Tod durch tausend Nadelstiche
Angriff auf die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine
Mattia Nelles, 2.10.2015
Die ukrainische Staatsführung versuchte im Juli 2025 die zur Eindämmung der Korruption geschaffenen Ämter zu entmachten. Nur Proteste und massiver internationaler Druck brachten den Präsidenten zu einer Umkehr. Doch der Inlandsgeheimdienst und die Generalstaatsanwaltschaft setzen die beiden Behörden weiter unter Druck. Die ukrainische Staatsführung muss das von ihr selbst geschürte Misstrauen abbauen, indem sie sich klar zu den unabhängigen Institutionen bekennt, die gegen Vorteilsnahme, Bestechlichkeit und ähnliche Delikte vorgehen. Andernfalls gefährdet sie nicht nur das Staatsziel EU-Beitritt, sondern setzt die für die Ukraine essentielle westliche Unterstützung aufs Spiel.
Korruption war nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 eines der größten Probleme des jungen Staats. Erst nach der Majdan-Revolution 2014 wurden zwei unabhängige Behörden geschaffen, die es ermöglichen sollten, auch gegen hochrangige Politiker und Beamte wegen Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit sowie gegen Oligarchen wegen Bestechung zu ermitteln. Dies war ein besonderes Anliegen der Revolution der Würde: Niemand, egal wie mächtig oder reich er oder sie sein mag, sollte mehr unantastbar sein und über dem Gesetz stehen. Dies galt in gleichem Maße für Personen aus dem eng mit Russland verbundenen Netzwerk des geflohenen und abgesetzten Ex-Präsidenten Viktor Janukovyč wie für Politiker und Beamte der neuen Regierung.
Ende 2015 nahmen zwei neue Behörden ihre Arbeit auf: das Amt für Korruptionsbekämpfung (Nacional’ne Antykorupcijne Bjuro Ukrajiny, NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (Specializovana antykorupcijna prokuratura, SAPO). Das Besondere an den neuen Institutionen war, dass die Führungsposten in einem aufwendigen und transparenten Auswahlverfahren unter Beteiligung internationaler Experten besetzt wurden, die mit ihren ukrainischen Kollegen sowohl auf die fachliche Eignung der Bewerber als auf deren Integrität achteten. Gleiches galt für die Besetzung des Hohen Gerichts für Korruptionsdelikte (Vyščyj antykorupcijnyj sud Ukrajiny, VAKS), das 2019 gegründet wurde, nachdem in den Vorjahren mehrfach von NABU und SAPO ermittelte Korruptionsfälle vor gewöhnlichen Gerichten versandet waren. Die drei Institutionen galten weithin als „Inseln der Integrität“ in einem Umfeld, in dem nach 2014 zwar einige Reformen angestoßen und umgesetzt wurden, die wesentlichen Strafverfolgungsbehörden – die Nationale Polizei, Generalstaatsanwaltschaft und der Inlandsgeheimdienst SBU – im Großen und Ganzen weiter nach sowjetischem Muster aufgebaut sind und auch die Gerichte weiter von alten Netzwerken durchzogen sind.
Gleichwohl hatte es nach 2014 eine Reihe weiterer wichtiger Reformen zur Eindämmung der Korruption gegeben. Zu den wichtigsten Schritten gehörte die Schaffung von mehreren Transparenzregistern sowie des mehrfach prämierten digitalen Beschaffungsportals ProZorro, das Schätzungen zufolge dem Staat seit 2015 Einsparungen von sechs Milliarden US-Dollar ermöglichte. Zudem wurde ein in Sachen Transparenz und Umfang weltweit einzigartiges Vermögensregister geschaffen. Eine Million Angestellte im öffentlichen Dienst der Ukraine sowie Politiker und hohe Beamten sind jedes Jahr verpflichtet, Auskünfte über Einkommen, Vermögen und Verbindlichkeiten der Familie zu geben. Die Erklärungen sind für alle Bürger offen zugänglich und dienten dem NABU, NGOs und Investigativjournalisten als Grundlage für unzählige Ermittlungen.
Im Jahr 2013 hatte die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf Rang 144 von 175 Ländern gelegen und ist seitdem immerhin auf Rang 122 im Jahr 2021 und Rang 105 im Jahr 2024 aufgestiegen. Teilte sich die Ukraine einst mit Russland den traurigen Ruf des korruptesten Lands in Europa, so liegt sie heute mit anderen EU-Beitrittskandidaten wie Albanien und Serbien im unteren Mittelfeld.
Bemerkenswert ist, dass die Ukrainer heute in ihrem Alltag Korruption weit seltener begegnen als noch vor zehn Jahren. Im September 2025 gaben bei einer von Transparency International Ukraine in Auftrag gegebenen Umfrage 87 Prozent der Befragten an, dass Korruption ein weitverbreitetes Phänomen bleibe. Lediglich 30 Prozent sagten jedoch, dass sie oder Mitglieder ihrer Familien im vergangenen Jahr persönlich mit korrupten Praktiken konfrontiert gewesen seien. Von diesen gaben 23 Prozent an, Bestechungsgeld gezahlt zu haben, während 68 Prozent behaupteten, sich dem verweigert zu haben. Bei Umfragen des Kyiv Institute of International Sociology im Jahr 2015 hatten mehr als zwei Drittel der Befragten angegeben, sie seien mindestens einmal im Jahr damit konfrontiert, dass von ihnen illegale Geldzahlungen verlangt würden.
Das NABU – ein Dorn in den Augen der Mächtigen
NABU und SAPO sind zwei im Vergleich zur Nationalen Polizei, dem Geheimdienst SBU oder der Generalstaatsanwaltschaft kleine, hochspezialisierte Institutionen. Das NABU nahm im Oktober 2015 mit knapp 70 Ermittlern seine Arbeit auf, bis zum Jahr 2023 wuchs der Personalstock bis zu der festgelegten Obergrenze von 700 Personen. Ende 2023 wurde diese Obergrenze auf 1000 Personen erhöht, heute beschäftigt das NABU knapp 800 Personen, von denen 300 Ermittler sind. Bei der SAPO liegt die gesetzliche Obergrenze bei 150 Angestellten, aktuell arbeiten 57 Staatsanwälte für das Amt, von denen jedoch 13 in der Armee dienen.
