Kriegserklärung. Die Ansprache des russländischen Präsidenten am Morgen des 24.2.2022

Es gibt historische Dokumente, die nur in wissenschaftlichen Quelleneditionen erscheinen dürfen. Sie sind von solch demagogischem Charakter, dass jedes Wort einer wissenschaftlichen Einordnung bedarf. Die Ansprache, die Russlands Präsident Vladimir Putin am frühen Morgen des 24. Februar 2022 zur Begründung des Überfalls auf die Ukraine gehalten hat, gehört in diese Kategorie. Wir veröffentlichen sie dennoch bereits an dieser Stelle in deutscher Übersetzung. Einen Großteil der Einordnung haben Historiker, Soziologen und Politikerwissenschaftler aus Deutschland, der Ukraine und Russland in den vergangenen Jahren auf den Seiten der Zeitschrift Osteuropa geleistet – red.

Sehr geehrte Bürger Russlands! Liebe Freunde!

Ich muss heute erneut auf die tragischen Ereignisse im Donbass und die Schlüsselfragen bei der Gewährleistung von Russlands eigener Sicherheit zurückkommen.

Ich beginne mit dem, worüber ich in meiner Ansprache vom 21. Februar gesprochen habe. Es geht um die Fragen, die uns besonders besorgen und beunruhigen, um die fundamentalen Bedrohungen für unser Land, die verantwortungslose Politiker aus dem Westen seit vielen Jahren auf grobe und ungenierte Weise vermehren. Ich spreche von der Erweiterung des NATO-Blocks nach Osten, vom Vorrücken seiner militärischen Infrastruktur an die Grenzen Russlands.

Es ist wohlbekannt, dass wir im Verlauf der vergangenen 30 Jahre beharrlich und mit Geduld versucht haben, die Führungen der NATO-Staaten von den Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu überzeugen. Als Antwort auf unsere Vorschläge haben wir stets entweder zynischen Betrug und Lügen erhalten, oder es wurde Druck auf uns ausgeübt, man wollte uns erpressen. Und währenddessen wurde die Nordatlantik-Allianz ungeachtet unserer Bedenken immer weiter vergrößert. Die Militärmaschine ist in Bewegung, und, wie gesagt, sie steht schon an unseren Grenzen.

Warum geschieht das alles? Woher kommt diese dreiste Art, so zu sprechen, als sei man auserwählt, unfehlbar, und als sei einem alles erlaubt? Woher diese verächtliche, abschätzige Haltung gegenüber unseren Interessen und vollkommen legitimen Forderungen?

Die Antwort ist klar, sie liegt offen zutage. Die Sowjetunion war Ende der 1980er Jahre geschwächt, und schließlich zerfiel sie. Der damalige Ablauf der Ereignisse ist für uns heute eine wertvolle Lektion, er hat gezeigt, dass die Lähmung von Macht und Willen der erste Schritt zum totalen Niedergang und Untergang ist. Kaum hatten wir für kurze Zeit das Selbstvertrauen verloren – schon war das globale Gleichgewicht der Kräfte gestört.

Dies hat dazu geführt, dass die geschlossenen Verträge und Abkommen heute faktisch außer Kraft sind. Überzeugungsversuche und Bitten helfen nicht weiter. Alles, was dem Hegemon, den Mächtigen, nicht passt, wird für archaisch, ausgedient, nutzlos erklärt. Und umgekehrt: Alles, was ihnen nützlich erscheint, wird als Wahrheit letzter Instanz präsentiert, es wird um jeden Preis durchgedrückt, dreist und mit allen Mitteln. Wer anderer Meinung ist, wird mit Gewalt in die Knie gezwungen.

Das betrifft nicht nur Russland und versetzt nicht nur uns in Sorge. Es geht um das gesamte System der internationalen Beziehungen und betrifft manchmal selbst die Verbündeten der USA. Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann faktisch eine Neuverteilung der Welt, bei der die geltenden Regeln des Völkerrechts – die wichtigsten, grundlegenden wurden nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert und hielten im Wesentlichen dessen Ergebnisse fest – den selbsterklärten Siegern des „Kalten Kriegs“ auf einmal im Weg standen.

