Wachsende Gebietsverluste
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 172. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 7.7.2025
Die Ukraine verliert im Osten des Landes immer mehr Gebiete. Seit Anfang Mai musste sich die Armee aus einer Fläche von der halben Größe des Saarlands zurückziehen. Besonders kritisch ist die Situation im Raum Kostjantynivka. Russlands Angriffe gehen mit hohen Verlusten einher, eine Einstellung der Offensive ist jedoch nicht abzusehen. Immer deutlicher wird bei den massiven Luftangriffen Russlands auch die Überlastung der ukrainischen Luftabwehr. Fatal sind die ausbleibenden Lieferungen aus den USA. Selbst wenn Washington doch weitere Raketen für die Patriot-Systeme liefern sollte, ist deutlich: Für Washington hat die Lage im Nahen Osten strategische Priorität.
Am 2. Juli berichteten US-Medien, die USA hätten am Vortag ohne öffentliche Ankündigung die Lieferung von Luftabwehrsystemen an die Ukraine eingestellt, darunter auch solcher, die bereits in Polen zur Übergabe bereitstanden. Nur einen Tag später erklärte US-Präsident Trump nach einem Telefongespräch mit Russlands Präsidenten Putin und schweren russländischen Luftangriffen auf Kiew wenige Stunden nach diesem Gespräch, es werde doch weitere US-Militärhilfe geben.
Grund des Zickzack-Kurses ist, dass die Ukraine für die US-Administration keine oberste Priorität hat. Das Hauptaugenmerk gilt dem Iran. Sollte Teheran nach den Luftangriffen Israels und der USA auf die iranischen Atomanlagen bei dem angekündigten Ausstieg aus der Internationalen Atomaufsichtsbehörde IAEO bleiben und versuchen, die der Zerstörung entgangenen Zentrifugen und andere Gerätschaften an einem anderen Ort wieder in Betrieb zu nehmen, ist mit weiteren Luftschlägen der beiden Staaten zu rechnen. Der Iran würde wahrscheinlich mit neuen Raketenangriffen auf US-Stützpunkte oder arabische Verbündete der USA reagieren. Washington braucht daher zum einen ausreichend Luftabwehrsysteme in der Region; zum anderen gibt es ein erhebliches Interesse daran, dass Russland, das den Luftraum über dem Iran und dem Persischen Golf überwacht, dem Iran, dessen Frühwarnsysteme weitgehend zerstört sind, keine Informationen über anfliegende Flugzeuge des Gegners weitergibt.
Möglicherweise wollte Trump mit der einen Tag vor dem Telefonat angekündigten Einstellung der Lieferung auch ein Zeichen an Putin senden – und gab seinen Kurs – der ohnehin auf scharfe Kritik wichtiger US-Politiker sowie der Unterstützerstaaten der Ukraine gestoßen war – wieder auf, nachdem er bei dem Gespräch mit Putin keine Einigung erzielt hatte. Auffällig ist, dass praktisch zeitgleich mit einem Telefonat zwischen dem ukrainischen Präsidenten Zelens’kyj und Trump am 4. Juli bekannt wurde, dass die Nationale Antikorruptionsbehörde der Ukraine (NABU) eine Hausdurchsuchung beim ehemaligen Verteidigungsminister Oleksij Reznikov durchgeführt hat, gegen den während seiner Amtszeit von November 2021 bis September 2023 zahlreiche Vorwürfe in Zusammenhang mit dem Erwerb von Rüstungsgütern für die ukrainische Armee zu angeblich überhöhten Preisen erhoben worden waren. Trump hat mehrfach davon gesprochen, dass Korruption bei den Waffenlieferungen an die Ukraine eines der Themen sei, die ihm am meisten Sorge mache.