Anderthalb Jahre nach Aufnahme ihrer Arbeit gingen die beiden Behörden im Jahr 2017 erstmals gegen „große Fische“ vor. Im März 2017 wurde der Leiter der staatlichen Steuerbehörde, Roman Nasirov, der bis 2016 Abgeordneter der Regierungspartei Blok Petro Porošenko gewesen war, wegen Verdachts auf Korruption festgenommen. Damals ging es um die Beteiligung an betrügerischen Erdgasgeschäften des Oligarchen Oleksandr Onyščenko. Seit 2022 beschuldigt das NABU Nasirov auch, vom Eigentümer des Agrarkonzerns Ukrlandfarming, Oleh Bachmatjuk, ein Bestechungsgeld in Höhe von ca. 5,5 Millionen US-Dollar angenommen und dem Unternehmen daraufhin eine Mehrwertsteuerrückerstattung von 13 Millionen US-Dollar ermöglicht zu haben. Zudem wird ihm vorgeworfen, durch ungerechtfertigte Steuerermäßigungen und Stundungsregelungen dem Staat Schäden von über 60 Millionen US-Dollar zugefügt und dafür rund 20 Millionen US-Dollar entgegengenommen zu haben. Im April 2017 nahm das NABU Mykola Martynenko ins Visier, ehemaliger Abgeordneter der Volksfront (Narodnyj Front) und ein enger Vertrauter des ehemaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jacenjuk. Diesem warf sie vor, als Vorsitzender des Energieausschusses der Verchovna Rada u.a. knapp 30 Millionen US-Dollar Bestechungsgeld von dem tschechischen Unternehmen Škoda JS angenommen und diesem im Gegenzug einen Auftrag des staatlichen ukrainischen AKW-Betreibers Enerhoatom verschafft zu haben. Es folgten Ermittlungen gegen mehrere Abgeordnete, Richter sowie ehemalige und amtierende (Vize)Minister.
Dennoch hielten 83 Prozent der befragten Ukrainer in einer Umfrage der Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation vom Januar 2018 den Kampf gegen die Korruption für nicht erfolgreich, 50 Prozent sogar für vollkommen gescheitert. Grund war zweifellos, dass auf die Ermittlung und Anklage häufig keine Verurteilung erfolgte. Erst nach der Schaffung des Hohen Gerichts für Korruptionsdelikte wurden in den seit langem anhängigen Prozessen erste Urteile gefällt. Im Jahr 2022 verurteilte das Gericht beispielsweise 33 Richter, Politiker und andere hochrangige Amtsträger.
Die Ermittler des NABU und des SAPO waren den Mächtigen schnell ein Dorn im Auge. Ende 2017 verhaftete der dem Generalstaatsanwalt unterstellte Inlandsgeheimdienst einen verdeckten Ermittler des NABU, was dieses als Angriff auf seine gesamten verdeckten Ermittlungen wertete. Spätestens seit Ende 2017 kam es zu zahlreichen Versuchen, die beiden Behörden zu entmachten.
NABU und SAPO-Ermittlungen nehmen Fahrt auf
Richtig nahmen die Ermittlungen von NABU und SAPO aber nach Russlands Großangriff an Fahrt auf. Seit Februar 2022 sind nicht nur mehr einfache Personen, sondern vor allem auch hochrangigere Politiker ins Fadenkreuz der Ermittler geraten. Dies hat mit der zunehmenden Erfahrung der beiden Behörden zu tun, aber vor allem mit Neubesetzungen an deren Spitze.
Im Juli 2022 wurde nach langem Ringen der 35-jährige Oleksandr Klymenko, ein ehemaliger hochrangiger NABU-Detektiv, zum Leiter der SAPO ernannt. Zuvor hatte die Regierung seine Berufung in das Amt politisch und juristisch monatelang blockiert. Im März 2023 folgte die Ernennung von Semen Kryvonos zum Direktor der NABU. Beide hatten ein aufwendiges und transparentes Auswahlverfahren durchlaufen.
Während aufgrund des Krieges in vielen Bereichen die Reformen stocken, arbeiten NABU und SAPO mit Hochdruck. In den ersten Jahreshälfte 2024 wurden 323 neue Ermittlungen eröffnet und 64 Fälle vor Gericht gebracht. In 27 Fällen sprach das Hohe Gericht für Korruptionsdelikte die Angeklagten schuldig. In der ersten Jahreshälfte 2025 stieg die Zahl der neuen Fälle auf 370, 154 Verdächtige wurden angeklagt und 62 verurteilt.
Hinter den Zahlen verbergen sich zum Teil hochbrisante Fälle. Zu den Beschuldigten bzw. Angeklagten gehörten im Juli 2025 31 Parlamentsabgeordnete, der ehemalige Chef der Nationalbank Kyrylo Ševčenko (2020–2022), der ehemalige stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Andrii Smyrnov (2019–2024), der amtierende Landwirtschaftsminister Vitalij Koval’, der Chef der Antimonopolbehörde Pavlo Kyrylenko sowie mehrere Richter am Obersten Gericht, inklusive dem Vorsitzenden Vsevolod Knjazev, der auf frischer Tat ertappt wurde, als er knapp drei Millionen US-Dollar Schmiergeld annahm. Auch vor Ermittlungen im sensiblen Bereich Rüstung und Verteidigung schreckten die Ermittler nicht zurück. Nach eigenen Angaben eröffneten sie zwischen 2022 und 2023 mehr als 60 Verfahren in diesem Feld, darunter war der Skandal um den Ankauf von Lebensmitteln für die Armee zu überhöhten Preisen, bei dem ein geschätzter Schaden in Höhe von 730 Millionen UAH (fast 18 Millionen USD) entstand.
