Wie ist die Lage in der Ukraine? Und was braucht das Land jetzt?

Nico Lange, 9.6.2022

Im Donbass konzentriert Russland die Angriffe auf die Enge von Severodonec’k und Lysyčans’k, die Stoßrichtung von Lyman in Richtung Slovjans’k und einen Keil von Popasna in Richtung Bachmut.

Mit einer „Feuerwalze“ aus fast unaufhörlichen Luftangriffen und Beschuss mit Artillerie und Raketenartillerie rücken die russischen Truppen langsam und systematisch vor und verwüsten dabei jegliche zivile Infrastruktur.

Die Ukraine kann in der Enge ihre Stärken der mobilen Verteidigung kaum noch ausspielen und muss von drei Seiten ständig mit Luftangriffen, Artillerie und Raketenartillerie rechnen.

Die ukrainischen Streitkräfte verfügen derzeit nicht über die nötigen Waffen, um der massiven Übermacht aus Luftangriffen und der großen Überlegenheit bei Artillerie und Raketenartillerie wirksam entgegenzutreten. Sie versuchen daher, den Russen vor allem in den urbanen Räumen massive Verluste zuzufügen.

Das Ziel der Ukraine scheint aktuell nicht, Severodonec’k (und wahrscheinlich auch Lysyčans’k) um jeden Preis zu halten, sondern den russischen Angriff durch möglichst hohe Verluste im urbanen Raum schrittweise zu verlangsamen und möglichst zum Stehen zu bringen.

Die Ukraine hat nicht die nötigen Waffensysteme, um Führungs- und Kommunikationseinrichtungen oder Logistik der russischen Seite im Donbass entscheidend zu treffen.

Für die Verzögerung des russischen Angriffs zahlt die Ukraine einen extrem hohen Preis mit sehr hohen Verlusten von 60–100 Gefallenen täglich. Viele der besten und erfahrenen ukrainischen Soldaten sind gefallen. Die zivile Infrastruktur wird fast vollständig zerstört.

Die Ukraine wird sich absehbar hinter den Fluss Sivers’kyj Donec’ auf die Anhöhe von Lysyčans’k zurückziehen müssen, um dort den Fluss und die Höhenlage für neue Verteidigungsstellungen zu nutzen.

Insbesondere die Flußüberquerung über den Sivers’kyj Donec’, noch dazu mit einer Anhöhe auf der Gegenseite, wird für die russische Seite sehr wahrscheinlich mit weiteren hohen Verlusten verbunden sein.

Dennoch ist vor allem aufgrund der Überlegenheit bei der Artillerie mit einem langsamen Vormarsch der russischen "Feuerwalze" in die Richtungen Lysyčans’k, Bachmut, Slovjans’k und Kramators’k zu rechnen.

Ob und wo der russische Angriff an der Donbass-Front zum Stehen gebracht werden kann, ist derzeit nicht absehbar. Ohne massive Unterstützung durch Lieferungen von Artillerie mit sehr viel Munition und Treibladungen, gepanzerten Fahrzeugen und weiteren Distanzwaffen wird den ukrainischen Streitkräften das kaum gelingen.

Bereits kurz nach Kriegsbeginn geriet der russische Vormarsch auf Mykolaïv mit der für die Richtung Odessa strategisch wichtigen Brücke über den Südlichen Bug ins Stocken. Dadurch entstand im Süden der Ukraine, am westlichen Ufer des Dnipro, eine 500 km (!) breite Front.

Das Gebiet zwischen Mykolaïv und Kryvyj Rih und dem westlichen Ufer des Dnipro bei Cherson und Nova Kachovka besteht weitgehend aus Steppe ohne natürliche Grenzen wie Höhenzügen oder Gewässer.

Die Ukraine ist hier zum Gegenangriff übergegangen, hat jedoch bisher nicht die nötigen Waffensysteme und kann noch kein Übergewicht bilden, um entscheidende Durchbrüche zu erzielen. Anders als beim geordneten Rückzug im Norden Kiews befestigen die Russen ihre Verteidigungsstellungen und kämpfen hart, um erobertes Gebiet zu halten.

Beide Seiten haben an der sehr langen Front Versorgungsprobleme. Zumindest die direkt am Dnipro liegenden, von Russland besetzten Städte Cherson und Nova Kachovka erhalten aber von der Krim aus Verstärkung und Nachschub.

Das Vorrücken in der Steppe, Siedlung für Siedlung ist für die Ukraine mit sehr hohen Verlusten verbunden. Insgesamt kommen die ukrainischen Streitkräfte an dieser Front sehr langsam voran.

Grundsätzlich scheint hier ein stärkerer ukrainischer Gegenangriff möglich mit dem Ziel, die Russen zunächst auf die östliche Seite des Dnipro zurückzudrängen. Personelle Verstärkungen, gepanzerte Fahrzeuge, Kampfpanzer und Artillerie sowie Munition und Treibstoff müssen dafür der Ukraine jedoch erst einmal ausreichend zur Verfügung stehen.

