Verschleißerscheinungen

Nikolay Mitrokhin, 16.12.2023

Menschen, Material, Moral – die 95. Kriegswoche

Russland setzt an mehreren Stellen der Front die Angriffe fort und macht weiter unter hohen Verlusten kleine Geländegewinne. In der Ukraine wird unter dem Stichwort „Strategiewechsel“ eine Anpassung der Kriegsziele an die schlechte Lage diskutiert. Gleichzeitig wird eine Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen diskutiert. Der schwindenden Hoffnung in einem Abnutzungskrieg, in dem Russland mittlerweile in jeglicher Hinsicht überlegen scheint, wird die Aussicht auf den Aufbau einer eigenen Drohnenproduktion entgegengesetzt.

Die Lage an der Front

Der Kampf um die an der südwestlichen Peripherie von Donec’k gelegene Kleinstadt Marijinka ist entschieden. Anderthalb Jahre haben die russländischen Truppen die Hochhaussiedlung mit ihren einst 10 000 Einwohnern gestürmt und in einen einzigen Trümmerhaufen verwandelt. Jetzt sind sie im Westen und Südwesten in die Stadt eingedrungen. Für den vollständigen Sieg fehlt nur noch der nordwestliche Teil der Siedlung.

Es handelt sich ohne Zweifel um einen Pyrrhussieg. Er wurde mit hohen Verlusten errungen und das Ergebnis ist mehr als zweifelhaft. Die Moskauer Kriegspropagandisten haben stets erklärt, die Einnahme der Siedlung sei unerlässlich, weil von ihr aus „ganz Donec’k“ beschossen werde. Doch die ukrainische Armee verfügt mittlerweile über Artilleriesysteme, die viel weiter entfernte Ziele erreichen. Mit der Westverschiebung der Front um drei Kilometer ist für die Sicherheit von Donec’k vor Beschuss daher nichts gewonnen. Dies hat die vergangene Woche gezeigt, als die ukrainische Armee in der Stadt Öltanks und eine Lagerhalle auf einem Militärgelände beschossen und zerstört hat. Nun bereiten sich die russländischen Truppen auf den Sturm von Heorhyjivka, Maksymil’janyvka und Kurachove vor, die auf den nächsten 15 Kilometern vor ihnen liegen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Kämpfe lag auch in der 95. Kriegswoche westlich und nordwestlich von Bachmut. Dort stehen die russländischen Truppen jetzt bei Bohdanivka und haben damit die ukrainischen Geländegewinne vom Juni 2023 wieder rückgängig gemacht. Jetzt soll Časiv Jar erobert werden, doch die Propagandisten stimmen bereits darauf ein, dass es nicht leicht werden wird, die auf einer Anhöhe gelegene Siedlung einzunehmen.

Einen dritten Stoß führen die russländischen Truppen weiter gegen Avdijivka, wo sie von Südosten in die Stadt eingedrungen sind. Bislang haben sie allerdings nur ein kleines Areal erobert und dies nur mit Hilfe des gepanzerten Mehrfachraketenwerfers TOS-1 Buratino („Solncepek“, Sonnenglut), von denen den Moskauer Truppen nur wenige zur Verfügung stehen. Das viel größere Problem für die ukrainischen Truppen ist allerdings das Vorrücken des Gegners von Südwesten. Dort kann bereits die einzige noch in die Stadt führende Straße nicht mehr bei Tageslicht befahren werden. Gelingt es Russland, sie auch bei Nacht zu kontrollieren und jedes Fahrzeug gezielt zu beschießen, muss die Ukraine die Stadt aufgeben.

Nahe Kupjans’k hat die Ukraine einen Versuch des Gegners abgewehrt, die Verteidigungslinie bei Syn’kove zu durchstoßen; Russland hat dabei mehrere Fahrzeuge verloren. Im „stillen Krieg“ in den Wäldern der Nordostukraine sind auf ukrainischem Gebiet sechs ukrainische Grenzer in Gefangenschaft geraten.

