„Wohin ein russischer Soldat seinen Fuß setzt – das gehört uns.“
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 170. Kriegswoche
Nikolay Mitrokhin, 24.6.2025
Der Krieg im Nahen Osten lenkt die internationale Aufmerksamkeit von den Geschehnissen in der Ukraine ab. Dies hat unmittelbar zu einer Verschärfung von Putins Rhetorik geführt. Die Fortführung der humanitären Gesten, auf die sich die Kriegsparteien in Istanbul verständigt hatten, steht in Gefahr. Zudem hat Russland seine Luftangriffe ausgeweitet, immer mehr Drohnen und Raketen überwinden die ukrainische Luftabwehr und bringen Tod und Zerstörung. Am Boden fügt die ukrainische Armee den Okkupationstruppen jedoch weiter große Verluste zu. Im Norden des Landes hat sie den Vormarsch zum Halt gebracht.
Seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und dem Iran kommen aus Moskau kaum noch Verlautbarungen zu möglichen weiteren Verhandlungen in Istanbul. Statt dessen hat Putin seine Rhetorik verschärft. Am 18. Juni hatte er noch erklärt, er sei grundsätzlich bereit, sich in der Schlussphase möglicher Verhandlungen mit dem ukrainischen Präsidenten Zelens’kyj zu treffen und lediglich gedroht, falls es nicht zu einer Einigung in Istanbul käme, würden „die Konditionen für die Ukraine schlechter“. Am 20. Juni sagte er dann jedoch auf einer Plenarsitzung des Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums: „Das russische Volk und das ukrainische Volk sind in Wahrheit ein Volk. In diesem Sinne gehört die gesamte Ukraine zu uns“. Und setzte mit einer ganz und gar imperialistischen Bemerkung noch eines drauf: „Es gibt bei uns ein altes, nein, es ist kein Sprichwort und auch kein Gleichnis, es ist eine alte Regel: Wohin ein russischer Soldat seinen Fuß setzt – das gehört uns.“ Auf die Schaffung einer „Sicherheitszone“ im Norden der Ukraine angesprochen sagte er: „Die Stadt Sumy einzunehmen ist nicht die Aufgabe, aber grundsätzlich schließe ich das nicht aus.“
Solche Drohungen sind für die Ukraine Alltag und führen nicht dazu, dass Kiew einknickt und eine Übergabe der von Russland in Gänze beanspruchten Gebiete Donec’k, Zaporižžja und Cherson erwägt. Aber sie werfen die Frage auf, ob in Istanbul weiter über „menschliche Erleichterungen“ gesprochen wird. Nach der Übergabe von 6060 Leichen getöteter Soldaten an die Ukraine sowie dem Austausch von je 900 Gefangenen hatte es Anzeichen für weitere kleine Schritte gegeben, etwa in der Frage der Rückkehr eines Teils der nach Russland entführten Kinder. Auch hatte Putin noch am 18. Juni erklärt, Russland werde die Leichen weiterer 3000 getöteter Soldaten an die Ukraine übergeben; ebenso erschien die Freilassung weiterer Kriegsgefangener und inhaftierter Zivilisten möglich. Nun könnte es allerdings sein, dass Russland diese Ankündigungen erst dann wieder aufgreift, wenn die USA sich wieder dem Thema zuwenden und mit neuen Sanktionen drohen.
Die Lage an der Front
Im Norden der Ukraine hat sich die Situation stabilisiert. Es ist der ukrainischen Armee gelungen, die russländischen Truppen aufzuhalten, deren Offensivpotential nach hohen Verlusten erschöpft ist. Bereits am 10. Juni hatten Soldaten der Okkupationstruppen davon berichtet, dass beim Angriff der 40. Garde-Sonderbrigade der Marineinfanterie auf das nördlich von Sumy gelegene Kindrativka zahlreiche Soldaten ums Leben gekommen seien. Eine Kompanie von 100 Mann habe 92 Soldaten verloren.
