Zangenbewegungen und Entlastungsangriffe

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 133. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 17.9.2024

Russland versucht die ukrainischen Truppen aus dem Gebiet Kursk zu vertreiben. Die Ukraine hat mit einem zweiten Vorstoß in das Gebiet geantwortet. Im Südosten des Donbass ist die Lage im Raum Vuhledar für die ukrainische Armee äußerst prekär. Die Besatzungstruppen versuchen die Verteidigungsanlagen mit einem Zangenangriff zu umgehen und die ukrainischen Truppen einzukesseln. Bei einem Gefangenenaustausch kamen 300 Kriegsgefangene frei, unter den 150 Ukrainern auch zahlreiche Frauen.

Russland hat in der zweiten Septemberwoche an vielen Frontabschnitten die Angriffe intensiviert. Die ukrainische Armee konnte jedoch reagieren. Im Gebiet Kursk versucht Moskau, die eingedrungenen ukrainischen Truppen zu vertreiben, doch diese attackieren nun den bislang nicht besetzten Landkreis Glušovo. Im Südosten des Gebiets Donec’k hat die Okkupationsarmee ihren Zangenangriff vorangetrieben. Den ukrainischen Truppen droht dort an mehreren Stellen eine Einkesselung. Sie haben jedoch einen Gegenangriff gestartet und können möglicherweise die Ende August kampflos aufgegebene Siedlung Novohrodivka zurückerobern.

Der Gegenangriff der russländischen Truppen im Süden des Gebiets Kursk begann am 9. September im Nordwesten des ukrainischen Vorstoßraums. Sturmtruppen des 51. Fallschirmjägerregiments der 106. Fallschirmjägerdivision stießen aus der Kreisstadt Korenevo nach Südwesten in den Ort Snagost’ vor. Sie unterbrachen die örtlichen Nachschublinien der ukrainischen Truppen, denen nördlich des Flusses Sejm eine Einkreisung droht. Gleichzeitig griffen Soldaten der 155. Marineinfanterie aus dem weiter südlich gelegenen Landkreis Glušovo die ukrainischen Truppen von Westen aus an. Bis zum 13. September waren sie auf einer Breite von 20 Kilometern 30 Kilometer in die Tiefe vorgestoßen und hatten ein knappes Dutzend Siedlungen unter ihre Kontrolle gebracht. Dann flauten die Kämpfe deutlich ab. Am 16. September begann allerdings der Angriff auf die Siedlung Ljubimovka, wo sich die wichtigste Stellung der ukrainischen Truppen westlich der Straße von Sudža nach Korenevo befindet.

Doch am gleichen Tag stießen ukrainische Truppen 30 Kilometer westlich des ersten Durchbruchs von Anfang August von ukrainischem Staatsgebiet aus in den Landkreis Glušovo vor. Geschützt von einem Waldstreifen erreichten sie die Grenze, überwanden die Befestigungsanlagen sowie die Minenfelder und drangen vier Kilometer tief auf russländisches Territorium bis zum Rand der Siedlung Veseloe vor. Gelingt es ihnen, diese einzunehmen, stehen die Chancen gut, dass sie auch die zehn Kilometer nördlich gelegene Kreisstadt Glušovo unter ihre Kontrolle bringen können. Ebenso können sie nach Nordosten in Richtung Snagost’ vorstoßen.

Ob dieser neue Vorstoß den russländischen Rückeroberungsversuch allerdings aufhalten kann, ist offen. Die russländischen Militärkanäle sind voll von Berichten über zerstörte ukrainische Fahrzeuge, allerdings meist ohne Bildbelege. Vor allem aber verläuft der neue ukrainische Vorstoß äußerst langsam, wenngleich es östlich von Veseloe leichte Geländegewinne gibt. Zugleich greifen verschiedene russländische Einheiten seit dem 16. September die Ostflanke des ukrainischen Vorstoßgebiets an und haben dort den Grenzübergang Borki unter ihre Kontrolle gebracht. Das Ziel ist offensichtlich: Die von der Ukraine geschaffene „Blase“ im Gebiet Kursk soll von Norden angestochen und im Südwesten abgeschnitten werden. Von diesem Ziel sind die russländischen Truppen allerdings noch weit entfernt.

