Zelens’kyjs Mauer

Deutsche Geschichte auf dem Schlachtfeld Ukraine

Frank Grelka, 21.3.2022

In Müllrose, unweit der deutsch-polnischen Grenze, hat Chaja Iolina Zuflucht vor Russlands Überfall auf ihr Heimatland gefunden. Die 102jährige Ukrainerin mit jüdischen Wurzeln muss jetzt immer wieder an das Jahr 1941 zurückdenken, als sie vor der deutschen Besatzung aus Kiew ins russländische Hinterland nach Saratov fliehen musste. Volodymyr Zelens’kyj, Nachkomme eines Rotarmisten des Zweiten Weltkriegs und ebenfalls jüdischer Herkunft, hat Deutschland mit der Nase darauf gestoßen, seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine gerecht zu werden. Ausdrücklich sprach der ukrainische Präsident in seiner Ansprache am 17. März 2022 vor dem Deutschen Bundestag im Namen seiner älteren Landsleute, die schon den Zweiten Weltkrieg erlebten. So wie Frau Iolina, geboren 1919, die sagt: „1941 wurde ich von den Nazis nach Russland vertrieben, nun musste ich vor den russischen Bombenangriffen nach Deutschland fliehen.“

Es ist ein wenig bekanntes Kapitel des deutschen Überfalls auf die Sowjetukraine im Sommer 1941: der Bombenkrieg der Luftwaffe im Osten. Ihm fielen nach Schätzung von Historikern 500 000 Menschen zum Opfer. Viele Russen, Belarussen und Ukrainer hatten ihre erste Begegnung mit der Wehrmacht in Form des Dröhnens von Propellern und des Jaulens der Jericho-Trompeten, mit denen die Sturzkampfbomber ihre Angriffe einleiteten. Das Dritte Reich war mit fast 4000 Flugzeugen – Bombern, Sturzkampfflugzeugen, Jägern, Transportern – zum „Unternehmen Barbarossa“ angetreten, wie der Code-Name für den Angriff der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 lautete. Wenn Zelens’kyj in seiner Rede auf die deutsche Bombardierung ukrainischer Städte 1941 verweist, appelliert er an das historische Bewusstsein der politischen Klasse in Deutschland.

Die Parallelen zwischen den Angriffen Deutschlands 1941 und Russlands 2022 auf die Ukraine sind kaum zu übersehen. Jeweils versucht die angreifende Kriegspartei, ihre Bodentruppen zu unterstützen, indem sie Militärbasen, Artilleriestellungen und vor allem Städte bombardiert. Wie im Zweiten Weltkrieg ist auch heute die Zivilbevölkerung dem Bombenkrieg nahezu wehrlos ausgeliefert. Wie sich 1941 Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger wie Frau Iolina ins Hinterland flüchteten oder evakuiert wurden, um sich vor den Bombardements des Angreifers in Sicherheit zu bringen, begeben sich nun Hunderttausende, ja Millionen ukrainischer Zivilisten auf die Flucht, um sich vor den Angriffen der russländischen Armee in Sicherheit zu bringen. Offen ist, was nach einer Kapitulation der ukrainischen Seite der übrig gebliebenen Zivilbevölkerung droht. Russlands Vorgehen in Tschetschenien und Syrien lässt nichts Gutes erahnen. 1941/42 hatten die Deutschen nach der Logik des Vernichtungskriegs die Menschen im belagerten Charkiv sich selbst überlassen. Sie sollten verhungern und verdursten. In Mariupol’ verfolgt Russland offensichtlich ein ähnliches Szenario.

Zwei weitere Ähnlichkeiten stechen ins Auge. Russland rechtfertigt seinen Angriff auf die Ukraine damit, die Bevölkerung von seiner vermeintlich illegitimen Regierung befreien zu wollen. Wie NS-Deutschland geht es auch dem Putin-Regime darum, den ukrainischen Staat und seine Nation zu vernichten. Schließlich lehnt Russlands Führung ernsthafte Verhandlungen mit dem „Feind“ bisher ab, oder täuscht ihre Bereitschaft allenfalls vor. Das russländische Vorgehen in Mariupol’ und Charkiv demonstriert, dass Russlands Führung Kriegsverbrechen billigt, wenn nicht sogar anordnet.