Trotz weit verbreiteter Meldungen über das Erreichen der Grenze durch die Ukrainer bleiben im Norden Charkivs russische Kräfte auf ukrainischem Gebiet. Mit Luftangriffen und zumindest mit Raketenartillerie wird Charkiv weiterhin beschossen.

Führungs- und Kommunikationsstrukturen, Versorgung und Logistik der hier operierenden russischen Kräfte befinden sich auf russischem Staatsgebiet und sind für die derzeitigen Waffensysteme der Ukrainer nicht erreichbar.

Jedes weitere Vorrücken der Ukrainer bringt die Gefahr sehr hoher Verluste und scheint nur sinnvoll möglich, wenn ein großes Übergewicht gebildet werden kann und ausreichend gepanzerte Fahrzeuge, Kampfpanzer und Artillerieunterstützung zur Verfügung stehen.

Was braucht die Ukraine, um der „Feuerwalze“ an der Donbass-Front standzuhalten (1) und in Richtung Cherson (2) sowie bei Charkiv (3) erfolgreiche Gegenangriffe zu führen?

Von zentraler Bedeutung sind möglichst viele gepanzerte Fahrzeuge, damit Verletzungen und Verluste in der Bewegung verhindert werden können. Durch den ständigen Artilleriebeschuss sind Schrapnelle und Splitter eine riesige Gefahr.

Bisher wurden einige unterschiedliche Arten gepanzerter Fahrzeuge geliefert, vor allem Systeme sowjetischer Bauart, M113-Derivate und Infantry Mobility Vehicles aus Tschechien, Polen, UK, den Niederlanden, Estland, Litauen und Australien.

Die Lieferung einiger weiterer hundert gepanzerter Fahrzeuge aus den USA, Dänemark, Portugal, Spanien, Italien, Kanada ist angekündigt, dennoch werden sehr wahrscheinlich noch deutlich mehr gebraucht werden. Auch der Marder fiele in diese Kategorie.

Die Lieferung von Artillerie mit 155mm Kaliber mit sehr vielen Treibladungen und Munition bleibt von entscheidender Bedeutung. Die Situation wird durch die Ankunft von Systemen aus den USA, Kanada, Australien, Estland, Frankreich, Polen, der Slowakei und Norwegen langsam besser, dennoch bleibt die russische Seite bei der Artillerie bisher noch deutlich überlegen. Die deutschen Panzerhaubitzen reihen sich hier ein, wenn sie ab Ende Juni in der Ukraine ankommen.

Die Ukraine braucht darüber hinaus dringend Distanzwaffen, die Führungs- und Kommunikationsstrukturen sowie Hochwertziele der russischen Logistik bekämpfen können. Die USA, UK und Deutschland haben die Lieferung von HIMARS bzw. MARS für den Juni 2022 angekündigt.

Die ukrainischen Streitkräfte sind inmitten brutalster Schlachten zum sparsamen Umgang mit Munition gezwungen, während Russland zumindest bei Artillerie und Raketenartillerie über sehr umfangreiche Vorräte verfügt. Massive Anstrengungen für kurz-, mittel- und langfristige Munitionslieferungen an die Ukraine sind dringend erforderlich. Das gilt auch für eine auf den speziellen Bedarf der Ukraine ausgerichtete Neuproduktion von Munition.

Dort wo die Ukraine Gegenangriffe führt, werden zusätzlich zu gepanzerten Fahrzeugen zunehmend auch Kampfpanzer dringend benötigt, gerade in der Steppe im Süden. Bisher hat die Ukraine mehr als 200 T-72M aus Polen und Tschechien erhalten. Mit zunehmender Dauer des Krieges werden mittel- und langfristig geplante Lieferungen über diese sowjetischen Legacy-Systeme hinaus notwendig sein.

Hinzu kommen der Bedarf an Treibstoffen sowie auch oft übersehene Dinge wie kleinere Fahrzeuge für die inneren Versorgungslinien und die Territorialverteidigung.

Unabhängig von der Diskussion um schwere Waffen sollte es für Länder wie Deutschland möglich sein, handelsübliche Jeeps, Pickups, kleine Trucks, Kleinbusse und Quads zu liefern – zusammen mit großen Mengen an Benzin und Diesel.

Die kurze Analyse des bisherigen Kriegsverlaufes und der Lage zeigt: Um das von der Bundesregierung formulierte Ziel „Die Ukraine darf nicht verlieren.“ zu erreichen, sind weitere, schnellere und umfangreiche militärische Unterstützungsleistungen notwendig.

Nico Lange (1975), Politikwissenschaftler, Publizist und Politikberater