Einschüsse kommen näher ans Zentrum der Macht
Anlass für das Vorgehen der Präsidialadministration gegen NABU und SAPO im Sommer 2025 waren jedoch wohl andere Fälle. Bereits 2023 leitete das NABU Ermittlungen gegen Rostyslav Šurma ein, der knapp drei Jahre lang als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung die ukrainische Wirtschaft beaufsichtigt hatte. Trotz der laufenden Ermittlungen hielt Präsident Zelens’kyj monatelang an seinem engen Vertrauten fest, erst Anfang September 2023 entband er ihn von seinem Posten. Mitte Juli 2025 durchsuchte dann überraschend die bayrische Polizei nach einem Rechtshilfeersuchen des NABU ein Anwesen Šurmas am Starnberger See.
Ein weiterer enger Vertrauter Zelens’kyjs, der laut ukrainischen Medienberichten ins Fadenkreuz der Ermittler geriet, ist Timur Mindič, Miteigentümer der Unternehmensgruppe Kvartal 95. Ende Juli 2025 berichtete der Investigativjournalist Mychailo Tkač, NABU und SAPO würden seit geraumer Zeit gegen den langjährigen Freund und Geschäftspartner von Zelens’kyj ermitteln, hörten seine Wohnung ab und stünden kurz davor, die Öffentlichkeit über die Ermittlungen zu informieren.
Besonders aber muss Zelens'kyj die Aufnahme von Ermittlungen gegen Oleksii Černyšov getroffen haben. Der erste stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Einheit ist das hochrangigste amtierende Kabinettsmitglied, gegen das bislang ermittelt wurde. Vor allem aber ist er ein enger Freund der Familie Zelens’kyj sowie der Familie des Chefs der Präsidialadministration Andrii Ermak. Zelens’kyjs Frau Olena Zelens’ka ist die Taufpatin, Andrii Jermak der Taufpate von einem der drei Kinder Černyšovs. Offiziell wurde Černyšov am 23. Juli 2025 mitgeteilt, dass gegen ihn wegen Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme in besonders großem Umfang ermittelt werde. Mit dem Vorgehen gegen Šurma, Mindič und Černyšov scheinen NABU und SAPO aus Sicht des Präsidenten und seines engsten Umfelds „rote Linien“ überschritten zu haben.
Der erste Akt: Offener Angriff auf das NABU
In den frühen Morgenstunden des 21. Juli 2025 führten der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU (Služba bezpeky Ukrajiny) und die staatliche Ermittlungsbehörde DBR (Deržavne bjuro rozsliduvan’) 70 Durchsuchungen bei insgesamt 15 Mitarbeitern des NABU durch. Der Inlandsgeheimdienst SBU ist ein aus sowjetischer Zeit stammender riesiger Apparat, der über weitreichende polizeiliche Befugnisse verfügt und nur schwacher parlamentarischer Kontrolle unterliegt.
Für keine einzige der Durchsuchungen gab es einen richterlichen Beschluss. Laut NABU und folgender ukrainischer Medienberichte wendeten die SBU-Ermittler in drei Fällen exzessive physische Gewalt an, obwohl die Betroffenen keinerlei Widerstand leisteten.
Laut SBU handelte es sich um eine Spezialoperation zur „Neutralisierung des russischen Einflusses“ auf das NABU. Zwei leitenden Ermittlern wurde Hochverrat und die Weitergabe von Informationen mit Auswirkungen auf die nationale Sicherheit vorgeworfen. Parallel teilte die Ermittlungsbehörde DBR mit, sie ermittle gegen drei NABU-Beamte, die Verkehrsunfälle verschuldet hätten. Zwei der drei Fälle gehen in das Jahr 2021 zurück.
Einer der verdächtigten Ermittler ist Viktor Husarov aus der Sonderermittlungsabteilung D-2 des Zentralbüros. Er wurde nach den Durchsuchungen vom Juli festgenommen und steht wegen Hochverrats vor Gericht. Laut SBU soll der russländische Geheimdienst FSB ihn bereits 2012 angeworben haben. Husarov soll über 60 geheime Informationen an Dmytro Ivanov, den stellvertretenden Sicherheitschef des früheren Präsidenten Janukovyčh, weitergegeben haben. Am 22. Juli 2025 ordnete ein Kiewer Gericht Untersuchungshaft ohne die Möglichkeit einer Haftverschonung gegen Hinterlegung einer Kaution an, die Entscheidung wurde in einem Berufungsverfahren bestätigt. Laut SAPO-Chef Oleksandr Klymenko hat der SBU inzwischen Beweise vorgelegt, die NABU und SAPO als ausreichend ansehen.Beide Institutionen betonen, sie seien bereit, interne Ermittlungen durchzuführen und bei bestätigten Verstößen ihrer Mitarbeiter die Aufklärung zu unterstützen.
Der zweite verdächtigte NABU-Ermittler ist Ruslan Mahamedrasulov, Leiter der überregionalen Abteilung der Behörde und einer ihrer wichtigsten Ermittler. Mahamedrasulov koordiniert u.a. die Arbeit in den frontnahen Gebieten und leitete die Ermittlungen gegen den Zelens’kyj-Vertrauten Mindič. Mahamedrasulov selbst warnte in einem Interview, das er nach seiner Verhaftung geben konnte, dass der SBU möglicherweise durch sein Vorgehen an viele Informationen über laufende Ermittlungen und Quellen gelangen könnte. Er drückte zudem die Sorge aus, dass Informanten in Gefahr seien. Die gegen Mahamedrasulov erhobenen Vorwürfe sind schwerwiegend. Ihm wird u.a. vorgeworfen, er habe seinen Vater beim illegalen Handel mit Nutzhanf nach Russland unterstützt, Kontakte zu Moskauer Geheimdiensten sowie zu dem flüchtigen Abgeordneten der verbotenen Partei Opozycijna platforma (OP) gehabt. Der SBU hat jedoch bislang keine überzeugenden Beweise für die Anschuldigung veröffentlicht.
