Zelens’kyj öffnet Büchse der Pandora im Luftkrieg
Russlands Krieg gegen die Ukraine, die 142. Kriegswoche
Nikolaj Mitrokhin, 21.11.2024
Zelens’kyj hat die Front besucht, was nie etwas Gutes bedeutet. Zudem hat er die Gerüchte über neue Präsidentschaftswahlen beendet. In Kursk verschlimmert sich die Lage der ukrainischen Truppen. Eine Kriegsreporterin beschreibt derweil das Elend der russischen Verwundeten an der Front, die von Russland allein gelassen werden. Ein russisches Kommando wurde entlassen, weil es die Einnahme ukrainischer Dörfer gefakt hat. Trotz aller Behauptungen und Erwartungen der ukrainischen und westlichen Nachrichtendienste sind noch immer keine Soldaten aus Nordkorea an der Front aufgetaucht. Allerdings zeichnet sich nun ab, wie die Nordkoreaner im Dezember in den Kampf eintreten könnten. Eine politische Entscheidung Zelens’kyjs führt zu einer neuen Eskalation im Luftkrieg.
Die Lage an der Front
Am 18. November besuchte Präsident Volodymyr Zelens’kyj die Frontlinie – zunächst das zehn Kilometer von den russischen Stellungen entfernte Pokrovs’k. Es ist das Führungs- und teilweise auch Logistikzentrum des südlichen Donbass-Verbandes und wird von der 25. unabhängigen Fallschirmjäger-Brigade der Ukraine (Sičeslav) verteidigt. Noch am selben Tag fuhr er an den nördlichen Stadtrand von Kupjans’k in der Region Charkiv. Zelens’kyjs Auftritte in Frontstädten sind stets nicht nur Ausdruck seines persönlichen Muts und seiner Bereitschaft, die Soldaten an der Front zu unterstützen. In Pokrovs’k verlieh er diesmal Auszeichnungen an die Unteroffiziere der kämpfenden Brigaden. Seine Anwesenheit in der Kampfzone ist jedoch immer auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Stadt innerhalb einiger Wochen bis zu mehreren Monaten an den Feind fällt. Dies war nach den Besuchen in Lysyčans‘k (20. Juni 2022), Bachmut (20. Dezember 2022), in der Gegend von Mar‘jinka (23. Mai 2023) und Avdijivka (29. Dezember 2023) so. In der Regel zeigen die ukrainischen Medien vor der Aufgabe der Stadt Bilder aus der Vogelperspektive veröffentlichen, die das Ausmaß der Zerstörung zeigen.
Zelens’kyj wollte die Situation mit eigenen Augen sehen, um, wie er auf seinem Telegram-Kanal sagte, „Berichte unserer Kommandeure sowie Berichte über die Sicherheitslage und die Lebensbedingungen in den Regionen Donec‘k und Charkiv“ zu hören. Einerseits ist dies durchaus logisch, da er die Lage nicht auf Grundlage der Berichte des Oberbefehlshabers der ukrainischen Armee Oleksandr Syr’skyj bewerten wollte. Syr’skyj fordert mehr Ressourcen für die Verteidigung der gesamten Ostfront (insbesondere in Richtung Pokrovs’k). Zudem muss Zelens’kyj offensichtlich auch eine Entscheidung über den Rückzug der Truppen aus dem riesigen Kessel treffen, der sich in Richtung Kurachove gebildet hat. Auch südöstlich von Kurachove ist ein kleiner, aber potenziell sehr gefährlicher Kessel entstanden. In der vergangenen Woche ist die russische Armee auch in einige Teile des Frontvorsprungs von Pokrovs‘k vorgerückt und bedroht Pokrovs‘k und Myrnohrad sowie alle ukrainischen Stellungen im Süden an der Zaporižžja-Front. Andererseits wäre der Rückzug der Truppen aus dem Kurachove-Kessel der vielleicht größte Rückzug der ukrainischen Streitkräfte auf einen Schlag seit zwei Jahren. Damit würden auch die kleinen Erfolge, die sie im Sommer und Herbst 2023 an der Zaporižžja-Front erzielt hat, zunichte gemacht. Dort, im Gebiet von Velika Novosilka, hat die russische Armee in dieser Woche teilweise bereits die alten Linien erreicht. Am 19. November stellte Zelens’kyj den neuen „Plan der Standhaftigkeit“ in der Verchovna Rada vor. Darin hält er fest, dass er die Neuwahl eines Präsidenten ablehnt, solange bis ein „gerechter Frieden“ erreicht sei. Das bedeutet, dass die seit Anfang November erneut aufgekommenen Gerüchte über bevorstehende Präsidentschaftswahlen wohl vorerst nicht Realität werden.