Natürlich musste man im praktischen Leben, in den internationalen Beziehungen, bei den Bestimmungen, die diese regeln, die veränderte Lage und das neue Gleichgewicht der Kräfte berücksichtigen. Doch dies hätte professionell geschehen müssen, schrittweise, mit Geduld, unter Berücksichtigung und Achtung der Interessen aller Länder und im Bewusstsein für die Verantwortung, die man trägt. Aber nein. Stattdessen Euphorie über die absolute Übermacht, eine Art von neuem Absolutismus, dazu kamen noch der niedrige Bildungsstand und die Überheblichkeit derjenigen, die all diese nur für sie vorteilhaften Entscheidungen planten, trafen und durchdrückten.

Nach Beispielen muss man nicht lange suchen. Erst die ohne Zustimmung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen durchgeführte blutige Militäroperation gegen Belgrad, bei der mitten in Europa Kampfflugzeuge und Raketen eingesetzt wurden. Wochenlange, pausenlose Bombardements von friedlichen Städten, von lebensnotwendiger Infrastruktur. Man muss an diese Fakten erinnern, denn einige unserer westlichen Kollegen denken an diese Ereignisse nur ungern zurück, und wenn wir sie erwähnen, dann ist nicht mehr von Völkerrecht die Rede, sondern von Umständen, die so ausgelegt werden, wie man es gerade braucht.

Dann kam der Irak an die Reihe, dann Libyen, dann Syrien. Der illegitime Einsatz militärischer Gewalt gegen Libyen, die Verdrehung sämtlicher Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu dem Thema hat zur völligen Zerstörung dieses Staates geführt, und die Folge war, dass dort ein riesiger Herd des internationalen Terrorismus entstand, dass das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt wurde, in den Abgrund eines jahrelangen, bis heute nicht beendeten Bürgerkriegs. Die Tragödie, der Hunderttausende, Millionen Menschen nicht nur in Libyen, sondern in der gesamten Region ausgeliefert wurden, hat eine Massenmigration aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa ausgelöst.

Ein ähnliches Schicksal erwartete auch Syrien. Die Militäraktionen der westlichen Koalition auf dem Territorium Syriens ohne Zustimmung der syrischen Regierung und ohne Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen waren nichts anderes als eine Aggression, eine Intervention.

Besondere Bedeutung kommt in dieser Reihe natürlich dem Einmarsch in den Irak zu, für den es ebenfalls keinerlei rechtliche Grundlage gab. Als Vorwand wurden „zuverlässige Informationen“ über Massenvernichtungswaffen im Irak genommen, die den USA angeblich vorlagen. Zum Beweis hielt der amerikanische Außenminister vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit ein Reagenzglas mit weißem Pulver hoch und behauptete, dies sei die Chemiewaffe, die im Irak entwickelt werde. Später zeigte sich: Das war alles konstruiert, eine Finte, es gab keine Chemiewaffen im Irak. Man kann es kaum glauben, aber Fakt bleibt Fakt. Es wurde dreist gelogen – auf höchster Staatsebene, auf der hohen Bühne der Vereinten Nationen. Und das Ergebnis: unzählige Opfer, Zerstörung, eine unglaubliche Terrorwelle.

Generell entsteht der Eindruck, dass praktisch überall, in den vielen Regionen der Welt, wo die USA versuchen, ihre Ordnung zu etablieren, klaffende, nicht verheilende Wunden übrigbleiben, Schwären des internationalen Terrorismus und Extremismus. Was ich genannt habe, waren nur die himmelschreiendsten, aber bei weitem nicht die einzigen Beispiele für die Missachtung des Völkerrechts.

