Waffenruhe oder Dauerkrieg

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 164. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 12.5.2025

Das Ringen um einen Waffenstillstand in der Ukraine geht weiter. Die Ukraine steht an der Front unter Druck und will eine sofortige Waffenruhe. Russland hingegen möchte den Druck aufrechterhalten und lehnt daher eine Waffenruhe vor Annahme seiner Friedensbedingungen ab. Moskau muss allerdings damit rechnen, dass die USA neue Sanktionen verhängen. Auch bringt die Ukraine Russlands Schwarzmeer-Flotte in immer größere Gefahr. Am Boden jedoch bleibt die Lage der ukrainischen Armee prekär.

In den ersten anderthalb Maiwochen bekamen die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine neue Dynamik. Nach der Unterzeichnung eines Ressourcen-Abkommens zwischen den USA und der Ukraine, das US-Präsident Trump offenbar trotz ukrainischer Verhandlungserfolge zufriedenstellt, hat die US-Administration Putin unmissverständlich klargemacht, dass die Geduld der Vereinigten Staaten endlich ist und Russland die vorliegenden Vereinbarungen über eine Waffenruhe nun endlich zu erfüllen habe. Andernfalls würden neue Sanktionen verhängt, bei denen – ganz im Stile Trumps – wenig Rücksicht auf eigene Verluste genommen wird. Ähnliches kündigten auch Großbritannien und die wichtigsten Vertreter der „Koalition der Willigen“ aus der EU an, die am 9. Mai in Kiew mit Zelens’kyj zusammentrafen. Die Tanker der Schattenflotte, mit denen Russland den seit Dezember 2022 geltenden Ölpreisdeckel umgeht, würden aus dem Verkehr gezogen. Offenbar hat der Kreml Russlands Ölunternehmen bereits gewarnt, dass mit solchen Sanktionen zu rechnen ist und angesichts der zu erwartenden schweren Folgen staatliche Unterstützung versprochen.

Putin hat auf Zelens’kyjs Schachzug, auf Russlands „Angebot“ einer dreitägigen Waffenruhe mit dem Vorschlag einer 30-tägigen Waffenruhe zu reagieren, keine wirkliche Antwort gefunden. Er ließ verlautbaren, eine Waffenruhe, die nur „der Heranführung neuer Waffen und einem fieberhaften Ausbau der Schützengräben“ diene, brauche niemand, man müsse zu einem langfristigen Waffenstillstand kommen – und schlug die Aufnahme von Verhandlungen in Istanbul am 15. Mai vor. Es ist klar, worum es Putin geht: Der Druck auf die Ukraine soll aufrecht erhalten und es soll verhindert werden, dass sie während einer Waffenruhe die Verteidigungsanlagen ausbaut, um den für Russlands Armee so verlustreichen Angriffen für weitere Jahre standhalten zu können. Putin will den Verhandlungsprozess in die Länge ziehen und die Schuld daran der Ukraine in die Schuhe schieben. Vor allem aber will er den Zeitpunkt der Verhängung neuer Sanktionen gegen Russland möglichst weit nach hinten schieben. Vielsagend ist, dass Putins Ankündigungen einer einseitigen Waffenruhe zu Ostern und zum 9. Mai möglicherweise nicht als Befehl an die Soldaten an der Front weitergegeben wurden. Zelens’kyj und seine Partner haben diese „Friedensinitiative“ natürlich durchschaut und erklärt, ein Waffenstillstand sei Voraussetzung für Verhandlungen. Zu diesen würde Zelens’kyj Putin persönlich in Istanbul erwarten.

Ukrainische Erfolge im Schwarzen Meer

Die Ukraine gibt an, am 3. Mai unweit von Novorossijsk mit wärmesuchenden Luft-Luft-Raketen vom Typ AIM-9 Sidewinder, die auf Magura-Überwasserdrohnen installiert waren, zwei russländische Kampfflugzeuge abgeschossen zu haben. Trifft dies zu, ist die Schlacht eröffnet, bei der es um die endgültige Zerstörung von Russlands Schwarzmeer-Flotte geht. Die Ukraine hat allerdings keinen Videobeweis vorgelegt und Russland spricht von nur einem abgeschossenen Flugzeug, dessen Besatzung von zivilen Schiffen gerettet worden sei, während Marineschiffe wegen anderer ukrainischer Seedrohnen nicht hätten auslaufen können. Statt Bildern vom Abschuss der Flugzeuge hat der ukrainische Militärgeheimdienst einen einstündigen Film über die Herstellung und den Einsatz der Magura-Drohne ins Internet gestellt.

