Wachsende ukrainische Not

Nikolay Mitrokhin

Die 125. Kriegswoche, 24.7.2024

Russland setzt seine Angriffe im Osten der Ukraine mit unverminderter Härte fort. Die ukrainische Armee ist insbesondere im Gebiet Donec’k unter starkem Druck und wird schrittweise zurückgedrängt. Es handelt sich jedoch weiter um kleinräumige Gebietsverluste. Auch den Luftkrieg setzen beide Seiten fort.

Die Lage der ukrainischen Armee hat sich in der 125. Kriegswoche im Gebiet Donec’k deutlich verschlechtert. Die russländischen Okkupationstruppen sind dort auf breiter Linie zwischen Sivers’k im Norden und dem bei Vuhledar gelegenen Krasnohorivka im Süden vorgedrungen. Besonders ernst ist die Situation im Raum Torec’k. Dort könnten ukrainische Verbände in der Kleinstadt N‘ju-Jork – wie zuvor Ende April bei Očeretine – eingekesselt werden. An den anderen Frontabschnitten ist die Lage stabil, lediglich nordwestlich der im Gebiet Luhans’k gelegenen Stadt Svatove haben russländische Einheiten die ukrainische Verteidigung etwas zurückgedrängt und die Ruinen einer Siedlung eingenommen, die bereits auf dem Territorium des Gebiets Charkiv liegt.

Bei Sivers’k hat die russländische Armee in einer bereits seit Februar 2023 bestehenden, nach Osten weisenden Frontausbuchtung die hinter den ukrainischen Linien liegende Siedlung Ivano-Dar’jivka eingenommen. Kann die Ukraine den Durchbruch nicht rasch beseitigen, ist das gesamte Gebiet der Ausbuchtung in Gefahr und die Okkupationstruppen stehen spätestens in einigen Wochen vor Sivers’k. Dies hätte erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Verteidigung des nordöstlichen Teils des Gebiets Donec’k. Die von Kiew angestrebte Rückeroberung von Kreminna oder Lysyčans’k würde in weite Ferne rücken.

Im Raum der Agglomeration von Torec’k rücken die Besatzungstruppen sehr viel schneller vor, als ihnen dies bei den Angriffen auf andere Städte im Donbass in den letzten zwei Jahren möglich gewesen war. N’ju-Jork im Süden dieses Raums haben sie bereits zur Hälfte erobert. Rechts der Kleinstadt hat sich ein langer und schmaler Halbkessel gebildet, in dem sich die ukrainischen Truppen befinden, die die äußere Front schützen. Sie werden nun von russländischen Sturmtrupps angegriffen, die hinter die ukrainischen Linien gelangt sind. Aber auch an anderen Orten in der Agglomeration sieht es nicht gut aus für die Ukraine. In mehreren Orten sind die russländischen Truppen bereits in die äußeren Straßenzüge eingedrungen und haben dort die Hochhäuser besetzt, in denen sich bei früheren Kämpfen um Städte und Siedlungen die ukrainischen Verteidiger stets lange verschanzen konnten. Wenn es hier zu keiner Wende kommt, wird die Ukraine zum Ende des Sommers die Agglomeration verloren haben.

Bei Pokrovs’k, wo die russländischen Truppen nach der Eroberung von Avdijivka besonders intensiv auf die ukrainischen Linien angestürmt waren, hat die Ukraine in der 125. Kriegswoche lediglich eine weitere Siedlung verloren. Doch dies dürfe eher darauf hindeuten, dass Russland Reservekräfte umgruppiert und daher den Druck für einen Augenblick verringert hat.

Bei Krasnohorivka, einer recht großen Kleinstadt mit rund 15 000 Einwohnern zum Zeitpunkt des Überfalls auf die Ukraine, scheint sich die Lage ebenfalls schlecht für die Ukraine zu entwickeln. Nach russländischen Angaben stehen die eigenen Truppen im Stadtzentrum, die ukrainischen mussten sich in die Außengebiete zurückziehen.

Es deutet sich somit an, dass die russländischen Truppen zum Ende des Sommers genau jene Aufgabe erfüllt haben werden, die ihnen Anfang des Jahres gestellt worden war: die ukrainische Armee mindestens 20 Kilometer von der westlichen Stadtgrenze von Donec’k zurückzudrängen. Real sind es stellenweise bis zu 40 Kilometer, was der Reichweite der meisten Artilleriegeschütze entspricht. Mit dem Verlust der mächtigen Verteidigungsstellungen, die die Ukraine dort in den Jahren 2015 errichtet hatte, ginge auch jede reale Chance verloren, Donec’k, die Hauptstadt der Region, mit militärischen Mitteln zurückzuerobern. In den ukrainischen Medien spielt dies jedoch fast keine Rolle. Nahezu alle Aufmerksamkeit ist auf die Geschehnisse im Gebiet Charkiv konzentriert.

