Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens'kyj braucht Europa mehr denn je. Quelle: X Zelens'kyj
Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens'kyj braucht Europa mehr denn je. Quelle: X Zelens'kyj

Trumps neue Allianz gegen Kiew und seine Verbündeten

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 153. und 154. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 28.2.2025

Die internationale Lage rund um den Ukraine-Krieg hat sich vor einer guten Woche durch mehrere Zäsuren völlig verändert. Trump hat nun offenbar die Idee eines neuen trilateralen Bündnisses – vor allem will er wohl Geld sparen. Die Ukraine und ihre Partner versuchen unter den gegebenen Umständen die besten Bedingungen auszuhandeln. Es ist davon auszugehen, dass die Ausrüstung der Ukraine bis zum Sommer ausreicht, wenn sie mit der gleichen Intensität weiterkämpft. Doch was kommt danach? Warum ist die Situation so gefährlich? Was bedeutet ein Ausscheiden der USA als verlässlicher Unterstützer für die Ukraine? Kiew ist vor allem bei fünf Dingen von den USA abhängig. Europa und die anderen Verbündeten könnten die Lücke nur bedingt schließen. Aussichtslos ist das Unterfangen aber nicht, denn einiges ist bereits passiert.

Allgemeine politische Lage

Die Verhandlungen zwischen den USA, Russland, der Ukraine und der EU nehmen im Grunde jeden Tag eine andere Wendung. Klar scheint, dass US-Präsident Donald Trump Russlands Präsident Vladimir Putin eindeutig gegenüber Volodymyr Zelens’kyj bevorzugt. De facto steht die Ukraine nun zusammen mit dem Großteil der EU-Mitgliedstaaten, dem Vereinigten Königreich, Kanada und der Türkei gegen eine neue Allianz zwischen den USA und Russland. Eine gewisse Schattenrolle dürfte noch China zukommen.

Die internationale Lage rund um den Ukraine-Krieg hat sich vor einer guten Woche durch mehrere Zäsuren völlig verändert. Durch die Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Konferenz am 17. Februar. Durch die erfolgreiche erste Phase der Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland am 18. Februar, einschließlich der später bekannt gewordenen Details über die geplante amerikanisch-russländische Zusammenarbeit bei der Gewinnung fossiler Brennstoffe in der Arktis. Durch die scharfe Kritik Trumps an Zelens’kyj am 19. Februar. Durch das Bekanntwerden von Trumps Absicht, ein großangelegtes Abkommen mit China abzuschließen, das darauf abzielt, große Investitionen aus diesem Land anzuziehen.

Trump hat nun offenbar die Idee eines neuen trilateralen Bündnisses zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China, um die gegenseitige wirtschaftliche Zusammenarbeit zu intensivieren und die in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewachsene militärische Konfrontation aufzugeben. Er scheint auch die Verteidigungskooperation der Blöcke schwächen zu wollen, einschließlich der amerikanisch-europäischen. Es ist wohl kein Zufall, dass die US-Medien am 20. Februar über die Absicht des Pentagons berichteten, seinen Haushalt in den kommenden Jahren um 40 Prozent zu kürzen.

Die Ukraine und ihre Partner versuchen unter den gegebenen Umständen immerhin die besten Bedingungen auszuhandeln. Bislang führen die USA die Waffenlieferungen weiter. Es ist davon auszugehen, dass die Ausrüstung der Ukraine somit mindestens bis zum Sommer ausreicht, wenn sie mit der gleichen Intensität weiterkämpft. Die USA versprechen zudem, die Ukraine finanziell und möglicherweise auch bei der Verteidigung weiter zu unterstützen, wenn ein formelles Abkommen geschlossen wird. Um dieses Abkommen mit Trump zu schließen, reist Zelens’kyj am 28. Februar nach Washington.