Insgesamt haben Zelens’kyj und die ukrainischen Streitkräfte noch etwa drei Wochen Zeit, um die Truppen zu verlegen. Die Bodenverhältnisse im Frontgebiet verlangsamen weiterhin die Logistik und das Vorrücken der russischen Armee. Auch der Einsatz neuer Einheiten zur Unterstützung der bestehenden lässt die Front vorerst halten. Die russische Armee ist seit mindestens zwei Wochen theoretisch in der Lage, den Ring um den ukrainischen Kurachove-Verband zu schließen. Dies gelingt zwar nur äußerst langsam. Doch verengte sich etwa der Ausgang aus dem 20-Kilometer-langen „Sack“ im Gebiet südöstlich von Kurachove im Laufe der Woche von sieben auf 5,5 Kilometer.
Auf den Kanälen der Kriegsberichterstatter wurden Berichte darüber veröffentlicht, wie schwierig es ist, im Schlamm zu leben und im Gelände zu gewinnen. Auch wird dort über die fehlende Evakuierung der vorderen Einheiten geklagt. So kommt es, dass den Verwundeten wochenlang die notwendige medizinische Versorgung vorenthalten wird.
Die größte Bedrohung für die ukrainischen Streitkräfte sind zurzeit nicht die ständigen Versuche der russischen Streitkräfte, in kleinen Gruppen über die Felder vorzurücken. Es sind direkte Durchbrüche russischer Panzerkonvois über Straßen, die wie sich unerwarteterweise herausstellt, niemand verteidigen kann. So fuhren beispielsweise am 13. November russische Militärs einfach in Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge aus dem Gebiet Liman Pervyi über die vier Kilometer lange Straße nach Kupjans‘k ein und setzten dabei das sowjetische Minenräumsystem UR-77 ein. Dieses räumt die Felder mithilfe von sogenannten Räumschnüren, die die Minen zur Explosion bringen. Einige der Truppen waren mit ukrainischen Uniformen getarnt. Und obwohl sie in der Stadt selbst auf eine Panzersperre trafen und die gepanzerten Fahrzeuge aus nächster Nähe beschossen wurden (insgesamt waren bis zu 15 Fahrzeuge beteiligt, von denen mindestens fünf bis sieben definitiv zerstört wurden), ließen die Okkupanten den Landungstrupp zurück. Weitere Informationen über sein Schicksal sind nicht bekannt. Nach ukrainischen Angaben wurde er am nächsten Tag ausgeschaltet, nach russischen Angaben hält er weiterhin die Verteidigung aufrecht. Dies ist nicht der erste russische Durchbruch dieser Art im Oktober gab es mehrere solcher Durchbrüche an der Zaporižžja-Front. Einer von ihnen hatte unmittelbar zur Aufgabe von Vuhledar geführt. Mitunter haben solche Manöver aber auch große Verluste zur Folge, wie beim gescheiterten Durchbruch der 810. Marineinfanteriebrigade bei Kaučuk in der Region Kursk, der sie 17 gepanzerte Fahrzeuge kostete.
Verschlechtert hat sich die Situation für die Verteidiger in Časiv Jar. Anfang dieser Woche wurde deutlich, dass die Okkupationstruppen vom Sivers‘kyj-Donez‘-Donbass-Kanal aus in einem recht schmalen Streifen bis in die Mitte des rechtsufrigen Teils der Stadt vorgedrungen ist, dem Gebiet des Avangard-Stadions. So gelang es ihr, die ukrainische Verteidigung in der Stadt zu spalten. Dies gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Angriffe auf andere Teile der Stadt auszuweiten. Und da die Stadt auch von Süden her umgangen wird, werden die ukrainischen Streitkräfte im südlichen Teil der Stadt allmählich von Westen her bedroht.