In dieselbe Kategorie fällt auch das Versprechen an unser Land, dass die NATO um keinen Zoll nach Osten erweitert würde. Ich sage es noch einmal: Sie haben uns betrogen, oder volkstümlicher ausgedrückt: Sie haben uns einfach reingelegt. Oft heißt es ja, Politik sei eine schmutzige Sache. Das mag sein, aber doch nicht in diesem Ausmaß, nicht zu diesem Grad. Wer so mit gezinkten Karten spielt, verstößt nicht nur gegen die Prinzipien der internationalen Beziehungen, er verletzt vor allem die allgemeinen Normen von Moral und Anstand. Wo sind hier Gerechtigkeit und Wahrheit? Nichts als blanke Lüge und Heuchelei.

Übrigens sprechen auch amerikanische Politiker, Politologen und Journalisten davon, dass in den USA in den letzten Jahren ein regelrechtes „Imperium der Lüge“ errichtet wurde. Dem kann man nur zustimmen, genau so ist es. Aber reden wir es nicht klein: Die USA sind gleichwohl ein großes Land, eine systembildende Großmacht. Ihre vielen Satelliten unterwerfen sich ihnen willig und singen zu jedem beliebigen Anlass ihr Lied. Mehr noch: Sie kopieren auch ihr Verhalten, übernehmen mit Begeisterung die Regeln, die man ihnen vorsetzt. Man kann daher mit vollem Recht und voller Gewissheit sagen, dass dieser gesamte sogenannte westliche Block, den die USA nach ihrem Bilde erschaffen haben, nichts anderes ist als eben das: ein „Reich der Lüge“.

Was unser Land betrifft, so haben sie nach dem Zerfall der Sowjetunion trotz der nie dagewesenen Offenheit des neuen modernen Russland, trotz unserer Bereitschaft zu ehrlicher Zusammenarbeit mit den USA und anderen westlichen Partnern, trotz der Abrüstung, die nahezu ausschließlich wir betrieben haben, trotz alldem haben sie versucht, uns fertigzumachen, zu erledigen, uns endgültig zu vernichten. Genau so hat es sich abgespielt, in den 1990er und frühen 2000er Jahren, als der sogenannte kollektive Westen massiv den Separatismus und die Söldnerbanden im Süden Russlands unterstützt hat. Wie viele Tote, welche riesigen Verluste uns das damals gebracht hat, welche Prüfungen wir bestehen mussten, bevor es gelang, dem internationalen Terrorismus im Kaukasus endgültig das Rückgrat zu brechen wir haben es im Gedächtnis und werden es nie vergessen.

Und im Grunde haben diese Versuche des Westens, uns für seine eigenen Interessen einzuspannen, nie aufgehört: Er versucht, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk, von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen. Dazu wird es nicht kommen, das hat noch niemand je geschafft. Auch jetzt wird es nicht gelingen.

Wir haben trotz all dem im Dezember 2021 noch einmal einen Versuch unternommen, mit den USA und ihren Verbündeten ein Abkommen über Sicherheit in Europa und über eine Absage an jegliche NATO-Erweiterung zu schließen. Vergeblich. Die Haltung der USA ist unverändert. Sie halten es nicht für notwendig, mit Russland in einer für uns absolut entscheidenden Frage zu einer Verständigung zu kommen, sie verfolgen ihre Ziele und missachten unsere Interessen.

Natürlich beginnen wir uns in dieser Situation zu fragen: Was sollen wir nun tun, was erwartet uns? Wir wissen aus der Geschichte sehr gut, dass die Sowjetunion im Jahr 1940 und noch Anfang 1941 auf jede erdenkliche Weise versucht hat, einen Krieg abzuwenden oder wenigstens hinauszuzögern. Sie hat buchstäblich alles unternommen, um den potentiellen Aggressor nicht zu provozieren, sie hat auf die allerwichtigsten, eindeutig notwendigen Vorbereitungen zur Abwehr des unvermeidlichen Überfalls verzichtet. Und das, was schließlich doch noch unternommen wurde, kam katastrophal zu spät.