Wie sehr die Dinge in Bewegung sind und welche Sorgen sich die Moskauer Armeeführung ob möglicher neuer ukrainischer Vorstöße macht, zeigt sich daran, dass die Behörden die Zwangsevakuierung eines 15 Kilometer tiefen Grenzstreifens zwischen Ryl’sk im Osten und dem bereits unweit der Grenze zum Gebiet Brjansk gelegenen Chomutovka im Westen angeordnet hat. Von der Stelle, an der die ukrainischen Einheiten jetzt den zweiten Vorstoß über die Staatsgrenze unternommen haben, bis nach Chomutovka sind es rund 90 Kilometer.

Die Lage im Donbass

Im Donbass wurde in der 133. Kriegswoche vor allem im Südosten des Gebiets Donec’k nahe der Grenze zum Gebiet Zaporižžja heftig gekämpft. In diesem Raum befinden sich die Stadt Vuhledar sowie einige weitere kleinere Städte, insbesondere Kurachove, wo bis 2022 rund 19 000 Menschen lebten, daneben zahlreiche Arbeitersiedlungen und Industrieanlagen, vor allem Kohlegruben und Abraumhalden. Die ukrainische Armee hat die gesamte Gegend seit 2014 zu einer Festung ausgebaut. Faktisch ist es der letzte große Verteidigungsbezirk, den sie zweieinhalb Jahre nach dem Überfall Russlands noch hält.

Diesen versuchen die russländischen Truppen seit einiger Zeit mit einer Zangenbewegung einzuschließen. Der Kessel soll entlang einer Linie zwischen Selydovo im Norden und dem westlich von Vuhledar gelegenen Prečistyvka geschlossen werden. Die Besatzungstruppen versuchen immer wieder auch kleinere lokale Kessel zu erzeugen, um die ukrainischen Verteidiger zum Rückzug zu zwingen. Das von mehrstöckiger Bebauung geprägte Vuhledar etwa liegt auf einer Anhöhe und ist schwer einzunehmen. Gelingt es der Okkupationsarmee allerdings, die Gegend nördlich der Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, muss die ukrainische Armee Vuhledar innerhalb kurzer Zeit aufgeben, weil sie die dortigen Truppen nicht mehr versorgen kann. Für etwas Entlastung hat ein kleiner Erfolg der ukrainischen Armee leicht nördlich des bedrohten Raums gesorgt. Südlich von Pokrovs’k hat sie einen drei Kilometer tiefen Keil in die russländischen Stellungen getrieben und konnte Novohrodivka teilweise umschließen. Die Aussichten, dass sie diese recht große Siedlung wieder unter ihre Kontrolle bringt, stehen nicht schlecht.

Doch auch wenn die rasche Vorwärtsbewegung der Besatzungstruppen im Dreieck Selydovo-Pokrovs’k-Myrnohrad gestoppt wurde, so gehen die schweren Kämpfe doch weiter. Der Ostteil von Selydovo ist besetzt, mittlerweile wird auch in den östlichen Außenbezirken von Myrnohrad gekämpft. In Pokrovs’k zerstört die russländische Luftwaffe mit schweren Bombenangriffen die Brücken und die Wasserleitungen. Allerdings ist den Meldungen der russländischen Militärblogger zu entnehmen, dass die Armeeführung mittlerweile jeden, der eine Waffe in der Hand halten kann, in die Kämpfe an diesem Frontabschnitt wirft. Es gibt nur noch wenige gepanzerte Fahrzeuge, die Versorgung aus dem Hinterland ist prekär. Hätte die Ukraine die Truppen für einen Gegenangriff, könnte sie der Okkupationsarmee große Probleme bereiten.

Der Luftkrieg

Beide Kriegsparteien haben den Luftkrieg in der zweiten Septemberwoche fortgesetzt. Russland setzte jedoch im Unterschied zu den Vorwochen weniger Raketen, sondern wie auch die Ukraine überwiegend Drohnen ein. Die Ukraine folgt weiter der Strategie, mit sehr großen Drohnenschwärmen die Luftabwehr zu überwinden, Russland setzt weiter auf tägliche Angriffe.

Ein solcher ukrainischer Großangriff fand in der Nacht auf den 10. September statt, als 144 Drohnen Ziele in neun russländischen Gebieten anflogen. Im Großraum Moskau wurde an sämtlichen Flughäfen der Betrieb eingestellt. Zentrales Ziel war aber der Flughafen Žukovskij in der südöstlich von Moskau gelegenen Stadt Ramenskoe. Von dort starten Zivilmaschinen, ein Teil des Geländes wird aber auch für militärische Übungsflüge genutzt. Zwei der anfliegenden Drohnen stürzten in ein 1000 Meter abseits des Flughafengeländes gelegenes Hochhaus, dort kam eine Frau ums Leben. Unklar ist, ob die ukrainischen Programmierer der Flugroute das recht neue Gebäude nicht kannten oder ob die beiden Drohnen mit Mitteln der elektronischen Kampfführung vom Kurs abgebracht worden waren.