Der zweite Akt: Entmachtung von SAPO und NABU
Nur wenige Stunden nach den Razzien des SBU kam es in der Verchovna Rada zu äußerst ungewöhnlichen Vorgängen. An einem einzigen Tag verabschiedete das Parlament weitreichende Gesetzesänderungen, mit denen NABU und SAPO der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt und damit ihrer Unabhängigkeit beraubt wurden.
Am Morgen des 22.7.2025 beschloss der Ausschuss für Strafverfolgung eine von Maksym Bužans’kyj von der Fraktion Diener des Volkes eingebrachte weiterreichende Änderung des ukrainischen Strafrechts. An einen bereits in erster Lesung verabschiedeten Gesetzestext (Nr. 12414) zu vermissten Personen wurden seitenlange, nach Experteneinschätzung über Wochen professionell vorbereitete Änderungen angehängt, die im Wesentlichen die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft und des Generalstaatsanwalts enorm ausweiteten und die SAPO diesem unterordneten. Der Ausschussvorsitzende sowie zahlreiche Ausschussmitglieder waren nicht zugegen und die Änderung hatte nicht in dieser Form auf der Tagesordnung des Ausschusses gestanden. Man darf auch davon ausgehen, dass Bužans’kyj nur ein Strohmann war, der den von Personen mit mehr Ressourcen und juristischem Fachwissen verfassten Änderungen in den Ausschuss trug.
Nur wenige Stunden nach dem Beschluss des Ausschusses wurde das in der Substanz vollkommen neue Gesetz in Verletzung etlicher prozeduraler Regeln ins Plenum eingebracht. Das Parlamentspräsidium beorderte die Abgeordneten aller Parteien in den Sitzungssaal, ohne dass ihnen eine korrekte Tagesordnung vorgelegt wurde. Mehrere Abgeordnete, darunter auch solche der Präsidentenpartei Diener des Volks (Sluha Narodu), teilten ukrainischen Medien mit, dass an diesem Dienstag ursprünglich über einen dringenden Appell an den amerikanischen Kongress abgestimmt werden sollte, in dem dieser um Unterstützung gebeten wird.
Erst während der Sitzung wurde klar, dass es um die Unabhängigkeit von NABU und SAPO gehen sollte. Eine Gruppe von Abgeordneten der Oppositionsparteien Holos und Evropejska Solidarnist’ versuchte zwar, eine Abstimmung zu verhindern. Doch bei vielen Abgeordneten sind NABU und SAPO äußerst unbeliebt. Am Ende der kurzen Aussprache im Plenum hielt die frühere Ministerpräsidentin Julija Tymošenko eine Rede, in der sie gegen internationale Experten, Beratungsgremien und Aufsichtsräte wetterte. Diese würden die Souveränität der Ukraine untergraben. Die Gesetzesvorlage bezeichnete sie als „Beginn der Dekolonisierung der Ukraine“ und erklärte: „Heute ist ein lichter Tag dieses Parlaments, erstmals kann ich mich davon überzeugen, dass die Kolonisierung der Ukraine nicht das Allheilmittel für all unsere Probleme ist.“ Nach Tymošenkos Rede war lautes Jubeln in der Rada zu vernehmen.
Bei der Abstimmung am frühen Nachmittag votierten 263 Abgeordnete für die Gesetzesänderung, die die nach 2014 geschaffenen Institutionen der Korruptionsbekämpfung ihrer Unabhängigkeit beraubte und sie der politisch kontrollierten Generalstaatsanwaltschaft unterstellte. An deren Spitze hatte Zelens’kyj vier Wochen zuvor mit dem 35-jährigen Ruslan Kravčenko einen Mann berufen, der als loyaler Gefolgsmann gilt. Kravčenko hatte sich in den Jahren 2019–2020 auf die Leitung der SAPO und 2023 auf die Leitung des NABU beworben – ohne Erfolg. Im Auswahlverfahren für den NABU-Direktor wurde er nicht berücksichtigt, weil er die Integritätsprüfung nicht bestand – die Kommission äußerte Zweifel an der Plausibilität seiner Einkünfte und Ausgaben sowie an einzelnen persönlichen Verbindungen.
Der Vorsitzende der Verchovna Rada Ruslan Stefančuk unterschrieb das Gesetz umgehend und übersandte es dem Präsidenten zur Unterschrift. Nur wenige Stunden später formierten sich erste Proteste in der Hauptstadt. Vor dem nahe dem Regierungsviertel mit Blick auf den Präsidentenpalast gelegenen Ivano-Franko-Theater forderten knapp viertausend Menschen den Präsidenten auf, das Gesetz nicht zu unterschreiben.
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, EU-Ratspräsident António Costa sowie die Botschafter der G7-Staaten versuchten, Zelens’kyj von dem letzten Schritt abzuhalten. Doch dieser unterzeichnete das Gesetz noch am selben Abend und löste die größte innenpolitische Krise in der Ukraine seit 2019 aus.
Proteste, internationaler Druck und ein Rückzieher
Nach der Unterzeichnung des Gesetzes kam es zu einem Sturm der Entrüstung. Doch das Team des sonst so geschulten Kommunikators Zelens’kyj hatte keine Krisenkommunikation vorbereitet. Der Präsident und seine Entourage schwiegen einfach. Erst spät in der Nacht sendete der Präsident seine seit Russlands Überfall allabendlich gehaltene Ansprache. Die Proteste erwähnte er nicht und sagte lediglich, die Antikorruptionsbehörden würden fortan ohne russischen Einfluss arbeiten. Während oppositionelle Internetmedien sich empörten und internationale Medien dem Geschehen große Aufmerksamkeit widmeten, berichteten die seit Kriegsbeginn unter staatlicher Lenkung im sogenannten „Telemarathon“ zusammengeschlossenen Fernsehsender nicht über die Proteste.