Die Vertreibung der Schwarzmeer-Flotte von der Krim ist der Ukraine bereits weitgehend gelungen. Russland hat diese an das östliche Ufer des Schwarzen Meeres verlegt, vor allem in den Hafen von Novorossijsk, einige Schiffe auch in ein ausgebautes Hafenbecken nahe des abchasischen Küstenorts Očamčira. Russland hat gegen die ukrainischen Seedrohnen kein Gegenmittel gefunden, daher laufen die Schiffe äußerst selten aus. In den vergangenen Monaten gab es nur sehr vereinzelte Meldungen über Angriffe mit Kalibr-Raketen, Russlands wichtigster seegestützter Fernwaffe. Zudem gingen diese meist auf das Konto von U-Booten. Die genannten Häfen sind mit schwimmenden Sperren gesichert, die in mindestens zwei Reihen errichtet wurden, damit die unbemannten Kleinschiffe diese nicht überspringen oder eine erste Seedrohne die Absperrung durchstößt oder springt, und danach der Weg für nachfolgende Angriffsboote frei ist. Zudem werden die Hafeneinfahrten mit Radar überwacht, und Schützen zur Abwehr der Drohnen stehen bereit. Den Seeraum vor den Häfen überwachen Flugzeuge, Hubschrauber und Drohnen. Doch all dies hat im Falle der Häfen an der Westküste der Krim nicht geholfen.

Im Dezember 2024 ist es der Ukraine mit Magura-Seedrohnen erstmals gelungen, einen russländischen Helikopter abzuschießen, nun folgte mindestens ein Kampfflugzeug. Werden auf dem Kleinstschiff Flugdrohnen installiert, die per Glasfaserkabel gesteuert und daher nicht mit elektronischen Gegenmaßnahmen abgefangen werden können, so können diese nach gegenwärtigem Stand der Technik Angriffe in einer Entfernung von bis zu 15 Kilometern vom Ausgangspunkt des Kabels lancieren. Genau daran arbeitet die Ukraine, wie mindestens drei große Angriffe auf Luftabwehranlagen und Einrichtungen der elektronischen Kampfführung auf der Krim in den letzten Monaten zeigen, bei denen mehrere Raketenrampen und bis zu zwei Dutzend Radaranlagen zerstört wurden.

Auch ein Schiff wurde bei einem solchen Angriff beschädigt. Wenngleich solche Drohnen selbstverständlich keine Schiffe versenken können, so können sie doch wichtige Anlagen wie Antennen, Radargeräte und den Steuerstand zerstören oder beschädigen. Sie können sogar ins Innere eines Schiffes eindringen und dort Explosionen auslösen.

Die auf Seedrohnen installierte Rakete vom Typ AIM-9 Sidewinder kann zwar nur 4–5 Kilogramm Sprengstoff tragen, sie fliegt jedoch weiter als Glasfaserkabel-Drohnen und kann größere Schäden anrichten. Verschiedene NATO-Staaten haben insgesamt rund 200 000 dieser seit den 1950er Jahren entwickelten und mehrfach modernisierten Luft-Luft-Rakete produziert und haben gewiss noch große Mengen in ihren Lagern.

Gelingt es der Ukraine, solche Raketen regelmäßig seedrohnengestützt einzusetzen, muss Russland aus Sicherheitsgründen den zivilen und militärischen Flugverkehr in einer über die Reichweite der Raketen hinausgehenden 30 Kilometer tiefen Küstenzone einstellen. Zudem könnte die Ukraine Boden-Boden-Raketen auf den Seedrohnen installieren und mit diesen Schiffe in den Häfen und küstennahe Ölanlagen angreifen.

Während Russland die Schiffe noch recht einfach von der Krim zurückziehen konnte, wäre im Falle immer weiter verbesserter ukrainischer Angriffswaffen nun die einzige Möglichkeit, sie zu retten, eine Verlegung über das Asowsche Meer und den Don ins Kaspische Meer und von dort über die Wolga in die Ostsee. So steht es also um Russlands Schwarzmeer-Flotte, um die sich Putin so gesorgt hatte, als er 2014 die Eroberung der Krim befahl.

