„Wie von der Kette gelassen“
Nikolay Mitrokhin
Größte Gefahr für die Ukraine an mehreren Frontabschnitten
Die 127. Kriegswoche, 6.8.2024
Die Lage der ukrainischen Armee im Donbass wird immer kritischer. Das gesamte Verteidigungssystem im Südwesten des Gebiets Donec’k droht zusammenbrechen. Nur ein mit Drohnen, Mörsern und Artillerie geschaffener Sperrgürtel verhindert einen noch rascheren Durchbruch der Moskauer Besatzungstruppen. Im russländischen Gebiet Kursk hat die Ukraine einen Entlastungsangriff gestartet, Ausmaß und Ergebnis sind offen.
Die Situation der ukrainischen Streitkräfte hat sich im Gebiet Donec’k in der ersten Augustwoche 2024 weiter verschlechtert. Die Armeeführung hat in großer Eile weitere Reserven herangeführt und setzt zur Abwehr des Vorstoßes der Okkupationsarmee neugebildete Brigaden ein. Doch der Durchbruch der russländischen Truppen weitet sich immer mehr aus. Die ukrainischen Kriegsbeobachter von DeepState erklärten am 4. August, der Feind sei „wie von der Kette gelassen.“
Bei Časiv Jar haben die russländischen Truppen alle vormaligen Stellungen der ukrainischen Armee am Ostufer des Kanals Sivers’kyj Donec’k-Donec’k unter ihre Kontrolle gebracht und den Kanal an mehreren Orten überschritten. Mittlerweile wird in den Stadtvierteln Novyj und Oktjabr’skij gekämpft, die wohl bereits komplett zerstört sind. Der überwiegende Teil der ukrainischen Truppen hat sich offenbar in den westlich davon gelegenen Stadtbezirk um die örtliche Fabrik für feuerfeste Materialien zurückgezogen und versucht, das Vorrücken der Besatzer mit massivem nächtlichen Einsatz von Kampfdrohnen aufzuhalten.
Westlich von Horlivka rücken die russländischen Truppen in Richtung Torec‘k vor. Die westlich und südwestlich gelegenen Kleinstädte Zalizne und N’ju Jork sind bereits nahezu vollständig unter ihrer Kontrolle. Die Abgeordnete des ukrainischen Parlaments Mar‘jana Bezuhla, die Ende Juli nach Torec’k gereist ist, kam mit der Feststellung nach Kiew zurück, die Stadt sei nicht auf einen Angriff vorbereitet. In Torec’k harren rund 3000 Bewohner aus, die sich der von den ukrainischen Behörden angeordneten Evakuierung entziehen – zum großen Frust der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen. Am 6. August veröffentlichte die ukrainische Nachrichtenagentur UNIAN ein Video vom Verhör eines – recht eindeutig schon seit längerem inhaftierten – russländischen Kriegsgefangenen, der mit monotoner Stille davon berichtet, wie seine Einheit nach der Eroberung von Avdijivka Kriegsverbrechen an der dort verbliebenen Bevölkerung verübt habe. Offenkundiges Ziel der Veröffentlichung ist es, die „Zauderer“ dazu zu bewegen, die Siedlungen und Städten im zentralen Donbass zu verlassen.