Am Tag nach der Unterzeichnung protestierten rund 10 000 überwiegend jüngere Menschen in Kiew. Auch in mehreren anderen Städten von L’viv bis Dnipro versammelten sich Demonstranten und forderten eine Rücknahme des Gesetzes. Ebenso wie zahlreiche Beobachter zeigten sich die Protestierenden überzeugt, dass die Ukraine dabei ist, den Weg in die Europäische Union zu verlassen. Und tatsächlich gingen immer mehr Anrufe wichtiger internationaler Partner der Ukraine bei Zelens’kyj und seiner Regierung ein, die unisono eine Kurskorrektur forderten. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach nach einem Telefonat mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten für Fragen der europäischen und euroatlantischen Integration Taras Kačka öffentlich von „einem ernsten Rückschritt“ im EU-Beitrittsprozess. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul erklärte, die Einschränkung der Unabhängigkeit der ukrainischen Antikorruptionsbehörde erschwere den Weg der Ukraine in die EU. Er erwarte, dass die Ukraine ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption entschlossen fortsetze. Die Europäische Kommission zeigte sich nach den Worten ihres Sprechers Guillaume Mercier tief besorgt über die Verabschiedung eines Gesetzes, das NABU und SAPO ihrer Kompetenzen beraube, und forderte von Kiew eine Erklärung auf höchster Ebene.
Der Druck der Straße und von Seiten internationaler Partner wurde so groß, dass der Präsident am 24. Juli – keine 48 Stunden nach der Unterzeichnung des Gesetzes – einen neuen Gesetzesentwurf ankündigte. Ohne einen Fehler einzuräumen, erklärte Zelens’kyj, er habe einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt, der sicherstellen solle, dass die Unabhängigkeit und Wirksamkeit der Antikorruptionsbehörden gewährleistet bleibe.
Dieser Entwurf (Nr. 13533) wurde in kürzester Zeit ausgearbeitet und am 31.7.2025 mit den Stimmen von 331 Abgeordneten verabschiedet. Nach Einschätzung zahlreicher Nichtregierungsorganisationen sowie der beiden betroffenen Behörden selbst stellt das neue Gesetz die Unabhängigkeit der Behörden wieder her. Eine Ausweitung der Proteste und des internationalen Drucks in der schwierigen Kriegsphase war damit abgewendet.
Der Vorgang hat jedoch dem Ruf Zelens’kyjs geschadet und auch die erst kurz zuvor von ihm ernannte neue Regierung von Ministerpräsidentin Julija Svyrydenko sowie das Parlament beschädigt. Zelens’kyj hatte offenbar darauf gesetzt, dass die internationalen Partner wegschauen und die ukrainische Gesellschaft sich mit dem Argument abspeisen lasse, das Gesetz richte sich gegen russischen Einfluss.
Dass der Präsident einer so gravierenden Fehleinschätzung unterlag, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Internationale Währungsfonds und die EU angesichts des Kriegs die Einhaltung von Bedingungen für die Unterstützung nicht allzu streng überwachten. Als die Regierung sich etwa kurz vor der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz im Juni 2025 weigerte, den von einer Auswahlkommission gekürten Leiter des neuen Amts für Wirtschaftssicherheit (Bjuro ėkonomične bezpeky Ukrajiny, ESBU) zu ernennen, blieb öffentliche Kritik aus den EU-Staaten aus. Auch als die Behörden Anklage gegen Vitalij Šabunin, den wohl bekanntesten Aktivisten im Bereich Korruptionsbekämpfung, wegen angeblicher Fahnenflucht erhoben, gab es kaum nennenswerte Reaktionen westlicher Partner.
Dieses Schweigen hatte die politische Führung in Kiew zu der falschen Einschätzung gebracht, dass auch die Reaktion auf die Entmachtung der beiden unabhängigen Behörden schwach ausfallen würde. Doch nun hatte sich Zelens’kyj verkalkuliert und damit auch den satten Vertrauensvorschuss verspielt, den er international genoss. Ein Vorgehen nach dem Prinzip „Geld jetzt, Reformen später“ wird nun nicht mehr so einfach sein.
Kurz nach der Rücknahme des umstrittenen Gesetzes ernannte die Regierung am 6. August nach über einem Monat des Hinauszögerns Oleksandr Cyvins’kyj, der als Gewinner aus dem Auswahlverfahren hervorgegangen war, zum Leiter des Amts für Wirtschaftssicherheit. Dies ist eine Schlüsselbehörde für eine transparente Verfolgung von Wirtschaftsverbrechen und damit ein zentraler Bestandteil des Wiederaufbaus der Ukraine. Zudem wurde am 1. August das seit November 2021 blockierte Auswahlverfahren für die Leitung des Zollamtes wiederaufgenommen – einer Behörde, die großen Einfluss auf die staatlichen Einnahmen hat, die in den Haushalt fließen.
Fortsetzung des Machtkampfs mit anderen Mitteln
Bei einem gemeinsamen Auftritt am 8. August 2025 warnten die Leiter von NABU und SAPO vor weiteren Angriffen auf ihre Behörden. Beide gaben an, konkrete Informationen zu haben, dass sie ihres Postens enthoben werden sollen. Auch in den folgenden Wochen machten beide Behördenleiter deutlich, dass der Druck auf sie und ihre Ämter nach wie vor hoch ist. Oleksandr Klymenko, Leiter der SAPO, erklärte am 13. September 2025 in einem Interview: „Man darf nicht außer Acht lassen, dass dies [die vorübergehende Entmachtung der beiden Behörden] unsere Arbeit erheblich verlangsamt hat. Die Folgen sind ziemlich gravierend. Und wir werden weiter daran gehindert, unsere Arbeit effektiv zu erledigen.“ Anfang September 2025 erklärte die Vorsitzende des Hohen Gerichts für Korruptionsdelikte Vira Mychajlenko öffentlich, dass auch auf ihre Institution Druck ausgeübt werde. Das Gericht werde diskreditiert, seine Unabhängigkeit sei bedroht. Der Druck gehe sowohl von staatlichen Strukturen als auch von bestimmten Gruppen aus.