Die Lage an der Front
Russland hat am Tag nach dem ergebnislosen Gespräch zwischen Putin und Trump mit neuen Reservekräften eine weitere Front eröffnet. Am 4. Juli drangen russländische Truppen aus dem Gebiet Belgorod kommend an einem zuvor nicht umkämpften Grenzabschnitt in das ukrainische Gebiet Charkiv ein. Kiew hatte an dieser Stelle nur geringe Kräfte zur Verteidigung aufgestellt, weshalb es der Besatzungsarmee rasch gelang, das 100 Kilometer östlich von Charkiv gelegene grenznahe Dorf Milove und das Umland am westlichen Ufer des Flusses Oskil einzunehmen. Offenbar konnten die vorrückenden Truppen erst an der dritten Verteidigungslinie von eilig herangeführten ukrainischen Kräften gestoppt werden.
Gravierender gestaltet sich die Situation für die Ukraine im Raum der bereits von drei Seiten umzingelten Stadt Kostjantynivka. Wie jetzt erst bekannt wurde, hat die ukrainische Armeeführung die 3. Sturmbrigade der ukrainischen Armee – eine der kampffähigsten Einheiten, die die südwestliche Flanke von Kostjantynivka verteidigt hatte – nach dem Durchbruch der russländischen Truppen nördlich von Lyman in diesen Raum verlegt. Es gelang ihr auch, den Vorstoß am 28. Juni bei Ridkodub zu stoppen und bei einem Gegenangriff einen Infanteriezug des 283. motorisierten Schützenregiments der 20. russländischen Armee zu vernichten. Die eigentliche Durchbruchstelle konnte sie jedoch nicht sichern. Vielmehr hat die russländische Armee diesen mit der Eroberung von zwei zu beiden Seiten des Durchbruchs gelegenen Siedlungen erweitert. Im Raum Kostjantynivka konnten die Okkupationstruppen nach dem Abzug der 3. ukrainischen Sturmbrigade die Verteidigungsstellungen des Gegners auf dem Gelände der Kohlegrube Matrona Moskovskaja im Norden von Torec’k einnehmen und damit einen weiteren Vormarsch auf Kostjantynivka von Süden ermöglichen.
Am 6. Juli hat der Chef der ukrainischen Militärverwaltung des Gebiets Donec’k Vadym Filaškin die Evakuierung nicht nur von Kostjantynivka, sondern auch der zehn Kilometer nördlich an der Straße Richtung Kramators’k gelegenen Stadt Družkivka angeordnet, wo vor dem Überfall Russlands rund 50 000 Menschen lebten.
Die meisten Sorgen muss Kiew allerdings die Lage im Raum Pokrovs’k bereiten. Dort rückte die russländische Armee nach der Einnahme der Siedlung Razine am 3. Juli in den folgenden drei Tagen rasch entlang des Flusses Kazennyj Torec vor. Ziel ist es, die von Pokrovs’k nach Družkivka führende Straße unter Kontrolle zu bringen. Der plötzliche Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung an dieser Stelle ist der ernsteste Vorfall der vergangenen vier Wochen. Die Okkupationstruppen können nun versuchen, die ukrainische Verteidigung im Raum Pokrovs’k nordwestlich zu umgehen, und Kostjantynivka von Südosten kommend noch enger in die Zange nehmen. Der Vorstoß gelang den erheblich verstärkten russländischen Infanterietruppen offenbar erneut unter Einsatz von Motorrädern und Quads. Die Verluste müssen, Videos in entsprechenden Militärkanälen folgend, sehr groß sein. Der Auftrag ist jedoch erfüllt.
Im südlichen Frontabschnitt musste die ukrainische Armee sich westlich von Kurachove an einigen Stellen ebenfalls etwas zurückziehen. Die russländischen Truppen vertreiben die ukrainischen Kräfte in diesem Raum aus den letzten dort verbliebenen Flecken im Gebiet Donec’k und zwingen sie, sich hinter die Verteidigungslinie entlang der Grenze des Gebiets Dnipropetrovs’k zurückzuziehen. So ist die Besatzungsarmee etwa nordwestlich der bereits zuvor eingenommenen Siedlung Komar, wo die ukrainische Armee zuvor große Verteidigungsstellungen hielt, entlang des Flusses Mokrye Jaly vorgedrungen.
