verschiedenen Regionen der Ukraine der Strom aus.

Eine andere unangenehme Nachricht für die Ukraine ist das Eintreffen einer modernisierten Variante der russländischen Drohne vom Typ „Lancet“ an der Front. In der neuen Version kann diese „lauernde Lenkwaffe“ (loitering weapon) Ziel in einer Entfernung von bis zu 70 Kilometern hinter der Frontlinie treffen. Die Sprengkraft der einsetzbaren Gefechtsköpfe ist eher gering, sie sind jedoch mit den Mitteln der herkömmlichen Luftabwehr nur schwer abzufangen und werden von Russland in großer Zahl eingesetzt, um Jagd auf ukrainische Fahrzeuge und Geschütze im frontnahen Bereich zu machen. Nun können sie auch gegen weiter entfernte Ziele, etwa Flugzeuge, eingesetzt werden. Es stellt sich die Frage, ob mobile Einheiten mit mehrläufigen Flugabwehr-Maschinengewehren diese Angriffswaffe bekämpfen können. Im Winter 2022/2023 hat die Ukraine solche Einheiten mit großem Erfolg eingesetzt, seitdem ist von ihnen praktisch nichts mehr zu hören.

Doch es gibt an dieser Front auch eine gute Nachricht für die Ukraine. China soll zum 1. September die Lieferung von großen Drohnen, Quadrokoptern und Wärmebildkameras sowie der entsprechenden Bauteile nach Russland massiv eingeschränkt haben.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.