Ein zentrales Druckmittel ist das Vorgehen gegen die Ende Juli verhafteten NABU-Ermittler. In einer Analyse der Anklagepunkte und der bislang vorgelegten Beweise gegen Mahamedrasulov und seinen Vater bezeichnet Olena Šerban, Vorstandsmitglied der wichtigen NGO Anti-Corruption Action Centre (Antac), die Anklage als „fabriziert“. Šerban gehört zu einer Gruppe von Rechtsanwälten, die Mahamedrasulov verteidigen. Hauptziel sei es, so Šerban, Ermittlungen gegen Zelens’kyj-Vertraute zu unterbinden. Zu den vom SBU präsentierten Indizien gehört ein veröffentlichtes Telefonat, in dem der Beschuldigte von Geschäften mit Unternehmen in Dagestan gesprochen haben soll. Der Zeuge, mit dem sich der NABU-Ermittler in dem abgehörten Gespräch unterhielt, hat erklärt, dass es in dem Gespräch nicht um Handel mit Dagestan, sondern mit Usbekistan gegangen sei. Auch habe der SBU ihm Drohungen zukommen lassen. Beides bestätigte auch der Sohn des Zeugen.
Seit Mitte September wirft der Generalstaatsanwalt Ruslan Kravčenko dem NABU-Ermittler Mahamedrasulov weitere Straftatbestände vor: „Missbrauch von Einfluss“ nach Paragraph 369.2 des ukrainischen Strafgesetzbuchs („Trading in influence“ nach Art. 18 der UN-Konvention gegen Korruption). Nach Auswertung seines Mobiltelefons behaupten die Ermittler, er habe versucht, seine Kontakte und Position im NABU zu nutzen, um Vorteile für sich oder Dritte zu erlangen. Die Verteidigung bezeichnet die Vorwürfe als fingiert. Tatsächlich taugen die Screenshots von Chatverläufen auf Mahamedrasulovs Mobiltelefon, auf die die Anklage sich stützt, kaum als Beweis.
Seit dem 10. September 2025 ist mit Vitalij Tebekin ein dritter NABU-Ermittler angeklagt. Dem stellvertretenden Leiter einer NABU-Abteilung wird vorgeworfen, er soll eine falsche Vermögensdeklaration abgegeben haben. Laut SBU soll er 2023 eine Zweizimmerwohnung in Užhorod für etwa 100 000 USD gekauft, diese unter einem falschen Namen registriert und nicht in der Erklärung angegeben haben. Tebekin wurde beurlaubt und gegen eine Kaution von fast drei Millionen UAH aus der Untersuchungshaft entlassen. Das NABU kündigte eine interne Überprüfung an, gab aber bekannt, dass Tebekins Vermögenserklärung im Jahr 2024 geprüft worden sei und keine Verstöße festgestellt wurden.
Trotz dieser Einschüchterungsversuche setzten NABU und SAPO ihre Ermittlungen auch im hochsensiblen Bereich der Rüstungsindustrie fort. Wenige Tage nach der Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit deckten die Behörden einen Korruptionsskandal bei der Beschaffung von Drohnen auf. Ende August wurde zudem bekannt, dass die Ermittler den Rüstungsproduzenten Fire Point unter die Lupe genommen haben. Das Unternehmen stellt die erste ukrainische Langstreckenrakete Flamingo her und ist einer der Empfänger staatlicher Auftragsfinanzierung, auch von Seiten Deutschlands. Bei den NABU-Ermittlungen geht es um mutmaßlich überhöhte Preise sowie Unklarheiten bei Liefermengen in großen Verträgen mit dem Verteidigungsministerium.
Einem Test auf ihre Durchsetzungsfähigkeit unterzogen sich NABU und SAPO vier Wochen nach dem Entmachtungsversuch. Anfang September gaben sie bekannt, dass sie gegen Il’ja Vitjuk, einen hochrangigen Mitarbeiter des SBU, wegen des Verdachts auf illegale Bereicherung und falsche Vermögenserklärung ermitteln. Bereits Ende 2023 hatte Radio Svoboda berichtet, Vitjuk, damals Leiter der Cyber-Sicherheitsabteilung des SBU, lebe in einer luxuriösen Wohnung in Kiew, die offiziell auf seine Ehefrau eingetragen war. Im Mai 2024 war der im Rang eines General stehende Vitjuk seines Amtes enthoben worden. Auf die Mitteilung der beiden Behörden reagierte der SBU empört: Es handele sich um einen Racheakt, nachdem der SBU „effektiv gegen russischen Einfluss auf Staatsbehörden vorgegangen ist und Straftaten mehrerer Mitarbeiter des Amts [NABU] aufgedeckt hat“.
Am 25. September leitete der SBU erneut zahlreiche Durchsuchungen ein. Betroffen waren nun ehemalige NABU-Ermittler, die beim staatlichen Eisenbahnunternehmen Ukrzaliznycja arbeiten. Einer von ihnen ist der Bruder der Anwältin Šerban, die den NABU-Ermittler Mahamedrasulov verteidigt. Nach Angaben des SBU seien die Durchsuchungen per Gerichtsbeschluss genehmigt. Ziel sei es, gegen Missbrauch in der Güterverkehrsparte von Ukrzaliznycja vorzugehen. Das NABU sprach davon, es werde systematisch Druck ausgeübt, um sie gefügig zu machen, der SBU bestritt, dass die Durchsuchungen in einem politischen Zusammenhang stünden.