Kursker Gebiet
Berichten aus dem Gebiet Kursk zufolge, vor allem aus russischen Quellen, finden dort schwere Kämpfe statt, insbesondere im nördlichen Teil der von der ukrainischen Armee kontrollierten „Blase“. Am 18. November meldeten russländische Quellen einen großen Erfolg: Bei der Niederlage von etwa einem Bataillon der 17. eigenständigen Brigade der ukrainischen Truppen im Olgowskoje-Wald sollen etwa 200 ukrainische Soldaten getötet und mehrere Dutzend gefangen genommen worden sein. Eine ukrainische Bestätigung steht ebenso aus, wie eine russische per Video. Laut Kriegsberichterstattern sollen sich 456 ukrainische Soldaten in Gefangenschaft befinden. Es ist jedoch unklar über welchen Zeitraum hinweg diese gefangen genommen worden sein sollen. Offenbar handelt es sich um all diejenigen, die in der Region Kursk gefangen genommen wurden. Dieselben Kriegsberichterstatter meldeten wenig später, dass die russische Armee in demselben Gebiet nur „vorgerückt“ sei und dass 200 ukrainische Kämpfer immer noch in demselben Wald eingekesselt seien. Der Kanal „Two Majors“ veröffentlichte am 18. November drei Videos mit ukrainischen Gefangenen aus den Reihen der 144. Infanteriebrigade und der 17. Panzerbrigade. Ein Teil der ukrainischen Kräfte befindet sich also in dem engen „Sack“ im Norden der „Blase“ in der Tat in einer sehr schwierigen Lage. Weitere Teile der Truppen sind bei Durchbruchs- und Rückzugsversuchen, die mit unvermeidlichen Verlusten einhergingen, tatsächlich gefangen genommen worden. Die Höhe der Opferzahl ist nicht genau bekannt.
Das Evakuierungsproblem der russischen Armee
Ein Text von Anastasia Kaševarova über die nicht stattfindende Evakuierung von Verwundeten vom 15. November beschreibt anschaulich das Lügengebäude und die Falschmeldungen der russischen Seite:
„Dass sich verwundete Kämpfer wochenlang in den Schützengräben befinden, ist ein großes Problem, das mit der Sauce des Heldentums übergossen wird… Auch dass sich Verwundete an der Frontlinie in den Schützengräben, wochen- und monatelang aufhalten müssen, ist ein häufiger Fall. Viele entwickeln Wundbrand, Blutvergiftungen und Abszesse. Häufig könnten Gliedmaßen noch gerettet werden, aber die Behandlungen verzögern sich zu sehr, die unwiederbringlichen Verluste erhöhen sich. Und das alles nur, weil wir von Anfang an eine geschlossene Fehlerkette geschaffen haben und nun nicht wissen, wie wir da wieder herauskommen. Falsche anfängliche Berechnungen führten zum Verlust von Personal, daraufhin mussten wir mobilisieren. Es folgten Diebstahl und die Lügen, dass an der Front alles vorhanden sei, dies wiederum führte zu einem Mangel an Ausrüstung und Waffen. So mussten die Soldaten erneut ohne Übung und Artillerieerfahrung zum Angriff übergehen. Lügen über die Zahl der Freiwilligen, Lügen über die Tatsache, dass alle in Urlaub gefahren sind – auch das schadet nur der Kampfmoral und spiegelt nicht die wirkliche Situation an der Front. Das Ergebnis ist, dass wir an der Front einen solchen Mangel an Leuten haben, dass wir alle Spezialisten und Ingenieure zu den Angriffsgruppen schicken. Die Verwundeten liegen in den Schützengräben, weil es niemanden gibt, der sie behandeln kann. Und die Kommandeure sind auch Geiseln all dieser Fehler, sie bekommen Befehle und Aufgaben, die auf diesen Zahlen von Granaten, Personal, besetztem Gebiet und vorhandener Ausrüstung beruhen, die alle aus den Fingern gesogen sind und nach ganz oben weitergereicht werden.“
Sivers’k
Falschmeldungen über die Einnahme ukrainischer Dörfer am Frontabschnitt von Sivers’k (dem östlichsten Punkt der Frontlinie, südlich von Kreminna und westlich von Lysyčans‘k) führten in der vergangenen Woche zum Rücktritt des russischen Kommandos der 3. Armee. Kriegsreportern zufolge gibt es einige Berichte darüber, dass ganze Eroberungen gefälscht waren. Dies wurde von der russischen Militärführung lange Zeit ignoriert, bis einer der hochrangigen Beamten ein Dorf besuchen wollte, das erobert sein sollte und angeblich im relativen Hinterland lag. Doch dann stellte sich heraus, dass es de-facto von den ukrainischen Streitkräften kontrolliert wurde. Daraufhin wurde um den 10. November das Kommando der 3. Armee und einiger Brigaden entlassen und sogar verhaftet.