Die Folge war, dass das Land nicht darauf vorbereitet war, sich mit ganzer Kraft dem Vordringen des nationalsozialistischen Deutschland entgegenzustellen, das unsere Heimat ohne Kriegserklärung am 22. Juni 1941 überfiel. Es gelang, den Feind zu stoppen, und später auch, ihn zu besiegen. Aber der Preis war gewaltig. Der Versuch, den Aggressor am Vorabend des Großen Vaterländischen Kriegs zu besänftigen, hat sich als Fehler erwiesen, der unser Volk teuer zu stehen kam. In den ersten Monaten des Krieges verloren wir riesige, strategisch wichtige Gebiete und Millionen Menschen. Ein zweites Mal dürfen und werden wir einen solchen Fehler nicht begehen.

Diejenigen, die die Weltherrschaft für sich beanspruchen, erklären öffentlich, ungestraft und, ich betone das, vollkommen grundlos Russland, also uns, zu ihrem Feind. Tatsächlich verfügen sie gegenwärtig über ein großes finanzielles, technologisches und militärisches Potential. Wir wissen das und analysieren die pausenlosen wirtschaftlichen Drohungen an unsere Adresse ebenso objektiv wie unsere Möglichkeiten, dieser dreisten und fortgesetzten Erpressung zu widerstehen. Ich wiederhole: Wir bewerten sie ohne Illusionen, absolut realistisch.

Was den militärischen Bereich betrifft, so ist das heutige Russland selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Verlust eines erheblichen Teils ihres Potentials weiter eine der stärksten Atommächte der Welt. Mehr noch, bei einigen der modernsten Waffenarten liegt es sogar vorn. Daher soll sich jeder absolut im Klaren darüber sein, dass ein direkter Angriff auf unser Land zu Vernichtung und schrecklichen Folgen für jeden denkbaren Aggressor führt.

Gleichzeitig geht der technologische Fortschritt rasch weiter, auch in der Rüstung. Mal liegt eine Seite vorn, mal die andere. Die militärische Aneignung von Gebieten, die direkt an unser Land grenzen, würde dagegen auf Jahrzehnte hinaus Fakten schaffen, wenn wir sie zulassen, vielleicht auch für immer. Für Russland wäre das eine immer weiter wachsende, absolut inakzeptable Bedrohung.

Bereits heute wird die Lage für unser Land durch die Erweiterungsrunden der NATO mit jedem Jahr schlechter und gefährlicher. Mehr noch, in den vergangenen Tagen hat die Führung der NATO offen davon gesprochen, dass das Vorrücken der Infrastruktur der Allianz in Richtung unserer Grenzen unbedingt beschleunigt und forciert werden müsse. Mit anderen Worten: sie nehmen eine noch härtere Position ein. Wir können nicht mehr einfach nur zuschauen, was da geschieht. Es wäre absolut verantwortungslos.

Ein weiteres Vordringen der Infrastruktur der Nordatlantik-Allianz, die bereits begonnene militärische Aneignung des ukrainischen Staatsgebiets: das ist für uns inakzeptabel. Natürlich geht es dabei nicht um die NATO an sich, als Organisation. Sie ist nur ein Instrument der amerikanischen Außenpolitik. Das Problem besteht darin, dass in Gebieten direkt an unseren Grenzen, Gebieten wohlgemerkt, die historisch zu uns gehören, ein uns feindlich gesinntes „Anti-Russland“ geschaffen wird, das vollständig unter externer Kontrolle steht, in dem sich mehr und mehr NATO-Staaten festsetzen und das mit modernsten Waffen hochgerüstet wird.

Für die USA und ihre Verbündeten ist das eine sogenannte Containment-Politik: Russland wird zurückgedrängt, und das bringt klare geopolitische Gewinne ein. Für unser Land aber ist es letztlich eine Frage von Leben oder Tod. Es geht darum, ob unser Volk in der Geschichte eine Zukunft hat. Das ist keine Übertreibung. Genau darum geht es. Um eine reale Gefahr nicht nur für unsere Interessen, sondern für die schiere Existenz unseres Staates, für seine Souveränität. Genau das ist die rote Linie, von der ich mehrfach gesprochen habe. Sie haben sie überschritten.