Doch es gibt weitere Hinweise darauf, dass die NABU-Beamten eingeschüchtert werden sollen. So ordnete etwa im Verfahren gegen Mahamedrasulov ein Gericht an, dass sich dessen 65-jähriger Vater, der ebenfalls angeklagt ist, vor einer Verhandlung einer – normalerweise nicht üblichen – intensiven Leibesvisitation unterziehen musste. Die Familie des Betroffenen sieht darin ein gezielte Demütigung, mit der psychischer Druck ausgeübt werden solle.
Mahamedrasulovs Anwältin Šerban berichtet, dass sie mit der Verbreitung falscher Behauptungen diskreditiert werden solle und ihr damit gedroht worden sei, dass sie ihre Lizenz als Rechtsanwältin verlieren könne. Auch beklagen Mahamedrasulovs Anwälte, sie erhielten keinen oder nur stark eingeschränkten Zugang zu ihrem Mandanten.
Auch das überdimensionierte Aufgebot der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen Mahamedrasulov und seinen Vater lässt sich kaum anders deuten denn als Hinweis auf die große politische Bedeutung des Falls: Alleine die Anklageschrift gegen den NABU-Ermittler wird von 42 Staatsanwälten unterstützt, darunter Generalstaatsanwalt Kravčenko. Das Anti-Corruption Action Centre bezeichnet Mahamedrasulov mittlerweile als „Geisel“ und begründet dies mit dem Vorgehen der Staatsanwaltschaft und der involvierten Gerichte, die Mahamedrasulov über Wochen das Recht auf Einspruch gegen die angeordnete Untersuchungshaft verwehrten. Mehrfach vertagte das Berufungsgericht im Kiewer Stadtbezirk Pečers’k die Sitzung, um dann am 23. September den Antrag der Verteidigung auf Umwandlung der Untersuchungshaft in nächtlichen Hausarrest zurückzuweisen.
Von all diesen Vorgängen geht eine deutliches Signal aus: Staatsanwälte und Ermittler, die hochrangige Korruptionsfälle bearbeiten, sollen eingeschüchtert werden. Ihre Gewissheit, vor Druck, Gewalt und staatlichen Maßnahmen geschützt zu sein, soll erschüttert werden. Eine ähnliche Wirkung ist auch bei Informanten und Whistleblowern zu erwarten, die sich den beiden Behörden anvertraut und sie mit sensiblen Informationen versorgt haben.
Schleichende Entmachtung mit neuen Gesetzen
Zudem gibt es erneut Versuche, den Handlungsspielraum von NABU und SAPO mit Gesetzesänderungen einzuschränken. In der Verchovna Rada liegen mehrere Gesetzesentwürfe, die die Unabhängigkeit der beiden Behörden bedrohen. Das Vorgehen ist nicht mehr so grobschlächtig wie beim ersten Versuch. Nun sollen die Kompetenzen der beiden Behörden in wichtigen Bereichen beschnitten werden. Drei Gesetzesentwürfe verdeutlichen dies: Entwurf Nr. 13423 soll vom Verteidigungsministerium ausgewählten Rüstungsunternehmen rückwirkend Immunität verschaffen. Auch soll der Einfluss der Generalstaatsanwaltschaft auf Verfahren ausgeweitet und im Gegenzug die Unabhängigkeit von Ermittlern und Staatsanwälten geschwächt werden – auch in Fällen, die eigentlich in die Zuständigkeit von NABU, SAPO und des Obersten Antikorruptionsgerichts fallen.
Entwurf Nr. 11228-1 soll Geheimdienstmitarbeiter oder von ihnen bestimmte Personen bei eigens definierten „Sonderaufgaben“ praktisch straflos stellen, was ernsthafte Ermittlungen der NABU gegen sie unmöglich machen könnte. Entwurf Nr. 12439 soll „die Wirtschaft schützen“ und würde Handlungen für rechtmäßig erklären, sofern sie den „Erläuterungen“ von Regulierungsbehörden entsprechen. Würde dieser Entwurf gebilligt, könnten also administrative Auslegungen an die Stelle von Gerichtsentscheidungen treten, die auf Gesetzen fußen. Transparency International Ukraine bemängelt auch, dass Eildurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss in Korruptionsfällen – etwa bei Bestechung oder Einflussnahme – mit dieser Gesetzesvorlage erschwert werden sollen.
Zudem wurde in der Verchovna Rada am 19. Juni 2025 auf Beschluss von 257 Abgeordneten ein temporärer Untersuchungsausschuss zur Aufklärung möglicher Korruption in den Sicherheits- und Justizbehörden geschaffen. Zum Vorsitzenden wurde Serhij Vlasenko von Julija Tymošenkos Partei Batkyvščyna (Vaterland) gewählt, zum Stellvertreter Maksym Bužans’kyj, also jener Abgeordnete aus der Fraktion der Präsidentenpartei Diener des Volkes, der das Gesetz eingebracht hatte, das nach dem Sturm der Entrüstung zurückgenommen wurde. Beide haben sich immer wieder mit scharfer Kritik an NABU und SAPO hervorgetan. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kommission nicht geschaffen wurde, um neutrale Untersuchungen zu ermöglichen, sondern ein politisches Werkzeug ist, mit dem Druck auf NABU, SAPO und andere unabhängige Institutionen ausgeübt werden soll.
Verleumdung
Schließlich werden in großem Stil falsche Informationen über die beiden Behörden in Umlauf gebracht, die das Vertrauen in deren Integrität untergraben sollen. NABU-Direktor Semen Kryvonos sprach im Juli 2025 von einer „Schmutzkampagne“, die vor allem über anonyme Telegram-Kanäle geführt werde, um die Arbeit der Behörde zu diskreditieren. Ermittlern wird unterstellt, sie seien „pro-russisch“ oder selbst in Korruptionsfälle verstrickt.