In der 170. Kriegswoche hat die ukrainische Armee sogar bei einem Gegenangriff das wenige Kilometer östlich davon gelegene Dorf Andrijivka zurückerobert. Im östlichen Abschnitt der Vorstoßzone gelingt es Russlands Armee weiterhin nicht, die Siedlung Junakivka einzunehmen.
Die Stabilisierung des Frontverlaufs und gegebenenfalls auch die Heranführung neuer Soldaten der ukrainischen Streitkräfte hat es ermöglicht, dass ukrainische Medien Informationen zu den Gründen des raschen gegnerischen Vorstoßes veröffentlichen konnten. Obwohl die Gegend unter unangefochtener ukrainischer Kontrolle stand, wurden im vergangenen Jahr keine größeren Verteidigungsanlagen errichtet. Bereits im Frühjahr 2024 waren entsprechende Berichte aufgetaucht, die mit Bildern untermauert wurden, auf denen wahllos am Rand von Feldwegen abgeladene Panzersperren aus Beton oder hastig mit Baggern ausgehobene, sehr flache Gräben zu sehen waren. Auch als die ukrainische Armee aus dem nördlich gelegenen russländischen Gebiet Kursk zurückgedrängt und ein Angriff Russlands auf das Gebiet Sumy wahrscheinlicher wurde, änderte sich daran nichts.
Im nordöstlichen Teil der Front zwischen Kupjans’k und Sivers’k hat sich die Lage nach dem Durchbruch der russländischen Armee bei Ridkodub nicht weiter verändert. Die 63. Brigade der ukrainischen Armee gibt an, immer wieder würden sich einzelne Soldaten der gegnerischen Truppen, die im Raum Lyman in vorderster Linie stehen, ergeben. In kurzer Zeit habe es sechs solcher Fälle gegeben.
Waren bei den sogenannten „Fleischangriffen“ der russländischen Armee stets zahlreiche Soldaten durch Artillerie- und Drohnenbeschuss umgekommen, so hat die Umstellung auf Vorstöße in kleineren Gruppen die Verluste reduziert. Allerdings „vergisst“ die Armee die in vorderste Linie vorgerückten Trupps immer wieder für einige Tage. Soldaten in ukrainischer Kriegsgefangenschaft berichten, sie hätten ohne Wasser und Essen in nächster Nähe zu den feindlichen Stellungen ausgeharrt, bis sie keine andere Wahl mehr hatten, als sich zu ergeben. Russländische Kommandeure würden die Untergebenen schlagen, die Evakuierung von Schwerverletzten verweigern und verletzte Soldaten sogar erschießen. Andere würden dazu gezwungen, ihren Sold auf bestimmte Konten zu überweisen. Andernfalls würden sie zu „500ern“ erklärt und anschließend zu „200ern“ gemacht. Als „500er“ werden im russischen Militärslang Verräter bezeichnet, als „200er“ tote Soldaten.
Im zentralen Frontbereich wurde in der dritten Juniwoche an einigen Abschnitten im Raum Kostjantynivka heftig gekämpft. Die Besatzungsarmee greift Kostjantynivka von drei Seiten an: von Nordosten aus Richtung der südlichen Außenbezirke der Stadt Časiv Jar, die sie bislang nicht vollständig eingenommen hat; von Westen aus Richtung der Stadt Torec’k, deren nördliche Peripherie sie in den vergangenen Tagen offenbar vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hat; sowie von Südosten, wo sie um knapp zwei Kilometer bis zum Rand der Siedlung Oleksandro-Kalynove vorgerückt ist. Auf einem am 18. Juni von ukrainischen Kanälen veröffentlichten Video aus diesem Raum ist die Zerstörung einer großen Kolonne russländischer Militärfahrzeuge zu sehen. Zahlreiche gepanzerte Fahrzeuge kamen vor einem Panzergraben zum Halt und wurden beim Versuch der Umkehr zum Opfer der ukrainischen Artillerie.