In diesem Zusammenhang komme ich zur Lage im Donbass. Wir sehen, dass die Kräfte, die sich 2014 in der Ukraine an die Macht geputscht haben und ihre Positionen bislang mit Hilfe von im Grunde rein dekorativen Wahlprozeduren behaupten, einer friedlichen Konfliktlösung endgültig eine Absage erteilt haben. Acht Jahre lang, acht endlose Jahre lang haben wir alles Menschenmögliche getan, um den Konflikt auf friedlichem, politischem Weg zu lösen. Es war alles vergeblich.

Ich habe schon in meiner letzten Ansprache gesagt, man kann nicht ohne Mitgefühl mitansehen, was dort geschieht. Es war einfach unmöglich, noch länger zuzuschauen. Dieser Albtraum – der Genozid an Millionen Menschen, die dort leben und deren einzige Hoffnung Russland ist, also wir sind – dieser Albtraum musste auf der Stelle beendet werden. Es waren die Wünsche und Gefühle, das Leid der Menschen dort, die uns vor allem anderen zu unserem Entschluss motiviert haben, die Volksrepubliken im Donbass anzuerkennen.

Eines möchte ich zudem betonen. Die führenden NATO-Länder unterstützen im Interesse ihrer eigenen Ziele auf jede mögliche Weise die extremen Nationalisten und Neonazis in der Ukraine, und diese Leute werden den Menschen auf der Krim und in Sevastopol‘ niemals verzeihen, dass sie sich in einer freien Wahl für die Wiedervereinigung mit Russland entschieden haben.

Sie werden natürlich die Hand nach der Krim ausstrecken, und natürlich werden sie, wie schon im Donbass, einen Krieg anfangen, sie werden morden, so wie seinerzeit auch die nationalistischen ukrainischen Banden und ihre Strafkommandos, Hitlers Handlanger im Großen Vaterländischen Krieg, unschuldige Menschen ermordet haben. Und sie erheben ganz offen Anspruch auf eine ganze Reihe weiterer russländischer Gebiete.

Die ganze Entwicklung der Ereignisse und die Analyse der vorliegenden Informationen zeigt, dass Russland der Konfrontation mit diesen Kräften nicht ausweichen kann. Es ist nur eine Frage der Zeit: Sie bereiten sich vor, sie warten auf einen günstigen Moment. Jetzt fordern sie auch noch eigene Nuklearwaffen. Das werden wir nicht zulassen.

Ich sage es nicht zum ersten Mal: Russland hat die neuen geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der Sowjetunion akzeptiert. Wir respektieren alle neugegründeten Staaten im postsowjetischen Raum, und das wird auch so bleiben. Wir respektieren heute und in Zukunft ihre Souveränität – ein Beispiel dafür ist die Hilfe, die wir Kasachstan geleistet haben, als es in einer tragischen Situation seine Staatlichkeit und Integrität bedroht sah. Aber Russland kann sich nicht sicher fühlen, es kann sich nicht entwickeln, nicht leben mit der ständigen Bedrohung, die heute von der Ukraine ausgeht.

Ich erinnere daran, dass wir in den Jahren 2000-2005 die Terroristen im Kaukasus militärisch in die Schranken gewiesen und die Integrität unseres Staats verteidigt haben, wir haben Russland gerettet. 2014 haben wir die Menschen auf der Krim und in Sevastopol‘ unterstützt. 2015 haben wir unsere Streitkräfte eingesetzt, um dem Eindringen von Terroristen aus Syrien nach Russland einen verlässlichen Riegel vorzuschieben. Eine andere Möglichkeit, uns zu verteidigen, hatten wir nicht.

Heute geschieht wieder dasselbe. Man lässt uns, Ihnen und mir schlicht keine andere Möglichkeit, Russland und unsere Leute zu verteidigen. Es bleibt nur der Schritt, zu dem wir uns heute gezwungen sehen.

Die Umstände verlangen entschlossenes und rasches Handeln. Die Volksrepubliken im Donbass haben ein Hilfegesuch an Russland gerichtet.