Ukrainische Strategiediskussion

Die ukrainische Debatte über einen „Strategiewechsel“ hält an. Selbst der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Aleksej Danylov, der für harte Positionen bekannt ist, erklärte, man dürfe sich nicht länger auf die „veralteten NATO-Lehrbücher“ verlassen. Auf westlicher Seite klingt das ganz anders. In deutschen und US-amerikanischen Medien werden Beobachter zitiert, die den Fehler keineswegs darin sehen, dass der Rat von US-Militärberatern befolgt wurde, sondern darin, dass die ukrainische Armeeführung diesen komplett ignoriert habe. Faktisch handelt es sich bei der Debatte über die „Strategie“ um eine Neubestimmung der Kriegsziele.

Offiziell ist davon allerdings keine Rede. Präsident Zelens’kyj hat bei seiner Reise in die USA nicht nur dafür geworben, dass der Kongress die von Präsident Biden beantragten Mittel zur Unterstützung der Ukraine freigibt. Thema waren auch Kampfhubschrauber, Flugzeuge, Panzer und Raketen mit größerer Reichweite, welche die USA der Ukraine liefern sollen, damit diese einen neuen Durchbruch der Front vorbereiten kann.

Inoffiziell aber erzählen ukrainische Soldaten amerikanischen Journalisten von schweren und sinnlosen Verlusten, die die Armee etwa bei dem „selbstmörderischen“ Versuch erleide, den Brückenkopf Krynki am linken Ufer des Dnipro zu halten. Oder dass die neue Strategie darin bestehe, sich unter dem Druck des Gegners organisiert um einen Kilometer zurückzuziehen, damit dieser auf die vorbereiteten Minenfelder stoße und man selbst sich unter den Schutz der Artillerie begibt. Dies klingt vernünftig, gleichwohl sind auf diese Weise vor einem Jahr Soledar und Bachmut verlorengegangen.

Wie schwierig die Lage ist, zeigen die westlichen Einschätzungen zu den Absichten und Möglichkeiten Russlands. Man ist davon überzeugt, dass Putin bereit ist, weitere Jahre Krieg zu führen und dabei 100 000 Soldaten in den Tod zu schicken. Die Auftritte Putins in der vergangenen Woche, u.a. bei dem inszenierten Bürgergespräch „Direkter Draht“, bestätigen diese Auffassung. Putin ist vollends zum „Kriegspräsidenten“ geworden und Russlands Volkswirtschaft ermöglicht es, den Krieg fortzusetzen. Angesichts der Überlegenheit bei der Herstellung neuer Waffen – insbesondere bei Drohnen, wo das Verhältnis zur ukrainischen Produktion bei 5:1 liegt – und des größeren Mobilmachungsreservoirs stellt sich die Frage, wie der andere Teil der ukrainischen Strategie: die Erschöpfung des Gegners Erfolg haben soll.

Mobilmachung in der Ukraine

Die Wehrämter haben ihre zunehmend harte Linie der vergangenen Woche fortgesetzt. In Kiew wurden teure Restaurants durchkämmt, in Ivano-Frankivs’k, Mykolajiv und Černivci waren Rekrutierungstrupps in Einkaufszentren unterwegs. In Odessa wurden sogar Passagiere im öffentlichen Nahverkehr überprüft. Die Abgeordnete von Zelens’kyjs Partei „Sluh naroda“ (Diener des Volks) Mar’jana Bezuhla, die sich in den vergangenen Wochen als eine der schärfsten Kritikerinnen des Oberkommandierenden Valerij Zalužnyj aus den Reihen der Zelens’kyj-Lagers profiliert hat, ist mit einem Gesetzesentwurf an die Öffentlichkeit getreten. Das Mindestalter für den Einzug zur Armee soll von 27 auf 25 Jahre gesenkt werden, der bisherige Grundwehrdienst durch eine Grundausbildung für Frauen und Männer ersetzt werden. Frauen sollen in viel mehr Einheiten dienen können als bisher und grundsätzlich bei der Wehrpflicht mit Männern gleichgestellt werden. Faktisch geht es darum, alle Männer in der Armee, die nicht an der Front eingesetzt werden, durch Frauen zu ersetzen, damit erstere für den Kampf frei werden. Das offizielle Ziel des Gesetzes ist es jedoch, eine Rotation der Männer an der Front zu ermöglichen, damit niemand dort länger als drei Monate am Stück verweilen muss.