Nordkoreanische Soldaten in Russland und Genehmigung für ATACMS-Schläge
Trotz aller Behauptungen und Erwartungen der ukrainischen und westlichen Nachrichtendienste sind noch immer keine Soldaten aus Nordkorea an der Front aufgetaucht. Es ist noch nicht einmal geklärt, ob sie als selbstständige Einheiten kämpfen oder sich den Einheiten der russischen Armee anschließen sollen. Bisher präsentierten ukrainische Medien nur eine einzige vermeintliche Bestätigung, dass sie sich in Zentralrussland aufhalten: Ein Interview mit einem gefangenen russischen Soldaten, der nur eines sagen konnte: Gerüchten zufolge sollen sie sich in der Region Voronež befinden und dort ausgebildet werden.
Über die russisch-nordkoreanische militärische Zusammenarbeit ist in dieser Woche nur ein einziger Fakt hinzugekommen: In Krasnojarsk wurde ein Zug nordkoreanischer Artillerieeinheiten vom Typ M1989 „Koksan“ mit hoher Leistung und Reichweite (bis zu 60 km) entdeckt. Ob das Gerät von nordkoreanischen Soldaten begleitet wurde oder ob das russische Militär mit solchen Maschinen kämpfen wird, ist unklar. Betrachtet man das Vorgehen jedoch unter dem Gesichtspunkt der normalen militärischen Praxis und Logistik, erscheint alles eindeutig und logisch. Nach einem einmonatigen „Training“ im Fernen Osten wurde damit begonnen, die nordkoreanischen Einheiten mit der Eisenbahn ins Kampfgebiet zu verlegen. Sie werden bis Anfang Dezember dort sein. Es ist abhängig von den Plänen der Führung und der Notwendigkeit, neue Reserven einzusetzen, doch zumindest könnten die Nordkoreaner wohl schon im Dezember in den Kampf eintreten. Auch wenn in der vergangenen Woche erneut über die Möglichkeit der Verlegung von bis zu 100 000 nordkoreanischen Soldaten in die Russländische Föderation berichtet wurde. Es handelt sich bisher eindeutig um eine relativ kleine Gruppe von 7000 bis 12 000 Mann, die kaum in der Lage sein dürfte, die Situation and er Front grundlegend zu verändern. Sie werden aber sicherlich den russischen Ansturm in ein oder zwei bestimmten Gebieten verstärken. Erst am 19. November kehrte die stellvertretende Sprecherin des Pentagon, Sabrina Singh, zur Realität zurück und erklärte: „Das US-Verteidigungsministerium kann die Beteiligung des nordkoreanischen Militärs an den Kämpfen in der Ukraine oder seine Präsenz in der Region Kursk nicht bestätigen.“
Die Panik in den internationalen Medien über den Kriegseintritt Nordkoreas sowie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA in Verbindung mit der Entscheidung, der Ukraine den Rest des zuvor vom Kongress zugewiesenen Betrags (9 Mrd. US-Dollar) an Waffen zu überlassen, haben offenbar eine Rolle bei der Entscheidung von Präsident Joe Biden gespielt, der Ukraine zu gestatten, Ziele in der Region Kursk mit ballistischen ATACMS-Raketen anzusteuern. Bei aller Hysterie russischer Top-Beamter ist Bidens Logik doch verständlich. Wenn Russland die besetzten Regionen der Ukraine zu Regionen Russlands erklärt hat und alle Regionen gleich sind, warum darf die Ukraine, die seit einem Jahr das vermeintlich „neue Russland“ mit ähnlichen Raketen beschießt, nicht auch das alte treffen?