Dann sind da die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion, die in der geheimen Aufrüstung der deutschen Luftwaffe in den 1920er Jahren ihren Ausgangspunkt hatten und im Hitler-Stalin-Pakt gipfelten. Auf die berüchtigte Tradition dieser besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland weisen unsere osteuropäischen Nachbarn seit Jahren hin, wenn sie die Rohstoffe-Geschäfte zwischen Berlin und Moskau kritisieren. Vor diesem Hintergrund agieren wir in diesem Krieg zumindest als Bystander, weil wir weiter Geschäfte mit dem Angreifer machen. Bystander stellen sich nicht ihrer Verantwortung, den offensichtlichen Opfern eines Konflikts zu helfen. Sie wägen ihre Einbußen und Verluste und fragen sich möglicherweise auch, was kann ich in diesem Krieg gewinnen? Anstatt auf die Mehrheit der Deutschen zu hören, die einen konsequenten Wirtschaftskrieg gegen Russland befürworten, dominiert auf der Seite der Entscheider das Bedürfnis, weiterhin grenzenlos Business-as-usual (Zelens’kyj im Bundestag wörtlich: „Ihr wolltet lieber Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft“) zu üben. Ganz ohne zu bemerken, dass die seit 2014 andauernde Realitätsverweigerung Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit in Europa weiter sinnentleeren wird.

Es ist diese Wagenburgmentalität der Bundesregierung, die Präsident Zelens’kyj im Bundestag als „Mauer“ bezeichnete. Diese Mauer hat keine materielle Form, wie die von Zelens’kyj erwähnte Berliner Mauer, sondern sie ist eine geistige Barriere in den Köpfen der deutschen politischen Klasse, die fieberhaften Konsumismus und egoistische Selbsterhaltung vor das Existenzrecht eines 44-Millionen-Volk stellt, das Deutschland 1941 selbst vernichten wollte. Politisch realistisch ist es nicht, darauf zu hoffen, dass die russische Armee am Bug haltmacht. Die historische Chance für Deutschland liegt heute darin, mit einem Gas- und Ölembargo für das Überleben der Ukraine Krieg zu führen. Es ginge damit praktisch darum, die Dauer dieses Kriegs zu verkürzen und damit die Zahl der Todesopfer unter der ukrainischen Bevölkerung so gering zu halten wie eben möglich. Mit den Worten von Papst Franziskus ist es die Nächstenliebe, die jetzt mehr als je zuvor realistisch ist und „nichts von dem verschleudert, was für eine Verwandlung der Geschichte nötig ist, die auf das Wohl der Letzten ausgerichtet ist“ (Papst Franziskus, Fratelli Tutti, 165).

Etwa acht Millionen Menschen hat der deutsche Überfall auf die Ukraine zwischen 1941 und 1943 das Leben gekostet. Nach drei Wochen Krieg sind heute mehr als zwei Millionen aus der Ukraine geflüchtet, weitere acht Millionen werden erwartet, die Zahl der zivilen Opfer steigt stündlich. Wenn wir davon ausgehen können, dass der laufende russische Angriff eine militärische und humanitäre Dimension wie der deutsche Angriff von vor 80 Jahren hat, dann ist dieses Ereignis nicht das x-te schwerwiegende, aus dem wir nicht zu lernen vermögen. Es ist eine Zeitenwende, die wir, mit behäbigen Blick auf unsere momentanen Bedürfnisse zugunsten eines Relativismus und der Scheinwahrheit, die uns Russland seit 2014 aufoktroyiert, verschlafen. Am 17. März vor achtzig Jahren begann die Vernichtung der europäischen Juden im Generalgouvernement. Wenn Zelens’kyj Bundeskanzler Scholz jetzt auffordert, eine Führungsrolle in der Anti-Russland-Koalition zu übernehmen, dann ist das eine kluge Einladung an Deutschland, sich mit konkreten Taten ein Stück weit von der deutschen Besatzungsgeschichte in Osteuropa zu befreien.

Frank Grelka (1971), Dr., Osteuropahistoriker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien der Europa-Universität-Viadrina