Luftkrieg

Beide Kriegsparteien haben ihre Luftangriffe in der 95. Kriegswoche stark ausgeweitet. Dies gilt insbesondere für Russland. Nacht für Nacht griffen zwischen 30 und 40 Angriffsdrohnen Ziele in der Ukraine an, insbesondere Hafenanlagen in und um Odessa. Erstmals seit langer Zeit hat Russland wieder Raketen vom Typ Kinžal eingesetzt, angeblich wurde im Gebiet Žitoymr eine Anlage eines Patriot-Flugabwehrsystems getroffen, eine Bestätigung fehlt. Die ukrainische Seite veröffentlicht Zahlen über abgefangene Raketen, in denen sich 100 Bauteile aus westlicher Produktion – 77 davon aus amerikanischer – befunden hätten. Dies bestätigt die Vermutung, dass die russländische Raketenproduktion derart stark von westlichen Komponenten abhängt, dass selbst die Trockenlegung einzelner klandestiner Kanäle die Fabriken zum Stillstand bringt.

Auch ballistische Raketen vom Typ S-400 setzte Russland in großer Zahl ein. Offenbar ist es der Ukraine jedoch gelungen, die Flugkörper über Kiew abzuschießen. Herabstürzende Trümmer haben zwar 53 Menschen verletzt, Todesopfer gab es jedoch keine. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Angriffsserie dem amerikanischen Publikum, das Zelens’kyj zu Besuch hatte, demonstrieren sollte, dass eine Luftverteidigung der Ukraine unmöglich ist. Einem ähnlichen Ziel könnte ein umfangreicher Hackerangriff auf das System des größten ukrainischen Mobilfunkanbieters Kyivstar gedient haben. Die ukrainische Luftabwehr hat den Test bestanden, die IT-Sicherheit nicht. Das Netz von Kyivstar fiel für eine Woche aus, die Netze zweier weiterer Anbieter waren in dieser Zeit komplett überlastet, Bankautomaten und viele andere im Alltag verwendete Geräte, die mit Karten von Kyivstar arbeiten, fielen aus.

Auch die Ukraine setzte erstmals wieder Angriffsdrohnen in großer Zahl ein. In mehreren Nächten flogen Schwärme mit bis zu 30 der unbemannten Objekte in Richtung Russland. Das Moskauer Verteidigungsministerium meldete den Abschuss von Drohnen über den Gebieten Lipeck, Rostov und Volgograd. Fotos zeigen, dass auf dem Flugplatz Morozovka bei Rostov am Don mindestens ein Kampfflugzeug durch einen Drohneneinschlag beschädigt wurde. Am 16. Dezember richteten ukrainische Drohnen Schäden im Gebiet Kursk an, getroffen wurden Wohnhäuser, eine Verdichtungsstation, ein Strommast und ein Gebäude eines Metallurgie-Kombinats in Michajlovskoe.

Derweil macht man sich in der Ukraine Hoffnung auf neue Drohnen. Ein Unternehmen namens Terminal Autonomy produziere günstige Angriffsgeräte mit der Typenbezeichnung AQ 400 Scythe, die einen Sprengkopf mit einem Gewicht von 43 Kilogramm über eine Entfernung von 750 Kilometern an sein Ziel bringen könnten. Sie sollen in einer Höhe von drei Kilometern fliegen, um Russland dazu zu zwingen, teure Abfangraketen einzusetzen. Die Drohnen seien billig und schnell gebaut, die ukrainische Antwort auf die von Russland verwendeten Shahed. Das Unternehmen präsentiert sich mit der Formel: die Demokratisierung strategischer Kriegsführung. Bislang würden 50 Flugapparate pro Monat gefertigt, bis zum zweiten Quartal würde die Produktion aber auf 500 pro Monat gesteigert.

Ob dies der Beginn einer ernsthaften Drohnenproduktion in der Ukraine ist, wird sich zeigen. Von der Drohne mit dem Namen „Bobr“, die im Sommer 2023 als ukrainische Sensation galt, ward nichts mehr gehört. Dabei wäre es ohne weiteres möglich, in einer abgelegenen Gegend im Westen des Landes unbemerkt von der russländischen Luftaufklärung eine Drohnenproduktion mit westlichen oder chinesischen Bauteilen hochzuziehen. Der ehemalige Verteidigungsminister Aleksej Reznikov, der sich ausschließlich auf den kostenlosen oder auch bezahlten Bezug ausländischer Drohnen konzentriert hatte, ist dafür mittlerweile in die Kritik geraten.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.