In der Nacht zum 19. November erfolgte ein solcher Angriff – und zwar keineswegs in der Region Kursk. Aus dem Gebiet war während der Raketen-Debatte in den vergangenen Monaten alles abgezogen worden, was einen militärischen Wert hatte. Der Angriff erfolgte auf ein Arsenal des Logistikzentrums 1046 in der Nähe der Stadt Karačev in der Region Brjansk. Nach ukrainischen Angaben, die sich auf ein von Anwohnern aufgenommenes Video stützen, kam es dort infolge einer starken Explosion zu einer Sekundärdetonation mit zwölf Explosionen. Russischen Berichten zufolge fingen mehrere Flugabwehrraketensysteme der Typen S-400- und S-300 in dem Gebiet fünf der sechs Raketen ab (sowie mehrere Himars-Raketen). Die sechste Rakete wurde beschädigt und stürzte auf das „technische Gelände des Stützpunkts“. Es liegen noch keine Daten aus der Satellitenaufklärung vor. Es gab aber wohl keine größeren Brände oder Evakuierungen von Zivilisten.
Zwar können die neuen Raketenwerfer in anderen Fällen durchaus erfolgreich sein. Dass solche Raketen aber einen grundlegenden Einfluss auf die Lage an der Front haben werden, scheint eher unwahrscheinlich. Viel gefährlicher für die russische Infrastruktur und Luftwaffe sind die britischen und französischen Marschflugkörper wie Storm Shadow und Scalp. Sie verfügen über eine doppelt so große Reichweite wie ATACMS und haben sich beim Beschuss großer Ziele, wie etwa Kriegsschiffen in den Häfen der Krim, bewährt. Die Erlaubnis, sie gegen Ziele im „alten Russland“ einzusetzen, wird der ukrainischen Armee wahrscheinlich in naher Zukunft erteilt werden. Aber auch sie werden allenfalls einzelne Objekte in größerem Umfang beschädigen können.
Luftangriffe
Diese Woche zeigte sich, dass Zelens’kyjs politische Entscheidung, die Angriffe auf die kaspische Flottille und neue Angriffe auf russische Öllager zu genehmigen, die Büchse der Pandora wohl geöffnet hat. Er verfolgte möglicherweise das Kalkül, mehr Hilfe von der scheidenden US-Präsidialadministration zu erhalten, einschließlich der Genehmigung von ATACMS-Angriffen. Zwei Monate lang hatte sich die Ukraine nur gegen Drohnen und unregelmäßige ballistische Raketen wehren müssen. Ihr war es im Spätsommer und Herbst weitgehend gelungen, die Stromerzeugung wieder auf ein Niveau zu bringen, das eine ununterbrochene Versorgung der Bevölkerung und der Industrie mit Strom und Wärme gewährleistet. Nun aber sah sie sich erneut brutalen Raketenangriffen ausgesetzt – durch Marschflugkörper, ballistische Raketen und Drohnen.
Der Beschuss am Morgen des 17. November war der stärkste seit Beginn des Krieges. Nachdem russische strategische Bomber zwei Tage lang die ukrainische Luftabwehr beschäftigt hatten, feuerten sie am dritten Tag 120 Raketen und etwa 90 Drohnen gleichzeitig aus der Luft und vom Boden aus ab (aus dem Gebiet von Brjansk, der Krim und der westlichen Region Krasnodar).
