Verstärkung dringend benötigt

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 136. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 9.10.2024

Die Ukraine gerät im südlichen Donbass immer weiter unter Druck. Die Truppen sind erschöpft, es fehlt an Reservekräften. Immer öfter gelingt es nach Rückzügen nicht mehr, eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Kann die ukrainische Armee in diesem Raum keine Verstärkung heranführen, könnte in nicht allzu ferner Zeit die Großstadt Zaporižžja in Gefahr geraten.

In der ersten Oktoberwoche setzen sich an zahlreichen Frontabschnitten die schweren Kämpfe fort. Zu größeren Veränderungen der Frontlinie führte dies an den meisten Abschnitten nicht. Dies gilt für den Raum des ukrainischen Vorstoßes im Gebiet Kursk, für den Norden des Gebiets Charkiv und für den Norden des Gebiets Donec’k. Bei Torec’k durchbrachen die russländischen Besatzungstruppen jedoch die Verteidigungslinie im Osten der Stadt. Insbesondere aber im Süden des Donbass verschlechtert sich die Lage der Ukraine immer weiter.

Nach dem Fall von Vuhledar nutzen die russländischen Okkupationstruppen den örtlichen Zusammenbruch der Front und setzen den zurückweichenden ukrainischen Truppen nach. Die 72. Brigade der ukrainischen Armee hat beim Abzug aus Vuhledar schwere Verluste erlitten, in einigen Bataillonen sind nahezu alle Infanteriesoldaten gefallen oder verwundet worden. Teile der 123. Brigade der Territorialverteidigung aus dem Gebiet Mykolajiv, die den Abzug der Brigade sichern sollten, verweigerten den Befehl. Bekannt wurde dies durch einen wütenden Post des Journalisten Volodymyr Bojko, den auch die Nachrichtenagenturen aufgriffen. In diesem schreibt er über den Selbstmord von Ihor Hryb, Kommandeur des 186. Sonderbataillons, dessen Soldaten am 2. Oktober von ihren Stellungen abgezogen wurden.

„Wie erstaunlich, es gibt ein Problem. Soldat Šabunin zecht in Kiew, Soldat Kazarin tourt mit seinem Buch durch Europa, Soldat Kipiani hält in Lemberg Vorträge über Patriotismus, die Soldaten Niščuk und Trytenko treten im Theater auf und die Soldaten Položyns’kyj und Žadan machen Radio. Unterdessen wird Soldat Mykola mit einem Maschinengewehr auf der Schulter in den Wald geschickt, um andere Jungs abzulösen. Schade nur, dass Ihor Hryb das erst jetzt erkannt hat.“[1]

Am 7. Oktober rückte die 40. Gardebrigade der russländischen Marineinfanterie mit Panzern in die westlich von Vuhledar gelegene Siedlung Zolota Nyva ein. Dort sollte die 123. Brigade der ukrainischen Territorialverteidigung stehen, tatsächlich befand sich dort jedoch lediglich die erschöpfte und stark dezimierte 72. Brigade. Bis August nahmen die Besatzer solche Siedlungen allenfalls nach wochenlangen Kämpfen ein. Nun mangelt es der ukrainischen Armee sogar an Soldaten, um die Feldwege zu verminen. Ende September war bereits die Siedlung Prečystovka auf ähnliche Weise in die Hand der Besatzer gefallen. Dort hatte sich nur noch eine kleine ukrainische Einheit befunden, die nicht über die Waffen verfügte, mit denen eine Panzerkolonne hätte aufgehalten werden können. Nach dem Verlust von Prečystovka war der Fall von Vuhledar nur noch eine Frage der Zeit.

Der neue Kommandeur der 72. Brigade spricht davon, dass die russländischen Truppen beim Sturm auf Vuhledar im Verhältnis 10:1 überlegen gewesen seien. Russland habe in sehr kurzer Zeit neue Truppen an diesen Frontabschnitt herangeführt, während die Verteidiger von Vuhledar durch das Ausbleiben von Reservetruppen immer mehr an Kampfkraft verloren hätten.

In größter Gefahr ist nun das 25 Kilometer nördlich von Vuhledar gelegene Kurachove. Auf diese Stadt mit einst 20 000 Einwohnern konzentriert sich jetzt der russländische Angriff in diesem Raum. Die Besatzungstruppen haben bereits den im Norden von Kurachove gelegenen Ort Cukuryne eingenommen, was ihnen die Möglichkeit eröffnet, den Vorstoß in mehrere Richtungen fortzusetzen, vor allem aber Kurachove und die umliegenden Dörfer abzuschneiden. Die ukrainischen Truppen im Norden und Südosten der Stadt sind bereits von drei Seiten eingekreist. Fällt Kurachove, erhöht sich der Druck auf die ukrainische Verteidigungslinie im Gebiet Zaporižžja stark. Nur mit einer raschen Herbeiführung von Reservetruppen kann die Ukraine noch verhindern, dass sie im Laufe des Oktobers erneut Einheiten aus Kesseln herausführen und sich um 20 weitere Kilometer zurückziehen muss.

Im Gebiet Zaporižžja erkunden die russländischen Truppen bereits jetzt mit gelegentlichen Angriffen mögliche Schwächen in der ukrainischen Verteidigung. Bei Kam’jans‘ke gelang am 7. Oktober ein solcher Versuch. Der Ort befindet sich am Ufer des einstigen Kachovka-Stausees, der nach der Zerstörung der Staumauer Anfang Juni 2023 abgelaufen ist. Die russländischen Einheiten umgingen den Ort über den ausgetrockneten Seeboden und griffen die dort stationierte kleine ukrainische Einheit von der Seite und sogar von hinten an. Gelingt es der Ukraine mit einem Gegenangriff, die Kontrolle über den Ort wiederherzustellen, sind die Sorgen über die Stabilität der ukrainischen Verteidigung in diesem Frontabschnitt noch lange nicht vorüber. Können sich die Besatzungstruppen allerdings in dem Ort festsetzen und von dort weiter nach Norden vorstoßen, dann stellen sie in nicht allzu ferner Zeit eine Gefahr für die Großstadt Zaporižžja dar.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.


[1] Vitalij Šabunin ist als Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung in die Schlagzeilen geraten, Pavlo Kazarin ist ein von der Krim stammender bekannter Journalist, Vachtang Kipiani ist ebenfalls Journalist und schreibt vor allem zu historischen Themen, Evhen Niščuk und Oleksyj Trytenko sind bekannte ukrainische Schauspieler, Oleksyj Položyns’kyj ist Leader der Band Tartak und Serhij Žadan Schriftsteller und Musiker, Gründer und Leader der Band Žadan i Sobaki.