Die Verluste am Brückenkopf Krynki

Eine Veröffentlichung der ukrainischen Plattform „Slidstvo.info“ zu den Verlusten der eigenen Armee bei der Aufrechterhaltung des im Juni 2024 aufgegebenen Brückenkopfs in Krynki am linken Ufer des Dnipro hat in der dritten Juliwoche für Aufregung gesorgt. In den acht Monaten, in denen sich ukrainische Verbände seit Oktober 2023 dort festgesetzt hatten, seien 788 Soldaten ohne Lebenszeichen verschwunden, die Leichen von weiteren 262 seien geborgen und über den Dnipro gebracht worden. 1050 Mann also, um einen winzigen Brückenkopf zu halten. Viele Menschen in der Ukraine fragen, ob solche Verluste gerechtfertigt waren. Die Abgeordnete des Ausschusses für Nationale Sicherheit des ukrainischen Parlaments Solomija Bobrovs’ka kündigte an, der Ausschuss werde sich mit dieser Frage beschäftigen.

Tatsächlich handelt es sich um hohe Verluste, die Zweifel an der offiziellen Statistik aufkommen lassen. Allerdings stechen sie nicht aus dem Gesamtbild dieses blutigen Krieges heraus. Bei der Eroberung eines einzigen Stadtviertels von Časiv Jar sind etwa 3000 russländische Soldaten ums Leben gekommen. Um die Ruinen von Bachmut und Soledar – eine Mittelstadt mit einst knapp 80 000 Einwohnern und eine Kleinstadt mit vormals rund 11 000 Bewohnern – einzunehmen, hat Moskau das Leben von jeweils 25 000 Männern geopfert.

Fest steht, dass der Brückenkopf nicht lediglich symbolische Bedeutung hatte, sondern den Zweck erfüllte, russländische Kräfte zu binden und die Moskauer Armeeführung zur Verlegung von wertvollem Gerät an diesen Ort zu bewegen, das anschließend mit Drohnen zerstört werden sollte. Einiges spricht dafür, dass der Brückenkopf diesen taktischen Zweck tatsächlich erfüllte. Kurz nach seiner Aufgabe begannen nicht nur die heftigen Angriffe auf die Inseln im Dnipro. Auch der Verlust von Staromajorske und Urožajne im Raum Velyka Novosilka fällt unmittelbar in die Zeit nach dem ukrainischen Rückzug aus Krynki.

Der Luft- und der Seekrieg

Am 19. Juli wurden beim Einschlag einer russländischen Rakete in der Stadt Čuhujiv im Gebiet Charkiv acht Menschen verletzt. Am gleichen Tag tötete eine russländische Rakete in Mykolajiv vier Menschen, darunter ein Kind und zwei ältere Frauen. 24 weitere Menschen wurden verletzt. Am folgenden Tag führten Drohnenangriffe Russlands auf ukrainische Energieinfrastruktur zu erheblichen Schäden in den Gebieten Poltava, Sumy, Charkiv und Černihiv. Im Gebiet Charkiv fuhren zeitweise keine Züge.

Die Ukraine griff ihrerseits am 18. Juli erstmals seit längerer Zeit in einer kombinierten Attacke von zehn Seedrohnen und 33 unbemannten Flugkörpern Ziele auf der Krim an. Russländische Quellen behaupten, alle Objekte seien abgeschossen worden, nur herabstürzende Trümmer hätten bei Evpatorija kleinere Schände verursacht. Die ukrainische Militärführung spricht davon, ein Kommandostab, ein Munitionslager, ein Umspannwerk und Feuerstände des Gegners seien getroffen worden. Mit Bildmaterial ist lediglich bestätigt, dass die Seedrohnen in den seit den 1960er Jahren zum Meer hin geöffneten ufernahen Salzsee Donuslav eingedrungen und Schäden im Bereich des dortigen Marinehafens angerichtet haben.