Im südlichen Frontabschnitt rücken die Besatzer im Raum Novopavlivka an zwei Stellen weiter in Richtung der Grenze des Gebiets Dnipropetrovs’k vor, allerdings mit äußerst geringer Geschwindigkeit. Zwischen den beiden Angriffskeilen liegt ein Gebiet von maximal drei Kilometer Breite und mindestens zehn Kilometer Tiefe, das von der ukrainischen Armee gehalten wird. Darüber hinaus haben Russlands Truppen im Gebiet Zaporižžja versucht, die Siedlung Mala Tokmačka einzunehmen, um von dort nach Orechiv vorzustoßen, wo sich die ukrainische Verteidigung in diesem Raum konzentriert. Von Orechiv aus sind es noch gut 50 Kilometer bis zu der ukrainischen Großstadt Zaporižžja.
Insgesamt finden aber im südlichen Frontabschnitt aktuell keine schweren Kämpfe statt, was ukrainischen Sabotagetrupps Angriffe auf die Infrastruktur des Gegners ermöglicht. Ihr Hauptziel ist die Eisenbahnverbindung zwischen Russland und der Krim, die über die 25 Kilometer hinter der Front liegende Kleinstadt Tokmak führt. Im Sommer 2023 hatte die ukrainische Armee genau hier ihre Gegenoffensive geführt und versucht, von Orechiv aus das rund 30 Kilometer entfernte Tokmak zurückzuerobern. Sie war allerdings nur bis zu der auf halber Strecke liegenden Siedlung Robotyne gekommen. Nun zerstörte ein ukrainischer Sabotagetrupp Anfang Juni mit einem Sprengsatz eine Eisenbahnbrücke bei Tokmak, am 22. Juni folgte südwestlich von Tokmak zwischen Levadne und Moločans’k ein nächtlicher Drohnenangriff auf einen Güterzug. Elf Kesselwagen gingen in Flammen auf. Schmerzhafter als der Verlust der Waggons und des Treibstoffs sind für die Besatzer die Schäden am Gleisbett. Ebenfalls im besetzten Teil des Gebiets Zaporižžja zerstörte der ukrainische Militärgeheimdienst HUR am 14. Juni weit hinter der Front mit Drohnen einige mobile Luftabwehrgeschütze.
Entweder hat die Ukraine in diesem Raum Möglichkeiten gefunden, Sabotagetrupps in das Hinterland des Gegners zu führen, oder dort gibt es einen bewaffneten Untergrund, dessen Kampf gegen die Besatzer die ukrainische Armee mit dem Einschmuggeln von Drohnen unterstützen kann.
Luftangriffe
Russland hat die Ukraine in der 170. Kriegswoche weiter mit schweren Drohnen- und Raketenangriffen überzogen. Die ukrainische Luftabwehr ist angesichts der großen Anzahl an Geschossen eindeutig an ihre Grenzen gelangt. Besonders schwer waren die Angriffe am 17. Juni, als in einer Nacht 472 Drohnen und Raketen Ziele in der Ukraine anflogen, und am 23. Juni (368 Flugobjekte). Die ukrainischen Luftstreitkräfte geben an, 95 Prozent der Raketen und Drohnen abzufangen. Doch dies entspricht ganz offensichtlich nicht den Tatsachen. Ziel der Angriffe ist die Rüstungsindustrie, bei jeder Attacke werden jedoch auch Wohnhäuser getroffen wie zuletzt in Kiew und im Umland. Am 17. Juni etwa schlug eine Rakete in einem neunstöckigen Wohnhaus am Vaclav-Havel-Boulevard ein, wo sich drei Unternehmen des Rüstungssektors befinden. 23 Menschen starben in dem Wohnhaus. Nach drei Jahren Krieg suchen viele Menschen bei Luftalarm keine Schutzräume mehr auf. Die Keller unter mehrstöckigen Wohnhäusern sind oft klein und können bei einem Einschlag zur Falle werden. Der Weg zu einer U-Bahn-Station, die Sicherheit bietet, ist oft weit und der Gang dorthin erscheint vielen gefährlicher als ein Ausharren zu Hause. Die Ukraine hofft nun, dass es mit finanzieller Unterstützung nicht zuletzt aus Deutschland gelingen wird, die Zahl der bereits heute verfügbaren Abfangdrohnen zu erhöhenб um mit diesen anfliegende russländische Angriffsdrohnen in großer Höhe zu zerstören.
Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.