Südlich von Zaporižžja hat die Ukraine nach eigenen Angaben die Kontrolle über die Siedlung Kam’jans’ke verloren, die einst am Kachovka-Stausee lag.
Gemessen an der Fläche des eingenommenen Raums rücken die Okkupationstruppen gegenwärtig so schnell wie schon lange nicht vor. Im Juni haben sie 556 km² ukrainischen Territoriums besetzt, im Mai waren es 449 km², alleine in den ersten fünf Juli-Tagen 203 km².
Einen solchen großen Gebietsverlust in nur einer Woche hat die Ukraine zuletzt im November 2024 hinnehmen müssen. Russlands Armee bezahlt dafür jedoch einen hohen Preis, immer neue Videoaufnahmen bestätigen die enorme Zahl der täglich getöteten oder schwer verwundeten Soldaten. Offenbar ist in der Sommerhitze der Steppe auch eine größere Zahl verdurstet, da die Versorgungswege und selbst Dorfbrunnen unter ständiger Drohnenbeobachtung liegen.
Der Luftkrieg
Sowohl Russland als auch die Ukraine haben in der ersten Juliwoche den Luftkrieg erheblich intensiviert. Kiew versuchte, mit Angriffen auf die Heeres- und Flottenführung des Gegners sowie auf Führungszentren und Materiallager der russländischen Armeegruppen im Gebiet Donec’k, Russland zur Einstellung der Offensive im zentralen Abschnitt der dortigen Front zu bringen. Die Angriffe fügten Russland großen Schaden zu, auf die Offensive hatten sie allerdings keine Auswirkung.
Bei einer Attacke auf den Stab der im ehemaligen Institut für Buntmetalle in Donec’k dislozierten 8. Armee Russlands starb am 1. Juli der Kommandeur Oberst Ruslan Gorjačkin und nach unbestätigten Angaben ein weiteres Dutzend Offiziere, die trotz Luftalarms keine Zuflucht in Luftschutzkellern gesucht hatten.
Ein Anschlag auf der Krim am 2. Juli galt dem ersten stellv. Kommandeur der Schwarzmeer-Flotte Vizeadmiral Il’dar Achmerov; ob er getötet oder nur verletzt wurde, ist unklar. Am gleichen Tag erfolgte ein Angriff auf das Stabsgebäude der 155. Marineinfanteriebrigade in Kurenevo im Gebiet Kursk, bei dem neben hochrangigen Offizieren auch der stellvertretende Oberkommandierende der Schwarzmeer-Flotte für die Küstenzonen Michail Gudkov getötet wurde. Er hatte zuvor die Brigade, die vor allem für die Ermordung ukrainischer Kriegsgefangener bekannt geworden ist, geführt und war gerade erst für die Zurückdrängung der ukrainischen Armee aus dem Gebiet Kursk auf den neuen Posten befördert worden. Am Abend des 2. Juli zerstörten ukrainische Drohnen ein großes Munitionsdepot nahe der östlich von Donec’k gelegenen Stadt Charcys’k.
Die Angriffe in Donec’k und Charcys’k sowie auf ein Öllager und eine Drohnenfabrik in Luhans’k am 1. und 2. Juli hat die Ukraine möglicherweise mit britischen Storm Shadow-Raketen geführt, die sie zuvor erstmals nach einer halbjährigen Unterbrechung erhalten hatte.
Auch die Angriffe auf schlecht geschützte Objekte der russländischen Rüstungsindustrie hat die Ukraine fortgesetzt. In der Nacht auf den 1. Juli wurden Ziele in Iževsk, Saratov, Ėngel’s und Rostov sowie in Taganrog, Novošachtinsk und anderen Orten im Gebiet Rostov angegriffen. Ebenso Objekte in Donec’k, Luhans’k und auf der Krim. Die Flughäfen von Rostov, Ul’janovsk und Kazan’ stellten vorübergehend den Flugbetrieb ein. Im 1500 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernten Iževsk schlugen mindestens zwei Drohnen in eine Fabrik ein, in der Raketen vom Typ „Tor“ und „Osa“ sowie Drohnen vom Typ Garpija-1 hergestellt werden. Letztere imitieren die Geran-2-Drohnen und dienen der Überlastung der ukrainischen Flugabwehr.