Die Desinformationsbemühungen zeigen laut Umfragen erste Wirkung. Laut einer Online-Umfrage des Instituts Info Sapiens, in Auftrag gegeben vom öffentlichen Fernsehsender Suspilne vom 9.–10. September, sehen 26 Prozent der Ukrainer darin lediglich einen „Kampf der Sicherheitsorgane um Einfluss“. Zugleich vertrauen 39 Prozent weder SBU noch NABU oder SAPO, während 16 Prozent eher dem SBU und nur 12 Prozent den Antikorruptionsbehörden Vertrauen schenken.
Ausblick
Konsequentes Vorgehen gegen Korruption ist eine zentrale Voraussetzung für einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Russlands Krieg gegen die Ukraine kann kein Vorwand sein, die Eindämmung der Korruption hintanzustellen. Die Angriffe auf NABU und SAPO im Sommer 2025 haben allerdings gezeigt, wie verwundbar die Institutionen der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine sind. Nur Proteste und vor allem internationaler Druck verhinderten eine Entmachtung der beiden Behörden. Das Vertrauen in die politische Führung hat jedoch erheblichen Schaden genommen – sowohl in der Ukraine als auch bei ihren internationalen Partnern.
NABU und SAPO werden weiter unter Druck gesetzt, insbesondere durch den SBU und die Generalstaatsanwaltschaft. Auch von den Parteien, die im Parlament für das Entmachtungsgesetz gestimmt hatten, geht weiter Gefahr für die unabhängige Arbeit der Behörden aus. Es handelt sich keineswegs lediglich um einen Machtkampf zwischen nachgeordneten Behörden. Für die Angriffe, die die Präsidentenpartei Diener des Volks aus dem Parlament führt, sowie für jene, die von Zelens’kyj direkt unterstellten und loyalen Behördenleitern ausgehen, tragen der Präsident und sein Umfeld die direkte politische Verantwortung. Es ist davon auszugehen, dass es in den kommenden Wochen und Monaten zu weiteren Angriffen der Generalstaatsanwaltschaft und des SBU gegen NABU und SAPO kommen wird.
Um die Unabhängigkeit von NABU und SAPO zu sichern, braucht es klare Schutzmechanismen. Nur auf diese Weise können Rückschritte verhindert und die Autonomie der beiden Behörden gestärkt werden. Um selbständiger arbeiten zu können, benötigen die beiden Ämter eine eigenständige forensische Expertise sowie die technischen Möglichkeiten, um Verdächtige nach einer richterlichen Anordnung abhören zu können. Bislang müssen die Ermittler auf den SBU zurückgreifen, was diese nach Angaben des NABU wegen des mangelnden Vertrauens in den SBU nur äußerst selten tun.
Auch sollten die Befugnisse der SAPO-Leitung insbesondere bei Verfahren gegen Abgeordnete erweitert werden. Bislang muss der Generalstaatsanwalt im Falle eines Verdachts die Ermittlungen genehmigen. Ob der seit Juli amtierende Generalstaatsanwalt Kravčenko Ermittlungen gegen Abgeordnete zulassen wird, ist offen.Weitere konkrete Empfehlungen zur Stärkung von NABU und SAPO liegen vor, nicht zuletzt aus den unabhängigen Audits.
Die Bekämpfung von Korruption auf höchster Ebene in der Ukraine wird immer wieder in Frage gestellt werden, wenn die dafür zuständigen Ämter die mächtigsten Behörden des Landes gegen sich haben. Daher steht der Ukraine eine Herkulesaufgabe bevor: SBU und Generalstaatsanwaltschaft müssen reformiert und depolitisiert werden. Ein Umbau der Generalstaatsanwaltschaft wurde nach 2014 angestoßen, aber nie umfassend umgesetzt. Nun steht die Reform, zu der auch ein neues Verfahren bei der Ernennung des Generalstaatsanwalts gehört, auf der Agenda der Reformen für einen Beitritt zur EU.
Besonders brisant ist die Einhegung des Inlandsgeheimdiensts. Bislang herrschte sowohl in der Ukraine als auch unter den internationalen Partnern die Ansicht vor, eine Beschränkung der Macht dieses Diensts während des Kriegs sei nicht möglich und nicht sinnvoll. Dies stellt sich nach dem Vorgehen gegen die Behörden der Korruptionsbekämpfung etwas anders dar. Die EU sollte im Zuge der Vorbereitungen der Ukraine auf einen Beitritt als Teil des Clusters für Rechtsstaatlichkeit erste Reformschritte, sogenannte Interim Benchmarks, auch in Bezug auf den SBU einfordern. Insbesondere sollte diesem die Zuständigkeit für Wirtschaftskriminalität und Korruption endgültig entzogen werden.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die internationalen Partner der Ukraine das weitere Geschehen um die beiden Behörden genau beobachten. Versteckte Versuche zur Beschneidung der Kompetenzen müssen rasch als solche erkannt werden. Anschließend bedarf es einer sofortigen Intervention auf höchster politischer Ebene. Die EU-Spitze und wichtige Verbündete sollten Zelens’kyj und seiner Regierung unmissverständlich klarmachen, dass jeder weitere Versuch, die Korruptionsbekämpfung zu behindern, Folgen für die Bemühungen um einen EU-Beitritt hat. Für die Ukraine geht es sogar um noch mehr: Der Bedarf an externer Finanzierung beträgt alleine bis 2029 65 Milliarden US-Dollar. Die ukrainische Staatsführung muss das von ihr selbst geschürte Misstrauen abbauen, indem sie sich klar zu den unabhängigen Institutionen bekennt, die gegen Vorteilsnahme, Bestechlichkeit und ähnliche Delikte vorgehen.
Mattia Nelles (1989), M.A., Mitbegründer des Deutsch-Ukrainischen Büros (DUB), das Akteure aus der deutschen und der ukrainischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik berät, Düsseldorf