"Menschen sind keine Waffen"

hr2-Interview vom 15. November 2021 mit Dr. Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, zur Situation im polnisch-belarussischen Grenzgebiet.

Herr Sapper, Polen will die Krise alleine lösen. Obwohl die Europäische Grenzschutzagentur Frontex in Warschau sitzt, wurden von dort keine zusätzlichen Kräfte angefordert. Jetzt allerdings überlegt Warschau, die NATO um Beistand zu bitten. Wäre das ein Fall für die NATO?

Sapper: Nein. Das ist kein Fall für die NATO. Wir müssen sowohl gedanklich als auch sprachlich abrüsten. Womit wir hier konfrontiert sind, ist kein hybrider Krieg. Es ist die Fortsetzung der kriminellen Praxis des Diktators Lukaschenko, der seit den gefälschten Wahlen im August letzten Jahres die eigene Bevölkerung in Geiselhaft genommen hat. Er steht mit dem Rücken zur Wand, schlägt um sich und hat die Erpressungsmethode gefunden, Menschen als Druckmittel zu benutzen. Aber Menschen sind keine Waffen. Deshalb ist es völlig absurd, wenn deutsche Politiker, europäische Politiker, primär polnische Politiker, die NATO ins Spiel bringen. Das ist weder ein Fall für eine Konsultation, noch ist es ein Fall einer territorialen Bedrohung. Das ist Unfug. Rüsten wir ab, denken wir schärfer!

Wenn Sie aber Lukaschenko ansprechen: Er führt Europa vor. Er hat genau die Stelle gefunden, an der die EU verwundbar ist. Und obendrein dürfte Lukaschenko durch das Schleusergeschäft auch noch einiges an Devisen einstreichen. Also doch ein Sieg für ihn auf ganzer Linie?

Sapper: Das hängt davon ab, wie die Europäische Union reagiert. Die EU darf sich nicht erpressen lassen, genau das ist sein Ziel. Aber wir sollten daran denken, wie wir eine solche Situation innerstaatlich regeln. Wenn ein Krimineller andere Menschen umbringt, bedeutet das nicht, dass der Staat oder die Justiz sich mit diesem Kriminellen gemein machen. Sondern es gilt das Rechtsstaatsprinzip. Und genau dies gilt auch im Umgang mit den Menschen an der Grenze und es gilt im Umgang mit Diktator Lukaschenko. Wir dürfen uns nicht von ihm auf die gleiche kriminelle Ebene herabzwingen lassen. Das heißt, wir müssen uns um humanitäre Hilfe für diese Menschen kümmern, wir müssen die Regeln, wie die Grenzen gesichert werden einhalten. Wir müssen das Asylgesetz beachten – all das, was wir in der Europäischen Union als gemeinsame Werte zusammengestellt haben. Das gilt es zu verteidigen.

Lukaschenko hat heute gesagt: Wir würden alle Geflüchteten ja nach Hause fliegen, aber die sind stur. Was ist das jetzt für ein Winkelzug?

Sapper: Die Lüge ist die Münze im Tauschhandel, den Lukaschenko versucht. Er lügt. Wir wissen ganz genau, wie das belarussische Regime in den vergangenen Wochen und Monaten versucht hat, Menschen zuerst nach Litauen und dann nach Polen zu bringen. Litauen hat es anders geregelt als Polen. Litauen hat Frontex eingebunden und dort wird die Situation nach normalen Verfahren kontrolliert. Es ist also überhaupt nicht davon auszugehen, dass das, was Lukaschenko behauptet, auch nur ansatzweise richtig ist.

Welche Rolle spielt da eigentlich Russland? Die EU-Kommission sieht keine klaren Hinweise, dass Lukaschenko Rückendeckung aus Moskau bekommt. Der Kreml dementiert auch vehement. Polens Premierminister Morawiecki allerdings spricht ganz klar von einer neoimperialen Politik Russlands und sagt, Lukaschenko ist der Ausführende, aber sein Auftraggeber sitzt im Kreml.

Das ist übertrieben. Es gibt eine Kumpanei der Diktatoren und ohne die Rückendeckung Russlands wäre der Diktator Lukaschenko, der seit August 2020 illegitim an der Macht ist und sich nur mit Gewalt seiner Sicherheitsapparate dort hält, längst gefallen. Aber es gibt überhaupt keine Hinweise, dass Putin oder das Putinsche Russland hinter dieser Zuspitzung steckt. Das kriminelle Potenzial von Lukaschenko ist so groß, dass er hier überhaupt nicht die Unterstützung von Putin braucht.

Teil des Problems, mit dem wir konfrontiert sind, ist zusätzlich, dass es in Polen eine innenpolitische Zuspitzung gibt. Je schärfer die innenpolitische Konfrontation zwischen der Regierung der PiS und der Opposition, und zwischen der PiS und Brüssel um Rechtsstaatsfragen wird, desto einfacher ist es natürlich für Morawiecki, zur Schließung der eigenen Reihen ein klares Feindbild, in diesem Fall von Russland und Belarus, zum Einsatz zu bringen.

Das ist für Polen eigentlich eine ganz große Chance. Also nicht nur Lukaschenko inszeniert sich, sondern Warschau kann das auch tun. Polen kann die EU vorführen und sich als Macher zu präsentieren.

Ja, zweifellos. Es gibt keinen außenpolitischen Konflikt, der nicht innenpolitisch instrumentalisiert werden kann, und so geschieht es hier auch. Aber man sollte auf keinen Fall gleichsetzen, was in Polen und was in Belarus passiert. Die Ursache ist das kriminelle Vorgehen von Lukaschenko. Und Polen hat das Recht, seine Grenze zu verteidigen. Gleichzeitig halte ich es persönlich für politisch unklug, die EU hier rauszulassen. Die EU sollte ganz zentral in die Regulation dieses Konfliktes eingebunden werden. Dafür gibt es Frontex, dafür gibt es feste Verfahren. Wir sollten diese 4000 Menschen nicht als Bedrohung begreifen, sondern uns auch in dieser Hinsicht noch einmal klarmachen, mit welchen Dimensionen wir konfrontiert sind. 4000 Flüchtlinge in diesem Niemandsgebiet zwischen Belarus und Polen sollen eine Europäische Union von 470 Millionen Menschen in Panik versetzen? Also mal ganz langsam!

Ich bin dafür, sehr sehr schnell diese Menschen reinzulassen, Hilfsorganisationen dorthin zuschicken, ganz schnell Asylverfahren durchzuführen und zu sehen, wer das Recht hat, Asyl zu bekommen. – Und vor allen Dingen gibt uns diese Situation einmal mehr die Aufgabe: Lasst uns endlich eine vernünftige Einwanderungspolitik beschließen. Denn wenn wir das jetzt wieder nicht schaffen, und wir haben es 2015 nicht geschafft, dann wird es nie gelingen, irgendwann eine entspannte europäische Politik gegenüber den Nachbarstaaten zu verfolgen.

Vielen Dank, Manfred Sapper.

Das Gespräch führte Barbara Pieroth.

Autor: Redaktion Der Tag.
Veröffentlicht am 15.11.21 um 18:00 Uhr.
Quelle: © Hessischer Rundfunk.

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