In der Nacht auf den 7. Juli wurden mehrere Unternehmen in Zentralrussland attackiert, Russland gibt an, 350 Drohnen abgefangen zu haben. Erstmals hat die Ukraine auch einer größeren Zahl von Menschen in Russland, wo große Teile der Gesellschaft den Krieg ignorieren, Unannehmlichkeiten bereitet. Am 6. und 7. Juli mussten rund 2000 Flüge abgesagt werden, vor allem von und mit Zielrichtung Moskau, Petersburg, Nižnij Novgorod. Der Flugverkehr zwischen der Hauptstadt und der Metropole an der Neva wurde zeitweise komplett eingestellt. Zudem wurde erstmals als Maßnahme gegen ukrainische Drohnen das mobile Internet abgeschaltet, betroffen waren 42 Regionen, in denen beispielsweise auch die Bezahlsysteme in Supermärkten ausfielen.
Russlands massive Luftangriffe
Der größte Luftangriff Russlands auf die Ukraine während des gesamten bisherigen Kriegs mit 539 Drohnen und 11 Raketen – eine vom Typ Kinžal, drei vom Typ Iskander-M und 4 Marschflugkörper vom Typ Iskander-K. – fand in der Nacht zum 3. Juli unmittelbar nach dem Telefonat zwischen Trump und Putin statt. Hauptziel des Angriffs war Kiew. Nach Angaben der ukrainischen Luftstreitkräfte schlugen dort an acht Orten neun Raketen und 63 Drohnen ein, 268 Drohnen und zwei Marschflugkörper seien abgefangen worden. Das Muster ist offensichtlich: Zunächst wurde mit einer massiven Drohnenattacke die Luftabwehr überlastet, anschließend folgten die Raketenangriffe. Gelingt es der Ukraine üblicherweise, 80 Prozent der Flugobjekte abzufangen, so lag die Rate in dieser Nacht bei nur 20 Prozent. Die Verluste waren offenbar erheblich. Nach russländischen Angaben seien zwei Patriot-Batterien getroffen worden, eine auf dem Flugplatz Žuljany im Südwesten der Stadt, eine auf dem östlich von Kiew gelegenen Flughafen Boryspil’. Die Flugabwehrsysteme sind an beiden Orten seit zwei Jahren stationiert. Neben dem Flugfeld von Žuljany befindet sich eine Ausbildungsstätte des ukrainischen Geheimdiensts SBU sowie Gebäude des Flugzeugherstellers Antonov. Auch der 20 Kilometer südlich der Stadt in Vasyl’kiv gelegene Luftwaffenstützpunkt war offenbar Ziel der Angriffe.
Nach diesem Schlag auf Kiew am 3. Juli setzte Russland die massiven Luftangriffe in der gesamten 1. Juliwoche fort. Ziele waren u.a. Kraftwerke im Süden und Osten des Landes. Die ukrainische Luftabwehr ist kaum noch in der Lage, die anfliegenden Drohnen und Raketen abzufangen. In Kryvyj Rih schlug erstmals eine Gleitbombe ein, die von einem Flugzeug unweit der Front ausgeklinkt worden war. Dergleichen wäre noch vor kurzem nicht vorgekommen, da die russländischen Piloten damit rechnen mussten, zum Ziel von Patriot-Raketen zu werden und es daher vermieden, nahe an die Frontlinie heranzufliegen. Ziel massiver Drohnenattacken sind immer wieder auch Charkiv, so am Morgen es 7. Juli, sowie Zaporižžja und Mykolajiv. Angesichts des Mangels an Patriot-Abwehrraketen versucht die Ukraine, auf Flugabwehr mit Drohnen umzustellen. Doch bis diese in ausreichender Menge hergestellt werden können, wird viel Zeit vergehen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.