Ich habe deshalb in Übereinstimmung mit Artikel 51 Absatz 7 der Charta der Vereinten Nationen, mit Zustimmung des Russländischen Föderationsrats und in Erfüllung der von der Föderationsversammlung ratifizierten Freundschafts- und Beistandsverträge mit der Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik den Beschluss gefasst, einen militärischen Spezialeinsatz durchzuführen.

Er dient dem Schutz jener Menschen, die seit acht Jahren den Schikanen und dem durch das Kiewer Regime verübten Genozid ausgesetzt sind. Um sie zu schützen, streben wir die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine an. Diejenigen, die sich dieser unzähligen blutigen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, darunter auch Staatsbürger der Russländischen Föderation, schuldig gemacht haben, werden wir vor Gericht bringen.

Es ist dabei nicht unser Ziel, ukrainische Territorien zu besetzen. Wir werden niemandem irgendetwas mit Gewalt aufzwingen. Andererseits werden im Westen, so hören wir, in letzter Zeit immer öfter Stimmen laut, die finden, die vom totalitären sowjetischen Regime unterzeichneten Verträge, die das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs festgeschrieben haben, sollten nicht mehr eingehalten werden. So so, und wie soll man darauf wohl reagieren?

Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die Opfer, die unser Volk für den Sieg über den Nazismus gebracht hat, sind uns heilig. Gleichzeitig achten wir die hohen Werte der Freiheits- und Menschenrechte, auf der Basis jener Realität, die sich in den Jahrzehnten seit dem Krieg entwickelt hat. Dies gilt auch für das Recht der Völker auf Selbstbestimmung, das in Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen verbrieft ist.

Ich erinnere daran, dass niemand je die Menschen, die in den verschiedenen Gebieten der heutigen Ukraine leben, gefragt hat, wie sie ihr Leben einrichten wollen, weder bei der Gründung der Sowjetunion noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Prinzip unserer Politik dagegen ist: Freiheit, freie Wahl für jedermann, selbst über die eigene Zukunft und die seiner Kinder zu entscheiden. Wir halten es für äußerst wichtig, dass dieses Recht, das Recht auf Entscheidungsfreiheit, von allen Völkern in Anspruch genommen werden kann, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine leben, von allen, die dies wünschen.

In diesem Zusammenhang wende ich mich auch an die Bürger der Ukraine. Im Jahr 2014 musste Russland die Bewohner der Krim und Sewastopols vor denen beschützen, die Sie selbst als „kleine Nazis“ bezeichnen. Die Menschen auf der Krim und in Sewastopol haben ihre Wahl getroffen. Sie wollten Teil ihrer historischen Heimat sein, Teil Russlands, und wir haben das unterstützt. Anders konnten wir, wie gesagt, gar nicht handeln.

Die heutigen Ereignisse haben nichts damit zu tun, dass wir den Interessen der Ukraine und des ukrainischen Volks schaden wollen. Es geht vielmehr darum, Russland selbst vor denen zu schützen, die die Ukraine zur Geisel gemacht haben und versuchen, sie für den Kampf gegen unser Land und sein Volk zu missbrauchen.

Ich sage es noch einmal: Unser Vorgehen dient der Selbstverteidigung gegen die Gefahren, die uns drohen, und gegen ein noch größeres Unglück als das, was heute geschieht. So schwer es auch fällt, ich bitte Sie, dies zu verstehen, und rufe zu gemeinsamem Handeln auf, damit wir diese tragische Seite der Geschichte möglichst rasch umblättern und gemeinsam nach vorne schauen können, in eine Zukunft, in der wir niemandem mehr erlauben werden, sich in unsere Angelegenheiten, unser Verhältnis einzumischen, sondern unsere Beziehungen eigenständig gestalten – auf eine Weise, die die notwendigen Voraussetzungen für die Überwindung aller Probleme schafft, so dass wir ungeachtet bestehender Staatsgrenzen von innen heraus als geeintes Ganzes gestärkt werden. Daran glaube ich, an genau diese gemeinsame Zukunft.

Ich muss mich auch an die Soldaten der Streitkräfte der Ukraine wenden.