Warum ist die Situation so gefährlich? Was bedeutet ein Ausscheiden der USA als verlässlicher Unterstützer für die Ukraine? Klar ist zunächst, dass die Ukraine dringend auf die Lieferung von Raketen für die bestehenden Patriot-Systeme angewiesen ist, die Raketen des Feindes abfangen sollen. Auf einer Pressekonferenz am 19. Februar sagte Zelens’kyj: „Wenn mich der Kommandeur um 3.00, 4.00, 5.00 Uhr morgens anruft und sagt: Wir sind in der Nähe dieser Stadt. Ich will jetzt nicht sagen, welche Stadt es ist, aber wir haben keine Raketen für Patriot-Systeme. Das war's, wir sind am Ende, das ist mir klar…“ Der zweite wichtige Posten ist Munition. Dazu gehören Großkaliber- und Streugeschosse, Panzerabwehrwaffen und Antipersonenminen sowie Kleinwaffenmunition. Einige dieser Waffentypen werden in der EU nicht hergestellt oder sie sind für den Export verboten. Drittens ist die Ukraine auf nachrichtendienstliche Informationen verschiedener Art angewiesen, vor allem Daten von Satelliten, elektronische Aufklärung und Überwachungsdrohnen mit großer Reichweite und Flugzeit. Der vierte Punkt ist die Elektronik: verschiedene Systeme zur elektronischen Steuerung von Truppen, Flugplatzdienste, Radare, Kommunikationsstationen, Artillerie- und Raketenleitsysteme. Der fünfte Bereich schließlich ist inzwischen weniger wichtig: Kampfausrüstung und Fahrzeuge. Dabei sind Schützenpanzer und gepanzerte Lkw von besonderer Bedeutung. Im Allgemeinen hat diese Ausrüstung allerdings immer weniger Bedeutung an der Front. Benötigt wird sie vor allem für Offensiven, die in naher Zukunft nicht geplant sind.

Darüber hinaus spielt die amerikanische Finanzhilfe eine entscheidende Rolle. Sie ermöglicht es etwa, den Militärangehörigen für ukrainische Verhältnisse hohe Gehälter zu zahlen, den Staatsapparat zu finanzieren, zusätzliche Zahlungen an Staatsbedienstete zu leisten, Verwundete zu behandeln.

Ohne all dies wird es für die Ukraine schwierig, aber nicht unmöglich sein, zu kämpfen. Erstens ist es denkbar, dass ein erheblicher Teil der Finanzierung auf die EU verlagert wird – auch durch die Verwendung der eingefrorenen russländischen Guthaben. Die Waffen (vor allem Raketen und Munition) und Verteidigungsdienste (Nachrichtendienste, Ersatzteile, Wartung) könnten mit EU-Geld gekauft werden. Die EU hat Zelens’kyj bereits ein umfangreiches zusätzliches Hilfspaket für die Verteidigung des Landes versprochen. Die EU und das Vereinigte Königreich dürften aber kaum in der Lage sein, die Waffen- und Geldlieferungen an die Ukraine (vor allem kurzfristig) grundlegend zu erhöhen, obwohl bereits Pläne diskutiert wurden, europäische Truppen in das Land zu entsenden. Es ging um ein relativ kleines Kontingents (bis zu 30 000 Mann), das im Falle eines Friedens weit weg von der Kontaktlinie stehen könnte. Die Ausweitung der Rüstungsproduktion der EU-Länder und der anderen westlichen Verbündeten der Ukraine geht nur langsam voran.

Zweitens kann die Ukraine inländische Ressourcen mobilisieren – sowohl finanzielle als auch Verteidigungsressourcen. Zelens’kyj empfing am 24. Februar, dem dritten Jahrestag des Kriegsbeginns, 13 führende Vertreter der Verbündeten in Kiew, um vielversprechende neue Waffen vorzustellen. Darunter waren Aufklärungsdrohnen, Glasfaser-Drohnen, Roboterplattformen für den Einsatz im Gelände, Abfangdrohnen, Systeme elektronischer Kampfführung, Kommunikationssysteme und Flussdrohnen und raketenfähige Drohnen. Besonders stolz schien Zelens’kyj auf die Unterwasserdrohne Toloka, die in der Lage ist, 250 Kilogramm Sprengstoff an ein Ziel zu bringen. Sie wurde als „Killer der Krim-Brücke“ bezeichnet. Zelens’kyj gab zudem kürzlich bekannt, dass die Ukraine im Jahr 2024 2,2 Millionen Drohnen und 154 Artilleriegeschütze (155-mm-Bohdana-Haubitzen) produziert hat. Statistisch wird also nicht einmal alle zwei Tage eine Kanone gefertigt. Gleichzeitig exportierte die durchaus mächtige Stahlindustrie der Ukraine im Jahr 2024 7,5 Millionen Tonnen Stahl – hier müssten Prioritäten verschoben werden. Mitte Februar berichtete etwa der Chef des deutschen Konzerns Rheinmetall, Armin Papperger, von drei Fabriken, die sein Unternehmen in der Ukraine gebaut habe oder noch baue.

Diese Maßnahmen vermögen den Krieg zwar nicht zu beenden. Sie zeigen aber, dass Kiew und seine Verbündeten den mutmaßlichen Einschränkungen amerikanischer Lieferungen zum Trotz die Möglichkeit haben, den Widerstand gegen die Besatzer aufrechtzuerhalten.