Zwei Tage später attackierte die Ukraine mit Drohnen einen Militärflugplatz nahe Millerovo im Gebiet Rostov. Russländischen Militärbloggern zufolge wurden 26 Objekte abgeschossen oder mit elektronischen Gegenmaßnahmen vom Kurs abgebracht. Bilder zeigen jedoch drei Brandherde auf der Basis. Die dort stationierten Flugzeuge waren offenbar nach Auslösung von Luftalarm gestartet. Der dem Militärgeheimdienst GRU zuzuordnende Kanal Rybar‘ kritisierte, dass es immer noch keine Hangars gebe, in denen die Flugzeuge gegen Drohnenangriffe geschützt werden können, obwohl die Angriffskapazitäten der Ukraine kontinuierlich wüchsen. Am 21. Juli präsentierte die ukrainische Armee überzeugende Bilder von der Zerstörung eines BUK-Raketensystems mit einer HIMARS M142-Rakete. In der folgenden Nacht flogen erneut eine große Zahl ukrainischer Angriffsdrohnen Ziele in Russland an. Das Moskauer Verteidigungsministerium sprach von 47 über dem Gebiet Rostov und 17 über dem Schwarzen Meer abgeschossenen Objekten. Über mehreren Gebieten im westlichen Russland seien weitere Drohnen abgefangen worden. Einschläge, die zu einer Unterbrechung des Produktion führten, hat es aber offensichtlich in der Raffinerie in Novošachtinsk (Gebiet Rostov), der größten in Südrussland, sowie in der Raffinerie von Tuapse (Bezirk Krasnodar) und auf einem Militärflugplatz bei Morozovsk (Gebiet Rostov) gegeben.

Zu alldem kommen die permanenten Angriffe beider Seiten auf Ziele im Grenzgebiet hinzu. Aus den Angaben beider Kriegsparteien geht hervor, dass jede Woche sowohl auf ukrainischer als auch auf russländischer Seite mehr als 100 Drohnen, Raketen sowie Artillerie- und Mörsergranaten niedergehen. Einige grenznahe Dörfer auf russländischer Seite sind evakuiert, nun tauchen Beschwerden aus anderen Siedlungen auf, dass sie in gleicher Weise Angriffen ausgesetzt seien wie die geräumten Orte. Auch über die ungerechte Zuweisung von Kompensationen wird geklagt. Betroffen ist nicht nur das Gebiet Belgorod, sondern auch das Gebiet Kursk, wo mittlerweile ebenfalls nahezu täglich Einschläge stattfinden. Der Gouverneur des Gebiets Belgorod ordnete am 22. Juli an, Frauen mit Kindern, deren Wohnsitz sich in einer Entfernung von weniger als 20 Kilometer von der Grenze zu Ukraine befindet, seien davon zu überzeugen, dass sie diesen verlassen. Die „Sicherheitszone“, von der Putin gesprochen hat, ist mithin im Gebiet Belgorod halboffiziell bereits eingerichtet – allerdings nicht wie geplant auf der ukrainischen Seite der Grenze, sondern auf der russländischen.

Und die Lage wird sich nicht bessern: Die ukrainische Armee hat Bilder von Übungseinsätzen einer First-Person-View-Drohne veröffentlicht, die mit Plastiksprengstoff ausgerüstet ist. Eine solche Drohne erzielt die Sprengwirkung einer 155-Millimeter-Granate und kann ein kleineres Haus zum Einsturz bringen, während bislang meist nur die Sprengwirkung einer Handgranate oder maximal einer Mörsergranate erzielt wurde. Bisher hatten sich Soldaten im Häuserkampf vor solchen Drohnen in Innenräumen vor den Splittern explodierender Granaten geschützt, die von Drohnen abgeworfen wurden. Die mit Plastiksprengstoff ausgestatteten Flugobjekte werden die Häuser zerstören, in denen sich gegnerische Soldaten verstecken.

Anzeichen von Rekrutierungsproblemen in Russland

In der dritten Juli-Woche wurde durch eine Todesanzeige bekannt, dass Mitte April ein Teenager aus dem Gebiet Tjumen‘ an der Front gefallen ist, der erst einen Monat zuvor volljährig geworden war. Er hatte keinen Grundwehrdienst absolviert, sondern direkt nach seinem 18. Geburtstag einen Vertrag mit der Armee unterschrieben – und war an die Front geschickt worden. Weitere ähnliche Fälle sind bekannt. Sie zeigen, wie das Verbot, Wehrpflichtige zum Kriegseinsatz heranzuziehen, unterlaufen wird und geben einen Hinweis darauf, dass die offiziellen Verlautbarungen über die große Zahl an Freiwilligen nicht den Tatsachen entsprechen. In die gleiche Richtung deutet auch eine Ankündigung der Behörden der Republik Tatarstan. Dort erhält nun jeder, der eine andere Person für die Armee wirbt, eine Prämie von 100 000 Rubel (rund 1000 Euro).

Aus dem Russischen von Volker Weichsel

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.