Nicht weniger kritisch ist die Lage westlich von Avdijivka, wo die Besatzungstruppen in Richtung Pokrovs’k vorrücken. Die Stadt ist ein äußerst wichtiges Verteidigungs- und Logistikzentrums der ukrainischen Armee im Südwesten des Gebiets Donec’k. Mit großer Mühe war es der ukrainischen Armee in der ersten Julihälfte gelungen, den Vormarsch der gegnerischen Armee von Očeretine nach Westen in Richtung der Straße Pokrovs’k–Konstantynovka aufzuhalten. Der Preis war, dass sie einen Durchbruch von Očeretine nach Süden in Richtung der Verteidigungslinien entlang des Flusses Vovčja zulassen musste. Dort sind die russländischen Truppen im Verlaufe der ersten Augustwoche mehrere Kilometer vorgerückt und bedrohen nun die genannten Verteidigungsstellungen mit einem Flankenangriff. Noch hält die ukrainische Armee einige weiter südlich gelegene Dörfer unter ihrer Kontrolle und kann den weiteren Durchbruch aufhalten. Gelingt dies jedoch nicht, könnte bereits in der kommenden Woche das gesamte Verteidigungssystem der Ukraine im Südwesten des Gebiets Donec’k zusammenbrechen. Die ukrainischen Behörden haben eine Eilevakuierung aller Kinder und ihrer Eltern aus vier Gemeinden südlich des Durchbruchs verkündet. Dies zeugt davon, dass sie auf einen solchen Verlauf der Ereignisse in keiner Weise vorbereitet waren.
Der Druck auf den nördlichen und zentralen Frontabschnitt im Gebiet Donec’k hat dazu geführt, dass mittlerweile auch im bislang trotz des weitgehenden Verlusts der Kleinstadt Krasnohorivka recht stabilen südlichen Abschnitt bei Vuhledar die Verteidigung der Ukraine ins Wanken gerät. Die Besatzungstruppen haben dort in der ersten Augustwoche die Frontlinie an einer Stelle durchstoßen und sind zu der von Vuhledar nach Norden in Richtung Marijinka führenden Straße vorgerückt. Eine große Gefahr für Vuhledar stellt dies noch nicht dar. Aber es ist den russländischen Truppen gelungen, eine seit vielen Jahren befestigte Verteidigungslinie zu überwinden. Dies zeugt davon, dass eine neue Angriffswelle die östlichen Ausläufer von Vuhledar erreichen könnte.
An den Frontabschnitten außerhalb des Gebiets Donec’k ist die Lage trotz teilweise heftiger Kämpfe stabiler. Im Norden des Gebiets Charkiv gibt es Hinweise darauf, dass die Ukraine versuchen könnte, die im Mai eingedrungenen Okkupationstruppen mit einem Vorstoß entlang der Grenze abzuschneiden. Auch im Gebiet Zaporižžja und in der Uferzone des Dnipro nahe des aufgegebenen ukrainischen Brückenkopfs Krynki wird weiter gekämpft.
Eine Erklärung für die Gesamtentwicklung ergibt sich aus einem vielbeachteten Post des russländischen Militärbloggers Aleksej Živov. Dieser beschreibt die gegenwärtige Lage an der Front so:
„Um in die unmittelbare Kampfzone zu gelangen braucht man hochmobile Transportmittel: Motorräder, Scooter, Buggies, Quads. Jeeps und Kleintransporter – das war gestern. Mit diesen ist es heute praktisch unmöglich, sicher an die Kontaktlinie zu kommen. Hier ergibt sich ein Problem: wie die an vorderster Front kämpfenden Truppen versorgen, wenn der Gegner die hinter der Frontlinie liegenden acht Kilometer jederzeit unter Feuer nehmen kann? Hierfür werden jetzt immer häufiger große Drohnen eingesetzt, die mehrere Dutzend Kilogramm Last transportieren können: Wasser, Essen, Kampfausrüstungen. An der Kontaktlinie selbst hat der Gegner nur wenige Mann, die die entscheidenden Stellungen halten: mal nur drei, mal bis zu acht. Die ganze Verteidigung hängt an der bodennahen Luftaufklärung und drei Waffengattungen: First-Person-View-Drohnen, Mörser und Artillerie.“