Die Lage an der Front

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sich vom Schlachtfeld auf das Verhandlungsfeld verlagert. Dennoch führte eine leichte Verbesserung der Wetterbedingungen an der Kontaktlinie zu einer Zunahme der Angriffe der Okkupanten, auch die Wirkung der Angriffe nahm zu. In den beiden Hauptgebieten des russländischen Vormarsches – Pokrov’sk und Kurachove – bewegte sich in den vergangenen beiden Wochen nicht viel. In der Nähe von Pokrovs’k gelang es den ukrainischen Streitkräften allerdings das Dorf Piščane zurückzuerobern und dabei nach eigenen Angaben 80 feindliche Soldaten zu töten. Westlich von Kurachove beseitigten die Besatzer eine große „Tasche“ in der ukrainischen Verteidigung (etwa fünf mal sieben Kilometer groß) in der Gegend von Ulakli-Dačnoe. Im dritten wichtigen Gebiet im südlichen Teil der Front gelang Moskau ein Kilometer weiter Vorstoß: Die Besatzer eroberten ein größeres Gebiet nordwestlich von Velyka Novosilka Richtung Pokrovs’k. Die Kontaklinie hat sich damit sehr nah an die Grenze der Region Dnipropetrovs’k verschoben. Sie gilt als symbolische Grenze zwischen dem „problematischen“ Donbass und dem Rest der Ukraine. Nur fünf bis sieben Kilometer und zwei Dörfer, die die ukrainische Armee zu Befestigungsanlagen macht, bleiben als Puffer.

Die ukrainischen Streitkräfte können immerhin zwei erfolgreiche Aktionen verbuchen. Am 21. Februar zerstörte die 37. ukrainische Marineinfanteriebrigade in der Nähe des Dorfes Ulakli in der Region Donec’k, in Richtung Kurachove, eine Kolonne feindlicher Panzerfahrzeuge (neun von zehn Einheiten). Am selben Tag drang eine Einheit von Spezialkräften an einem anderen Abschnitt der Zaporižžja-Front unbemerkt in den Kommando- und Beobachtungsposten der 3. Kompanie des 429. motorisierten Schützenregiments der 19. motorisierten Schützendivision ein. Dies geschah etwa fünf Kilometer von der Kampflinie entfernt. Sie töteten drei russländische Soldaten, die für die Kompanie verantwortlich waren. Ein verstörendes Video hält dies fest. Derartige Operationen sind äußerst selten, da die Kommandoposten in der Regel recht weit hinter der Kampflinie (zehn bis 15 Kilometer) liegen und gut getarnt sind.

Die schweren Kämpfe in Torec’k und Časiv Jar haben bisher zu keinen nennenswerten Ergebnissen geführt. Im Norden – im Bereich des Siverskij-Vorsprungs – scheinen Putins Truppen jedoch zum östlichsten Punkt der Frontlinie, der Siedlung Bilohorivka, durchgebrochen zu sein. Noch weiter nördlich, in der Gegend nördlich von Kupjans’k, hat sich der russländische Brückenkopf am Westufer des Flusses Oskil weiter ausgedehnt.

In der Region Kursk gehen die schweren Kämpfe fast überall an den Rändern der von der ukrainischen Armee besetzten “Blase” weiter. Mit der Befreiung des Dorfes Čerkaskaja Konopel’ka haben die russländischen Truppen die Mini-Offensive der Ukrainer fast wieder rückgängig gemacht. Kiews Truppen waren nicht in der Lage, den vorübergehenden taktischen Vorteil zu nutzen und die russländische Gruppierung, die in einem weniger als fünf Kilometer langen Korridor eingeschlossen war, nahe der Grenze in die Enge zu treiben.

Entlang der östlichen Wand der “Blase“ ist es Moskaus Truppen gelungen, einige kleine Siedlungen in der Nähe von Malaja Loknja zurückzuerobern. Zudem griffen sie die ukrainischen Einheiten in der Nähe der Grenzstadt Sverdlikovo an. Das Dorf selbst ist seit drei Wochen unter der Kontrolle der russländischen Streitkräfte. Vladimir Putin lenkte in dieser Woche plötzlich die Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet und erklärte, dass seine Truppen dort die ukrainische Grenze überschritten hätten und sich in der ukrainischen Region Sumy befänden. Die ukrainischen Streitkräfte gaben bekannt, dass eine Sabotage- und Aufklärungsgruppe durchgebrochen sei. Die russländischen Truppen rücken in der Grenzzone vor und versuchen, zehn bis 15 Kilometer tief in ukrainisches Gebiet vorzudringen und die Nachschubwege in die Region Kursk abzuschneiden. Diese Zone ist jedoch so stark von ukrainischen Verteidigungsanlagen durchsetzt, dass ein Durchbruch kaum zu erwarten ist.

