Vladimir Kara-Murza im Gerichtssaal. In der Hand eine  Ausgabe der autobiographischen Skizzen "Die Eiche und das Kalb" von  Aleksandr Solženicyn.
Vladimir Kara-Murza im Gerichtssaal. In der Hand eine Ausgabe der autobiographischen Skizzen "Die Eiche und das Kalb" von Aleksandr Solženicyn.

Vladimir Kara-Murza zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt

Vladimir Kara-Murza wurde im April 2022 verhaftet und wegen Staatsverrat, Verbreitung von Falschinformationen über die russländische Armee und Arbeit für eine „unerwünschte Organisation“ angeklagt. Die Anklage forderte 25 Jahre Lagerhaft in strengem Vollzug. Das Gericht ist dem Antrag wie erwartet nachgekommen und hat den 1981 geborenen Journalisten, Historiker und Politiker Kara-Murza am 17.4.2023 zu einem Vierteljahrhundert Straflager verurteilt. Wir dokumentieren das letzte Wort Kara-Murzas, dem nichts hinzuzufügen ist.

Ich war überzeugt, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russländischen Politik, nach allem, was ich gesehen und überlebt habe, nichts mehr überraschen kann. Ich muss zugeben, ich habe mich geirrt. Es hat mich doch überrascht, dass der gegen mich geführte Prozess im Jahr 2023 in Sachen Intransparenz und Diskriminierung der Verteidigung die Prozesse gegen die sowjetischen Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren noch übertroffen hat. Ganz zu schweigen von der geforderten Strafe und der Bezeichnung meiner Person als „Feind“. Das ist nicht einmal der Stil der 1970er Jahre, sondern schon der 1930er Jahre.

Als Historiker gibt mir dies Anlass zu einigen Überlegungen.

Während der Befragung des Angeklagten erinnerte mich der Vorsitzende daran, dass es als mildernder Umstand gewertet werde, wenn man "seine Tat bereue". Es gibt derzeit wenig Erheiterndes um mich herum, aber darüber musste ich doch lächeln.

Verbrecher müssen ihre Taten bereuen. Ich bin jedoch wegen meiner politischen Ansichten im Gefängnis. Weil ich mich gegen den Krieg in der Ukraine geäußert habe. Weil ich viele Jahre gegen die Diktatur Putins gekämpft habe. Weil ich dazu beigetragen habe, dass auf der Basis des Magnitsky-Gesetzes internationale Sanktionen gegen jene verhängt wurden, die Menschenrechte verletzt haben.

Ich bereue nicht nur nichts davon. Ich bin stolz darauf.

Ich bin stolz darauf, dass Boris Nemcov mich zur Politik gebracht hat. Ich hoffe, dass er sich nicht für mich schämt. Ich unterschreibe jedes Wort, das ich gesagt habe und das mir in der Anklageschrift zur Last gelegt wird. Der einzige Vorwurf, den ich mir mache: Dass es mir in den Jahren meiner politischen Tätigkeit nicht gelungen ist, ausreichend Menschen in Russland und Politiker demokratischer Staaten davon zu überzeugen, wie gefährlich das Regime im Kreml für Russland und die Welt ist. Heute sehen das alle, doch zu welch schrecklichem Preis, zum Preis des Krieges.

Bei ihren letzten Worten bitten die Angeklagten gewöhnlich um Freispruch. Wer kein Verbrechen begangen hat, kann kein anderes legales Urteil als Freispruch erwarten. Aber ich bitte dieses Gericht um nichts. Ich kenne mein Urteil. Ich kannte es bereits vor einem Jahr, als ich im Spiegel die hinter meinem Auto herrennenden Männer in schwarzen Uniformen und schwarzen Masken sah. Dies ist der Preis für den, der in Russland nicht schweigt.

Aber ich weiß auch, dass der Tag kommt, an dem sich die Finsternis über unserem Land lichten wird. An dem Schwarzes schwarz genannt wird und Weißes weiß. An dem offiziell anerkannt wird, dass 2 x 2 doch vier ist. An dem der Krieg Krieg genannt wird und der Usurpator ein Usurpator und an dem diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die diesen Krieg entfacht und entfesselt haben – und nicht jene, die versucht haben, ihn zu beenden. Dieser Tag wird ebenso sicher kommen, wie der Frühling auch den kältesten Winter ablöst.

Dann wird unsere Gesellschaft die Augen öffnen und mit Schrecken sehen, welche furchtbaren Verbrechen in ihrem Namen begangen wurden.

Mit dieser Erkenntnis und dem Nachdenken darüber wird der lange und schwere, aber für uns alle so wichtige Weg zur Gesundung und zum Wiederaufbau Russlands zu seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten beginnen.

Selbst heute, selbst in der uns umgebenden Finsternis, selbst in diesem Käfig, in dem ich sitze, liebe ich mein Land und glaube an seine Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg bewältigen können.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin