Wann wird die Operation in der Ukraine beendet? Und warum stürmen wir Kiew nicht?

Propaganda ist ein abstraktes Wort. Die Wahrheit ist konkret. Wir dokumentieren ein Interview der Zeitung „Komsomol'skaja Pravda“ mit dem ehemaligen Oberkommandierenden des Heers der Russländischen Streitkräfte Vladimir Čirkin vom 15.3.2022. Es zeigt sehr konkret ein Denken, das sich in gleicher Weise – lediglich weniger ungeschliffen – in den Reden des Staatspräsidenten Putin findet. Čirkin war im Dezember 2013 wegen Bestechlichkeit zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, alle militärischen Titel wurden ihm entzogen. Zwei Jahre später hob ein Moskauer Gericht das Urteil auf.


Komsomol’skaja Pravda, 15.3.2022

Die Hoffnung, dass alles so glatt geht, wie auf der Krim, hat sich nicht erfüllt

Welche Erfolge hat Russland bei den militärischen Auseinandersetzungen im Zuge der Entwaffnung und Vernichtung des Neonazismus in unserer Nachbarrepublik erzielt, und was ist anders gelaufen als erwartet? Darüber haben die Militärkorrespondenten der Komsomol’skaja Pravda Oberst Viktor Baranec und Michail Timošenko mit dem ehemaligen Oberbefehlshaber des Heers, Generaloberst Vladimir Čirkin, gesprochen.

Vladimir Valentinovič, unsere erste Frage an Sie – als militärischer Befehlshaber und als Bürger – was halten Sie von unserer Operation?

Čirkin: Ich unterstütze die Entscheidung zu dieser Operation voll und ganz. Ich verfolge die Erfolge und Misserfolge unserer Truppen. Und natürlich analysiere ich das alles. Das ist mein Leben.

Wie beurteilen Sie die Anfangsphase der Operation?

Im Großen und Ganzen läuft alles gut. Wir haben unerwartet losgeschlagen, das hat uns in der ersten Phase einen großen Vorteil verschafft. Leider gibt es Anzeichen, dass wir den Feind nicht vollkommen richtig eingeschätzt und wahrscheinlich auch unsere Fähigkeiten etwas überschätzt haben. Aber mittlerweile entspannt sich die Situation. Die Operation verläuft nach Plan.

Inwiefern haben wir Ihrer Meinung nach den Feind unterschätzt?

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die Ukraine in den letzten acht Jahren eigentlich von einem nazistischen Regime regiert wurde. Die Bevölkerung wurde massiv mit der neofaschistischen Ideologie indoktriniert. Eine ganze Generation ist herangewachsen, die Russland hasst.

Daher hat sich die Hoffnung, dass die Operation wie auf der Krim abläuft und wir überall mit Blumen und Brot empfangen werden, nicht bestätigt.

Sollen Verluste gemeldet werden?

Sie haben sich dagegen ausgesprochen, dass unser Verteidigungsministerium während der Operation die Namen von Gefallenen nennt. Warum?

Bilanz wird nach der Operation gezogen. Solange sie läuft, fällt der Begriff „Verluste“ in die Kategorie "streng geheim". Wir dürfen unseren Feinden, auch dem inneren Feind, diese Zahlen nicht servieren. Wir dürfen ihnen nicht die Möglichkeit geben, sich zu freuen, dass wir Verluste haben. Aber wenn wir jetzt schon von Verlusten sprechen, dann sage ich Ihnen: Sie sind unbedeutend. Eine Militäroperation ohne Verluste – das gibt es nicht, sonst wäre es keine Militäroperation.

Wie beurteilen Sie die Flankierung unserer Operation durch die Informationsabteilungen? Den Informationskrieg mit dem Feind?

Auf einer Skala von 1 bis 5: bei Drei minus. Allerdings hat sich die Situation in den letzten Tagen verbessert. Aber ich denke, dass sowohl im Land selbst als auch in der Armee ganze Apparate dafür geschaffen werden müssen. Bislang haben wir das noch nicht. Es gibt nur wenige engagierte Blogger, die alles geben, um Informationen zu analysieren, sie zu sammeln. Diese geben sie dann an die Bevölkerung weiter. Die Informationen sind richtig, aber unvollständig. Was wir brauchen, ist ein leistungsfähiges staatliches Informationssystem.

Sollen wir die Städte im Sturm einnehmen?

Unsere Truppen stehen vor den großen ukrainischen Städten, haben sie eingekreist. Manche spotten schon: "Was soll das? Habt ihr nicht den Arsch in der Hose, um die Städte einzunehmen? Was stapft ihr außen rum, ohne rein zu gehen?“

Ich beobachte den Verlauf der Operation und sehe, dass bisher die erste Staffel zum Einsatz kommt. Weder die zweite Staffel noch die operativen strategischen Reserven sind bisher in die Schlacht geführt. Es macht keinen Sinn, sich jetzt zu verzetteln, in Siedlungsgebieten stehen zu bleiben und den Schwung, die Initiative, zu verlieren.

Der Häuserkampf ist der härteste Kampf. Erinnern Sie sich an die Erstürmung von Groznyj. Eine äußerst komplizierte Operation! Städte sind wie befestigte Stellungen mit unterirdischen Gängen. Stürmen und dabei ohne Grund Männer verlieren? Das ist momentan nicht notwendig.

Oberste Aufgabe der gegenwärtigen Operation ist die Entmilitarisierung der Ukraine. Und die ist meines Erachtens zu 70-80 Prozent abgeschlossen. Wir müssen das jetzt bis zum Ende durchziehen. In den Städten steht natürlich noch schweres Material und Artillerie, die NATO hat viele Granatwerfer hereingeschafft. Aber um die Städte kümmern wir uns später. Ich denke, genauso sieht der Plan für die Operation aus.

Wenn man sich die Karte der Ukraine ansieht, dann scheint es, dass wir die Ukraine in die „Zange“ nehmen. Und Kiew noch einmal in eine Extrazange. Haben Sie nicht den Eindruck, dass die eingesetzten Truppen nicht ausreichen könnten, um überall den Kreis um die Städte zu schließen?

Weder Sie noch ich kennen das gesamte Dispositiv. Ja, uns ist klar, dass die Ukraine nach Russland das zweitgrößte Land in Europa ist. Und dass wir früher in der Ukraine einen Militärbezirk Kiew, einen Militärbezirk Odessa, einen Militärbezirk Transkarpatien und eine Schwarzmeerflotte hatten. Und jeder Militärbezirk hatte eine Luftwaffe, eine Luftabwehr, Arsenale und Stützpunkte. Das alles ist dort geblieben. Bei den Bodentruppen sind die Ukraine und Russland ganz und gar gleichauf. An der Militärakademie haben wir aber gelernt, dass eine Offensive nur bei einem Übergewicht von drei zu eins durchgeführt werden sollte.

Deshalb setzen wir in der Ukraine kleine Trupps ein, wie wir es auch in Syrien getan haben. Ich denke, das ist sehr richtig und klug. Die Zweiten Staffeln und die Reserven werden sich noch als nützlich erweisen.

Auch nach Nazi-Tätowierungen muss Ausschau gehalten werden

Aber trotzdem nochmal: Was sollen wir mit den Städten machen, die wir blockiert haben? Es gibt ja zwei Möglichkeiten. Stürmen oder aushungern. Sollen wir sie dort hocken lassen, bis sie nichts mehr zu essen haben? Dagegen spricht, dass die ukrainische Armee und die Nazi-Bataillons nicht zögern werden, ihre eigene Bevölkerung auszuplündern. Wie lange kann man da auf Blockade machen?

Ich denke, dass der Gegner nach der vollständigen Einkreisung von Kiew dann doch zunehmend seine Kampfmoral verliert und seinen Widerstand aufgibt. So scheint mir das.

Und dann?

Dann kommt unsere Nationalgarde dran. Die gesamte Kriegswissenschaft hat schon immer gelehrt, dass gleich nach den Truppen die Polizei, der FSB, die Staatsanwaltschaft und die Auszahlungsstellen für den Sold kommen müssen. Eine Volkszählung muss gemacht werden, Lebensmittel sind ein Thema und Renten.

Und wie machen wir die Entnazifizierung der Ukraine? Wie filtern wir diejenigen raus, die gegen Russland und den Donbass gekämpft haben? Die haben ja nicht alle Bandera-Tätowierungen.

Stimmt. Aber Tätowierungen sollten trotzdem überprüft werden. So eine Filtration, das ist eine mühsame, langwierige und unangenehme Arbeit, aber sie ist unbedingt notwendig für die Ukraine. Daran führt kein Weg vorbei.

Biden schickt Waffen, um Russland zu zermürben

Was denken Sie, der Ukraine muss doch langsam die Munition ausgehen? Und der Treibstoff. Wie lange reichen ihre Patronen und ihr Diesel noch?

Vor allem in den ersten drei Tagen hat Russland mit Hochpräzisionswaffen exakt solche ukrainischen Arsenale und Lager abgearbeitet. Das Feuer der ukrainischen Armee sollte jetzt jeden Tag abnehmen.

Zweitens haben unsere Raketen Militärflugplätze und die gesamte Transportlogistik der ukrainischen Armee getroffen. Die NATO kann Kiew also so viele Waffenlieferungen versprechen, wie sie will, aber sie wird nichts Großes mehr ins Land bringen.

Wie können wir denn mit Leuten verhandeln, die unser Land beleidigen? Warum verhandeln wir überhaupt?

Wir können nicht nicht verhandeln, weil es sonst sofort heißt, dass wir alle diplomatischen Regeln verletzen. Treffen müssen sein.

Aber man muss die Dinge klar sehen: Wir verhandeln in der Hoffnung auf Frieden zu unseren Bedingungen. Die Ukraine hingegen geht zu den Verhandlungen, um die Kämpfe zu verlängern. Die Treffen verschaffen ihnen die Möglichkeit, Reserven heranzuführen, neue Munition. Jede Verzögerung ist ein Vorteil für sie. Das gilt auch für die NATO und für Biden. Sie wollen, dass diese Operation Russland maximal zermürbt, dass wir möglichst große Verluste haben. Und all das erledigen fremde Hände für sie.

Genau aus diesem Grund schicken sie Waffen und Söldner in die Ukraine.

Reichlich Beute wartet auf uns

Wenn Sie das Kommando über unsere Truppe in der Ukraine hätten und es käme die Information, dass ein Konvoi mit Waffen der NATO in Polen unterwegs ist?

All diese Hilfe gelangt nicht zu den eingesetzten Einheiten der ukrainischen Armee. Diese sind bereits alle in Kesseln oder von drei Seiten eingekreist. Diese Waffen sind gute Beute für uns. Wir haben schon eine Menge bekommen.

Warum haben wir den Übungsplatz in Javoriv in der Westukraine erst in der dritten Woche der Operation angegriffen?

Sie haben ja gesehen, wie die sechs Raketen dorthin geflogen sind und dann die ausländischen Söldner zerschmettert haben. Heute habe ich gelesen, dass viele solche "Glücksritter", nachdem sie in der Ukraine angekommen waren, ihren Verwandten geschrieben oder am Telefon mitgeteilt haben, dass sie jetzt da sind. Damit war klar, dass sich die Söldner an einem Ort versammelt haben, und dorthin haben wir die Raketen dann geschickt. Diejenigen, die es überlebt haben, haben dann schnell ihre Sachen gepackt und sich auf den Heimweg gemacht: Nein, hier werden wir nicht kämpfen. Dies ist ein sehr lehrreiches Vorbild für alle anderen.

Wachsam bleiben im Kampf

Die wichtigste Frage: Wann ist die Operation zu Ende?

Wissen Sie, Ende Februar dachte ich angesichts des Tempos, mit dem wir vorankommen, dass es Ende März vorbei sein müsste. Jetzt kommt ein bisschen Zweifel auf. Der Feind ist verbissen, insbesondere die Nationalisten haben nichts zu verlieren und werden bis zum bitteren Ende kämpfen. Das erschwert das Vorankommen unserer Truppen.

Was wünschen Sie unseren Soldaten in diesen schwierigen Tagen der Spezialoperation?

Glück im Feld, dass sie wachsam im Kampf bleiben, um nicht zur leichten Beute für den Feind zu werden. Und natürlich den Sieg.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Quelle: Komsomol’skaja Pravda, 15.3.2022