Im Gebiet von Malaja Loknja tauchten Mitte Februar überraschend auch wieder nordkoreanische Soldaten auf. Ihre Taktik haben sie nach der grausamen Lektion, die sie im Dezember und Januar gelernt hatten, geändert. Sie stürmen nicht mehr in Gruppen von 50 Mann über die erleuchteten verschneiten Felder, sondern greifen in Gruppen von zehn bis 15 Mann an. Dabei versuchen sie, sich verdeckt zu bewegen. Trotzdem sind diese Gruppen immer noch doppelt so groß wie vergleichbare russländische Angriffsgruppen. Ukrainischen Berichten zufolge wurde mindestens eine Kompanie von ihnen vernichtet. Nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes werden die nordkoreanischen Einheiten, die 2000 bis 4000 Kämpfer verloren haben sollen, bald durch weitere 1000 Mann aus Nordkorea verstärkt.

Luftkrieg

Die größte Herausforderung für die ukrainische Luftverteidigung war zuletzt die zunehmende Häufigkeit und das Ausmaß der Angriffe mit Geran’-2-Drohnen. Wurden sie früher in den Grenzgebieten abgefangen und hatten nur wenig Chance, bis in die Außenbezirke der Großstädte vorzudringen, so flogen die Drohnen vor rund zehn Tagen dreimal massive Angriffe auf Kiew, Mykolaiv und Odessa. Jedes Mal kam es zu Großbränden und zur Zerstörung wichtiger Einrichtungen. So wurden unter anderem ein Wärmekraftwerk in Mykolaiv und mehrere Umspannwerke in Odessa vollständig zerstört, sodass die Stadt ohne Strom und einen Teil ihrer Wasserversorgung dastand. In Kiew brannten Lagerhäuser und Kraftwerke. Es sieht so aus, als ob entweder Russlands Streitkräfte Drohnen einsetzen, die auf neue technologische Lösungen setzen, einschließlich solcher mit erhöhter Sprengkopfkapazität, oder die Ukraine einen akuten Mangel an Munition für ihre Luftabwehr hat. Darauf deutet auch das scheinbar so dringend notwendige deutsche Verteidigungshilfepaket hin, das am 17. Februar angekündigt wurde. Es umfasst in erster Linie eine beträchtliche Menge an Munition, darunter Raketen für die deutschen IRIS-Luftabwehrsysteme und 41 000 Schuss Munition für den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard.

Die ukrainischen Luftstreitkräfte halten ihrerseits an der Taktik schwerer Luftangriffe auf russländische Erdölraffinerien und Export-Ölumschlagplätze fest.

Die Verluste an russländischer Infanterie und Ausrüstung durch ukrainische Drohnen haben indes ein Ausmaß erreicht, dass tägliche Klagen von der Front provoziert. Es sei unmöglich, die Offensivoperationen fortzusetzen. Berichtet wird über den Tod ganzer Angriffseinheiten. Um zumindest den Vormarsch zu den Stellungen und die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern zu gewährleisten, haben die Russen damit begonnen, nicht nur vier bis sechs Anlagen elektronischer Kampfführung mit kurzer Reichweite zu installieren, sondern auch auf den beliebtesten Routen (z. B. Bachmut – Časiv Jar, wo es nur zwei Straßen zwischen den Städten gibt) – Tunnel aus Netzen zu installieren.

Beschwerden von Russlands Soldaten machen Kiew Mut

Obwohl die Intensität der Kämpfe abgenommen hat, sind in den vergangenen zwei bis drei Wochen erneut Dutzende russländische Soldaten an verschiedenen Teilen der Frontlinie in ukrainische Gefangenschaft geraten. Ihre Berichte gegenüber ukrainischen Ermittlern machen deutlich, warum der Strom der Kapitulierenden nicht abreißt. Auch ihre Videos mit Titeln wie „Abschiedsgruß von der Front“, „Beschwerde über die Ungerechtigkeit des Kommandos“, „Beschwerde an die Führung des Landes über massenhafte Verstöße gegen die Ordnung“ veranschaulichen ihre Lage.