Was hier beschrieben wird, erklärt, wie es zu den plötzlichen Durchbrüchen der russländischen Truppen kommt, vor allem auf ausgedehnten Feldern, die von Waldstreifen begrenzt werden. Wenn es den Besatzungstruppen trotz der Drohnen – entweder weil die ukrainischen Einheiten über zu wenige verfügen oder weil diese elektronisch gestört werden – gelingt, eine ausreichende Anzahl an Soldaten an die Kontaktlinie zu bringen und diese die von nur wenigen ukrainischen Soldaten gehaltene Stellung umgehen oder einnehmen, dann bricht die Front sofort in der Tiefe wie in der Breite auf einem halben Kilometer ein. Dies erinnert stark an die Situation im Spätsommer und Herbst 2022, als die ukrainische Armee in den Gebieten Charkiv und Cherson erschöpften und ausgedünnten Besatzungstruppen gegenüberstand, deren weit auseinanderliegende Stellungen nur durch die Verminung des Geländes geschützt waren, hinter denen sich jedoch keine Reservetruppen und keine befestigten Linien mehr befanden. Die Hauptkräfte der Armee befanden sich im rückwärtigen Raum, wo sie über Monate auf Waffen warteten oder als Reservekräfte für geplante Offensiven zurückgehalten wurden. Ähnliches geschieht momentan Kritikern der Kiewer Armeeführung und Äußerungen von Präsident Zelens’kyj gegenüber westlichen Medien zufolge auf ukrainischer Seite. Es hat eine Mobilisierung stattgefunden, doch die neuen Soldaten werden offenbar nicht an der Front eingesetzt.
Ukrainischer Entlastungsangriff auf das Gebiet Kursk
In der Nacht auf den 6. August hat die Ukraine einen Entlastungsangriff auf das Gebiet Kursk gestartet. Er dient zumindest der Erkundung, wie stark Russland diesen Abschnitt der Grenze gesichert hat. Nach Drohnenangriffen unter anderem auf Grenzschutztruppen des russländischen Inlandsgeheimdiensts FSB und intensivem Raketenbeschuss überquerten mehrere Einheiten der ukrainischen Streitkräfte mit einigen Panzern und gepanzerten Fahrzeugen an zwei Stellen die Grenze und rückten in den Landkreisen Sudža und Korenevo einige Kilometer tief auf russländisches Territorium vor. Unklar ist bislang, ob es sich um eine erneute Aktion des Russischen Freiwilligenkorps (Russkij dobrovol’českij korpus, RDK) oder ähnlicher, vom ukrainischen Auslandsgeheimdienst geführter kleinerer Einheiten von Exilkämpfern handelt – oder ob die ukrainische Armee einen großangelegten Angriff auf das Grenzgebiet plant. Es gibt Berichte, dass die Ukraine entlang der Nordgrenze zu Russland – gegenüber der dortigen Gebiete Brjansk, Kursk und Belgorod – Truppen zusammengezogen habe. Russland hat an mindestens sechs Stellen im Norden der Ukraine vermutete Truppen mit Drohnen, Artillerie und Jagdbombern angegriffen.
Am Abend das 6. August mussten die russländischen Militärkanäle Dva Majora und Rybar‘ feststellen, dass die ukrainischen Einheiten bis zur Stadtgrenze von Sudža vorgedrungen sind. Sie hätten allerdings schwere Verluste erlitten, insbesondere ein Dutzend Fahrzeuge verloren, was Videoaufnahmen belegen sollen. Zur Verteidigung des Staatsgebiets wurden aus Wehrpflichtigen gebildete Einheiten herangezogen, was – anders als deren Einsatz im Ausland – den geltenden Gesetzen zufolge erlaubt ist.
Der Luftkrieg
Russland hat in der Nacht auf den 31. Juli einen massiven Drohnenangriff auf die Ukraine ausgeführt. 45 unbemannte Flugkörper attackierten Ziele in sechs ukrainischen Gebieten. Bei einem erheblichen Anteil handelte es sich um Attrappen vom Typ „Gerber“, die eingesetzt wurden, um die ukrainische Luftabwehr zu täuschen und zur Verausgabung ihrer knappen Abwehrraketen zu bringen. In der gleichen Nacht traf die Ukraine einen Hubschrauberlandeplatz im Gebiet Donec’k, wo sich ein Helikopter des Typs Mi-8 der russländischen Nationalgarde befand. Es gab Tote und Verwundete. Auch am Abend des 1. August und in der Nacht auf den 3. August griff Russland Ziele in mehreren Gebieten der Ukraine aus der Luft an. Getroffen wurde u.a. ein Treibstofflager in Hnivan‘ im Gebiet Vinnycja.