Kameraden! Eure Väter und Großväter haben nicht dafür gegen die Nationalsozialisten gekämpft und unsere gemeinsame Heimat verteidigt, damit die heutigen Neonazis in der Ukraine die Macht an sich reißen. Ihr habt dem ukrainischen Volk Treue geschworen, nicht der antinationalen Junta, die die Ukraine ausraubt und genau jenes Volk erniedrigt.

Widersetzt Euch ihren verbrecherischen Befehlen. Ich rufe Euch auf, unverzüglich die Waffen niederzulegen und nach Hause zu gehen. In aller Klarheit: Alle Soldaten der ukrainischen Armee, die diese Forderung erfüllen, können die Kampfzone ungehindert verlassen und zu ihren Familien heimkehren.

Ich unterstreiche nochmals mit Nachdruck: Alle Verantwortung für ein mögliches Blutvergießen lastet voll und ganz auf dem Gewissen des auf dem Gebiet der Ukraine herrschenden Regimes.

Und jetzt einige wichtige, sehr wichtige Worte an alle, die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen. Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, und sie wird Folgen für Sie haben, wie Sie sie in ihrer Geschichte noch nicht erlebt haben. Wir sind auf alle Entwicklungen vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich hoffe, meine Worte werden gehört.

Sehr geehrte Bürger Russlands,

das Wohl, ja die Existenz ganzer Staaten und Völker, ihr Erfolg und ihre Lebensfähigkeit speisen sich immer aus dem mächtigen Wurzelsystem ihrer eigenen Kultur und ihrer Werte, aus den Erfahrungen und Traditionen ihrer Vorfahren. Ebenso hängen sie natürlich von der Fähigkeit ab, sich rasch an eine sich stetig wandelnde Welt anzupassen, sowie von der Geschlossenheit der Gesellschaft, ihrer Bereitschaft, sich zu konsolidieren, alle Kräfte zu sammeln und zu einen, um vorwärts zu schreiten.

Macht braucht man immer, zu jeder Zeit. Aber es gibt verschiedene Arten von Macht. Die Politik des „Imperiums der Lüge“, von dem ich eingangs gesprochen habe, beruht vor allem auf einer primitiven, grobschlächtigen Macht – „was man nicht im Kopf hat, braucht man in den Armen“, sagt man dazu bei uns.

Wir aber wissen, dass wahre Stärke sich aus Gerechtigkeit und Wahrheit speist, und diese sind auf unserer Seite. Und da das so ist, kann man wohl kaum leugnen, dass die Kraft und die Bereitschaft zum Kampf die Grundlage für Unabhängigkeit und Souveränität sind, dass sie jenes unerlässliche Fundament darstellen, auf dem allein man die eigene Zukunft aufbauen kann, das eigene Haus, die Familie, die Heimat.

Sehr geehrte Landsleute!

Ich bin sicher, dass die treu ihrem Land dienenden Soldaten und Offiziere der Streitkräfte Russlands ihre Pflicht professionell und mit Mut erfüllen werden. Ich zweifle nicht daran, dass alle Ebenen des Staatsapparats reibungslos und effektiv arbeiten werden, die Spezialisten, die für die Widerstandskraft unserer Volkswirtschaft, unseres Finanzsystems und unserer Sozialsysteme verantwortlich sind, die Chefs unserer Unternehmen, die gesamte russländische Wirtschaft. Ich erwarte eine geschlossene patriotische Haltung von allen Parlamentsparteien und allen gesellschaftlichen Kräften.

Letztendlich, und so war es stets in der Geschichte, liegt das Schicksal Russlands in den starken Händen seines multinationalen Volks. Das heißt, die getroffenen Entscheidungen werden umgesetzt, die vorgegebenen Ziele erreicht, und die Sicherheit unserer Heimat ist zuverlässig garantiert.

Ich glaube fest an Ihre Unterstützung und an jene unbesiegbare Kraft, die unsere Liebe zum Vaterland uns verleiht.

Moskau, den 24. Februar 2022

http://kremlin.ru/events/president/news/67843

Aus dem Russischen von Volker Weichsel und Olga Radetzkaja

Redaktion Osteuropa, Berlin