Im Allgemeinen sieht das Bild wie folgt aus: Militärische Befehlshaber haben ein System des gezielten Abzugs von Geldern von Soldaten geschaffen. Geld wird für Material- und Ausrüstungseinkäufe, in Form von Geldstrafen für tatsächliche und vermeintliche Vergehen oder in Form von “Patronagegebühren” eingezogen. Wenn Untergebene ihren gesamten Sold an ihr direktes Kommando zahlen, bleiben Sie im hinteren Teil des Kampfgebiets in ihrer Einheit. Wer das nicht tut oder nicht der richtige Spezialist ist, wird zu den “Sturmtrupps” geschickt, das heißt zu Angriffseinheiten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit des „Zeroing“ (onulenie), also zu sterben. Einer der gefangenen Soldaten gab an, dass er als eine Art Chauffeur für eine Einheit im Hinterland gearbeitet hatte, bis das Auto, mit dem er fuhr, eine Panne hatte. Der Kommandeur der Einheit verlangte von ihm, ein neues Auto zu kaufen. Andernfalls würde er ihn zur “Erstürmung” schicken. Der Soldat weigerte sich, ein Auto zu kaufen, und wurde zum Angriff geschickt. Die Androhung von „Zeroing“ an der Front oder in der Nachhut sind Alltag geworden.

Erschwerend kommt hinzu, dass die enormen Verluste der russländischen Armee weitgehend verborgen bleiben. Bis zum dritten Jahrestag des Krieges zählten unabhängige Forscher 100 000 namentlich bekannte Tote. Gefallene Soldaten liegen in den von Putins Armee besetzten Feldern und Waldgürteln, teils jahrelang in weiten „Grauzonen“ zwischen den Fronten. Marina Lebedeva, Vorsitzende der Vereinigung der Komitees der Soldatenmütter in der Region Sverdlovsk, beklagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur EAN am 24. Februar: „Die meisten Vermissten sind tot. Sie liegen irgendwo in der ‘Grauzone’, Drohnen und Artillerie zerfetzen ihre Körper so, dass sogar die letzten Spuren von ihnen verschwinden. Und die unglücklichen Evakuierungsteams haben keine Zeit, die Leute zu bergen. Es kommt vor, dass sie einen mitnehmen wollten, aber fünf lagen neben ihm. Auch diese Praxis ist aufgegeben worden.“

Deshalb können Offiziere den Tod von Dutzenden, teilweise Hunderten von Soldaten monatelang verheimlichen und trotzdem Zulagen für sie erhalten und, was am wichtigsten ist, mit ihren Bankkarten monatlich für russländische Verhältnisse hohe Summen abheben. Am 18. Februar veröffentlichte der pro-russische Militärblogger Evgenij Gold’man die Ergebnisse einer Nachzählung des Geldes, das in der Kommandantur „einer der Divisionen“ der 20. Armee (andere Blogger nannten die 3. motorisierte Schützendivision) gefunden wurde. Knapp 8,5 Milliarden Rubel (92 Millionen Euro) wurden gezählt. Den Angaben des Bloggers zufolge soll die Finanzministerin der Region Rostov, Lilija Fedotova, an der Legalisierung dieser Gelder beteiligt gewesen sein und sich einen Bonus von 1,2 Milliarden Rubel (13 Millionen Euro) ausgezahlt haben. Sie wurde am 3. Februar verhaftet.

Äußerst verdächtig sind zudem Kommandeure, die verlangen, dass Soldaten, die nicht vollständig genesen sind und sogar noch mit Krücken laufen, zu ihren Positionen zurückkehren. Die Verwundeten erklären diesen Eifer der Führung mitunter damit, dass sie dem Kommando als sich erholende Verwundete keinen Vorteil bringen. Sie können schließlich kein Geld von ihnen erpressen. Sie müssen daher entweder für die Möglichkeit bezahlen, in der Nachhut zu bleiben und behandelt zu werden, oder sie gehen an die Front und überlassen ihre Bankkarte dem Kommando.

Die Ukraine profitiert von einer solchen Situation. Denn die betroffenen ausgebluteten Einheiten, die keine neuen Kämpfer erhalten, sind wenig mobil und haben schlicht keine Kämpfer mehr, die angreifen könnten. Dies erklärt vermutlich auch den langsamen Vormarsch der Okkupationsarmee in einer Reihe von Gebieten. Zudem sinkt dadurch das russländische Mobilisierungspotential. Schließlich verbreitet sich die Kunde, dass Soldaten auf diese kriminelle Weise ihr ganzes Geld verlieren in jener Gesellschaftsschicht, die vor allem aus finanziellen Gründen in den Krieg zu gehen bereit ist.

Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.