Zweifellos wird Russland eines Tages über eine Flotte von Angriffsdrohnen verfügen, die im gesamten russländisch kontrollierten Seegebiet aus der Luft ukrainische Seedrohnen attackieren können, so dass nur noch die Hälfte oder ein Drittel der ukrainischen Kleinboote ihr Ziel erreichen. Doch dies liegt in ferner Zukunft. Bislang rufen lediglich von den ukrainischen Angriffen schockierte Kriegsblogger dazu auf, Drohnentrupps mit den vorhandenen Angriffs- und Überwachungsdrohnen entlang der gesamten östlichen Schwarzmeerküste zu stationieren. Das wären 500 Kilometer auf russländischem und 170 Kilometer auf abchasischem Gebiet, zusammen also fast halb so lang wie die gesamte Frontlinie, wo es Russland bereits jetzt an Drohnen und Drohnenführern mangelt. Sollte es der Ukraine gelingen, mit den Angriffen im Schwarzen Meer Russland zur Verlegung eines nennenswerten Teil der an der Front eingesetzten Drohneneinheiten zu zwingen, würde dies die Lage der ukrainischen Bodentruppen deutlich verbessern. Doch gegenwärtig sieht es eher so aus, als würde Russlands Militärführung eher Verluste bei der Flotte hinnehmen, als die Bodentruppen zu schwächen.

Die Lage an der Front

An der Front haben sich die Kämpfe in der ersten Maihälfte leicht intensiviert. Beide Seiten haben kleinere taktische Erfolge erzielt. Es gibt weiter keine Hinweise darauf, dass Russland die Versuche wieder aufgenommen hätte, mit gepanzerten Kolonnen die ukrainische Verteidigung zu durchbrechen. Allerdings konnten einige Sturmtrupps, vom Laub der Bäume gedeckt, an Stellen durchbrechen, wo sie seit erfolglosen Attacken im Winter keine Angriffe mehr unternommen hatten. Dies gilt etwa für den Ort Novoolenivka westlich von Torec’k, den sie mindestens zur Hälfte unter ihre Kontrolle gebracht haben. Dies könnte dazu führen, dass die ukrainischen Truppen in der Gegend in einen Halbkessel geraten und Russland an einigen weiteren Stellen vorrücken könnte, etwa in Richtung Konstantynovka, was in der Folge den Angriff auf Časiv Jar erleichtern würde. Daneben sind die russländischen Truppen erstmals seit drei Monaten südwestlich und nördlich von Pokrovs’k vorgerückt.

Die Ukraine hat ihrerseits einen neuen Angriff auf das Gebiet Kursk unternommen – im südöstlichen Teil des Landkreises Glušovskoe. Nach viertägigen Kämpfen hat die ukrainische Armee die bereits im September 2024 schon einmal von ihr besetzte Siedlung Tetkino zur Hälfte eingenommen und zehn Kilometer weiter östlich nahe des bereits zuvor eroberten Grenzorts Novyj Put‘ auf einer Breite von fünf Kilometern entlang der Grenze Wälder und Felder unter ihre Kontrolle gebracht. Kurz vor Beginn des Angriffs war in den beiden grenznahen ukrainischen Kleinstädten Bilopillja und Vorožba im Gebiet Sumy am 5. Mai eine sofortige Evakuierung angeordnet worden. Auch im zu Russland gehörenden Gebiet Belgorod gingen die Kämpfe im Landkreis Krasnaja Jaruga weiter. Die ukrainischen Drohnenstreitkräfte haben ein Video von der Zerstörung einer Haubitzen-Selbstfahrlafette des Typs 2S43 Mal‘va veröffentlicht.

Vieles deutet darauf hin, dass sich beide Armeen auf schwere Kämpfe in den Sommermonaten vorbereiten. Russland will vor allem an den aussichtsreichen Stellen neue Angriffe starten und Torec’k, Liman, Kupjans’k sowie Pokrovs’k einnehmen. Am 7. Mai schrieb der Militärblogger Vladimir Romanov, der zuerst über nordkoreanische Soldaten im Gebiet Kursk berichtet hatte und generell bei seinen Berichten eine gewisse Distanz zu den Positionen der Moskauer Führung hält, diese bisweilen auch kritisiert, Russlands Armee bereite eine Sommeroffensive vor. Allerdings würde zwar Verstärkung herangeführt, doch die Einheiten verlören bei den ständigen Angriffen erfahrene Soldaten. Der ukrainische Militärblogger Jurij Butusov weist auf die miserable Lage der 66. Brigade der ukrainischen Armee hin, die sich im Zentrum des russländischen Durchbruchs bei Lyman befindet und infolge ausbleibender oder falscher Entscheidungen der Militärführung bald zerschlagen werden könnte. Er fürchtet, Kupjans’k und die wichtige frontnahe Siedlung Oskil könnten bald in die Hände des Gegners fallen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.