In der Nacht auf den 12. September versuchte die Ukraine zudem erneut, den Militärflugplatz Olen’ja nahe Olenegorsk auf der Kola-Halbinsel anzugreifen. Dort sind strategische Bomber stationiert, die aufsteigen, um Luft-Boden-Raketen auf Ziele in der Ukraine abzufeuern. Offenbar hat keine einzige Drohne das in fast 2000 Kilometern Entfernung gelegene Ziel erreicht. Doch wie sich aus den Meldungen aus dem Gebiet Murmansk schließen lässt, sind die dortigen Behörden in großer Sorge und haben Handy-Aufnahmen vom Abschuss der Drohnen strikt untersagt.

Russland hat mit einem Drohnenangriff auf ein Umspannwerk in Konotop im Gebiet Sumy die Strom- und Wasserversorgung in der Stadt unterbrochen. Daneben wurden sieben mehrstöckige Häuser, ein Krankenhaus und eine Schule beschädigt. Bei Angriffen auf Stadtteile mit dichter Wohnbebauung in Charkiv am 13. und 16. September stürzte eine Drohne in einen mehrstöckigen Plattenbau, dort wurden 56 Menschen verletzt.

Gefangenenaustausch

Am 13. September tauschten Russland und die Ukraine je 49 Kriegsgefangene aus, einen Tag später noch einmal je 103. Am 24. August waren bereits 115 Soldaten beider Seiten freigekommen. Der Austausch fand jeweils an der belarussisch-ukrainischen Grenze statt, seit dem Vorstoß der Ukraine in das Gebiet Kursk kommt die gemeinsame Grenze nicht mehr in Frage. Die Ukraine hatte im Gebiet Kursk viele Wehrdienstleistende gefangen nehmen können. Da Russland für diese einen höheren Preis zu zahlen bereit ist, gelang es der Ukraine, eine ganze Reihe von Personen freizubekommen, die Russland als „Trophäe“ betrachtet hatte. Insbesondere sind zahlreiche Azov-Soldaten freigekommen, darunter rund ein Dutzend Frauen, die in verschiedenen Einheiten gedient hatten und im Mai 2022 nach der Kapitulation der im Azovstal’-Werk in Mariupol’ verschanzten Truppen gefangengenommen und in politischen Prozessen verurteilt worden waren. Daneben kamen auch zwei Kämpfer der Sondereinheit „Kraken“, zwei Soldaten einer internationalen Brigade und drei Mitglieder der Spezialkräfte frei. Unter den Ausgetauschten war auch Lenie Umarova, eine Krimtatarin, die im Jahr 2023 bei dem Versuch, über Georgien und Südrussland auf die Krim zu ihrem erkrankten Vater zu gelangen, festgenommen und wegen angeblicher Spionage verurteilt worden war. Die Frauen waren dem Augenschein nach zu urteilen bei der Freilassung in keinem desolaten gesundheitlichen Zustand. Die Männer wirkten hingegen stark ausgezehrt, die ukrainischen Behörden bestätigten, dass viele in einem sehr schlechten Gesundheitszustand sind.

Unter den freigelassenen russländischen Kriegsgefangenen befanden sich offenbar 22 junge Männer des Geburtsjahrgangs 2005, 14 des Jahrgangs 2004 und zahlreiche der Jahrgänge 2000–2003, bei denen es sich um Wehrdienstleistende handeln soll. Bezeichnend ist die rhetorische Volte des Sprechers der Kadyrov-Brigade der Nationalgarde im Gebiet Kursk. Bislang hatte Apti Alaudinov stets behauptet, es befänden sich keine Tschetschenen unter den Kriegsgefangenen. Nun verkündete er, an ihn würden sich immerzu Verwandte von Gefangenen wenden, damit er sich für diese einsetze. Doch dies werde er nicht tun, da Männer, die sich im Krieg gefangen nehmen ließen, keine Tschetschenen mehr seien. Man darf daraus schließen, dass die Ukraine für die zukünftigen Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen noch einige „Trümpfe“ in der Hand hat.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden. Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.