In der Nacht auf den 3. August hat die Ukraine mit einer großen Anzahl Drohnen militärische Ziele in Russland angegriffen – 55 Flugkörper zielten auf Objekte im Gebiet Rostov, 19 auf solche im Gebiet Orel und mindestens sechs sollten Ziele im Gebiet Kursk treffen. Die Angriffe galten vor allem Militärflugplätzen und Öllagern, in Orel wurde aber auch ein mehrstöckiges Wohnhaus getroffen. Besonders schwere Schäden richteten die Angriffe auf dem Militärflugplatz Morozovsk im Gebiet Rostov an. Rund 20 Drohnen erreichten ihr Ziel, mindestens ein Flugzeug wurde zerstört, ein oder zwei weitere beschädigt. Ein großes Lager mit Fliegerbomben ging in Flammen auf.
Mit diesem Angriff, bei dem eine solch große Anzahl Drohnen nicht abgefangen wurde, obwohl der Militärflugplatz bereits mehrfach attackiert wurde, hat die Ukraine der russländischen Luftabwehr eine Schmach bereitet. Möglich wurde dies dank einer Modifikation der Steuerung, die zu einem Versagen der elektronischen Abwehr führte. Aber auch das Kommando des Flugplatzes hat versagt. In den vorhergehenden Monaten wurden bei Luftalarm stets die Flugzeuge rasch gestartet und auf einen anderen Flugplatz verlegt. Dies blieb in diesem Fall aus. Es kursiert eine weitere Erklärung, wie der Angriff möglich wurde: Die ukrainischen Drohnenführer hätten gelernt, die Korridore zu nutzen, die die russländischen Truppen der elektronischen Kriegsführung für die eigenen Drohnenangriffe während eines Angriffs öffnen.
Neben dem Angriff auf den Flugplatz hatte auch die Attacke auf ein Öllager des Zentralen Erdölbevorratungsamtes Rosrezerv im Gebiet Rostov Erfolg, ein Großbrand konnte erst nach Stunden gelöscht werden. Ein durch ukrainische Drohnen ausgelöster Brand in einem Öllager in Gubkin im Gebiet Belgorod konnte rasch eingedämmt werden.
Am Abend des 5. August hat Russland erneut Kiew angegriffen, zunächst mit sechs Iskander-Raketen, später mit Geran‘-Drohnen. In der folgenden Nacht war Charkiv Ziel von Angriffen mit Iskander-Raketen. Nach ukrainischen Angaben gab es Schäden an einem Krankenhaus sowie an Wohnhäusern.
Weitere „Säuberungen“ im Moskauer Verteidigungsministerium
Russlands neuer Verteidigungsminister lässt weiter die Ermittlungsbehörden sein Ministerium auskehren. Unter den „dicken Fischen“, die nun wegen Korruption verhaftet wurden, befinden sich, der Leiter der für die Versorgung von Soldaten mit Lebensmitteln und Alltagsgegenständen zuständigen ministeriumseigenen Handelskette „Voentorg“ Vladimir Pavlov, der Leiter des „Zentralen militärpatriotischen Kultur- und Erholungsparks der Streitkräfte der Russländischen Föderation ‚Patriot‘“ Vjačeslav Achmedov sowie der stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung Innovationen Generalmajor Vladimir Šesterov. Die Untersuchungen seien bereits seit mehr als einem Jahr gelaufen und im Mai 2024 abgeschlossen worden. Erst jetzt sei aber das politische Signal zum Zugriff gekommen. Russlands Militärblogger erwarten – im doppelten Wortsinn –, dass die Verhaftungen weitergehen.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.
Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.