Die ukrainischen Luftstreitkräfte meldeten, dass sie 102 von 120 Raketen abgeschossen habe. Das sind etwa 85 Prozent, während sie zuvor etwa 70 Prozent abfing. Dies ist vermutlich auf die gute Arbeit der F-16 zurückzuführen, die allein zehn Raketen abschießen konnten. Zudem habe sie knapp die Hälfte der Drohnen zerstört, nachdem sie zuvor bis zu 90 Prozent abgeschossen hatte. Dennoch brachen folglich nicht wenige Raketen durch und sorgten für Zerstörungen und Probleme in mindestens zehn Regionen der Ukraine. Besonders schlimm war die Lage in der Region Odessa, wo der öffentliche elektrische Nahverkehr eingeschränkt war sowie Ampeln und Beleuchtung in einigen Bezirken lahmgelegt wurden. Auch Mykolajiv wurde stark getroffen, mit zahlreichen Schäden an Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden und der Infrastruktur. Aber auch in den Regionen Vinnyzja, Žytomyr, Ivano-Frankivs‘k, Kiew, L'viv, Poltava und Rivne wurden Umspannwerke und Stromerzeugungsanlagen beschädigt. In der Region Poltava schlugen drei Raketen in die Staumauer des Stromkraftwerks Kremenčuk ein. Zwei davon trafen nach ukrainischen Angaben, wie auf einem Video zu sehen, nicht den oberen Teil der Staumauer, sondern das Wasser einige Dutzend Meter vor der Staumauer. Es sollte der Unterwasserteil getroffen werden, in dem sich die Turbinen befinden. Ukrainische Experten stellten fest, dass im Falle eines Dammbruchs eine so große Stadt wie Kremenčuk innerhalb einer halben Stunde unter Wasser stehen würde. Nach Angaben des Bürgermeisters von Kryvyi Rih wurden unter anderem zwei Schulen „stark zerstört“. In Mukačevo (Region Transkarpatien) wurde eines der Umspannwerke beschädigt, das für den Import von Strom aus der EU zuständig ist.
Doch insgesamt hat das ukrainische Energiesystem dem Angriff standgehalten. In vielen Regionen wurde unmittelbar nach dem Angriff der Strom abgestellt. Diese geplanten Stromausfälle wurden jedoch in den meisten Gegenden bis zum Abend aufgehoben. Nur in einigen Städten gingen die Stromausfälle noch zwei Tage weiter. Unterdessen bestanden die Probleme in Odessa fort. Das lag daran, dass die Stromerzeugung der Kernkraftwerke reduziert worden war, nur zwei von neun Reaktoren waren in Betrieb. Sie konnten schlicht nicht darauf vertrauen, dass der von ihnen erzeugte Strom weiter an die angegriffenen Umspannwerke verteilt werden würde. Dennoch gehen Experten davon aus, dass Russland über ausreichende Raketenvorräte verfügt (darunter etwa 300 Marschflugkörper des Typs Ch-101, von denen Russland derzeit bis zu 50 pro Monat produziert), um weitere großangelegte Angriffe durchzuführen.
Gleichzeitig greift Russland die Ukraine weiterhin täglich mit Drohnen und ballistischen Raketen an. Letztere führen immer häufiger zu Tragödien, bei denen Zivilisten sterben oder verletzt werden, da sie Wohngebäude treffen, nachdem sie entweder falsche Zielanweisungen erhalten haben oder von ukrainischen Raketenabwehrraketen abgeschossen wurden. So flog am 17. November eine Iskander-Rakete in ein mehrstöckiges Gebäude in Sumy. Dabei starben elf Menschen, darunter zwei Kinder im Alter von neun und 14 Jahren. 68 Menschen wurden verletzt, darunter fünf Kinder. 400 Menschen mussten aus dem Gebäude evakuiert werden. Am 18. November wurde Odessa mitten am Tag von einer weiteren Iskander-M-Rakete angegriffen. Sie wurde zwar von einem Patriot-Luftabwehrsystem abgeschossen. Doch der Iskander-Sprengkopf fiel in einen belebten Innenhof im Bezirk Primorskyj. Es gab zehn Tote, 47 Verletzte, darunter vier Kinder im Alter von sieben, zehn und zweimal elf Jahren.
Die Ukraine reagiert darauf vor allem mit Drohnenangriffen auf Industrie- und Militäreinrichtungen. Am 15. November griff sie den Militärflugplatz Krymsk in der Region Krasnodar an. Russländischen Angaben zufolge wurden 40 Drohnen abgeschossen, der Schaden ist nicht bekannt. Am 17. November flogen ukrainische Drohnen zum ersten Mal ein so wichtiges Zentrum der russischen Rüstungsproduktion wie Iževsk an, das sich 1200 Kilometer von der Front entfernt befindet. Sie schlugen in der Iževsker elektromechanischen Fabrik „Kupol“ zu. Nach Angaben des Stadtoberhaupts landete eine Drohne in einem Werksareal, in dem das taktische Kurzstrecken-Flugabwehrraketen-System „Tor“ sowie Radarstationen hergestellt werden.
Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.