Zu Lande, zu Wasser und in der Luft

Stellungskämpfe, Drohnenkrieg und Rüstungswettlauf: die 56. Kriegswoche (16.-23.3.2023)

Nikolay Mitrokhin, 30.3.2023

Grabenkampf

Die Front im Osten der Ukraine steht weiter nahezu still. Die ukrainische Armee hat sich südlich von Bachmut etwas zurückgezogen, um einer drohenden Einkesselung durch die angreifenden Wagner-Truppen zuvorzukommen. Außerhalb von Bachmut stehen sich die Truppen seitdem bewegungslos gegenüber, in der weitgehend zerstörten Stadt rücken die russländischen Angreifer im Häuserkampf im Nordosten und im Zentrum weiter langsam vor.

In Avdijivka westlich von Donec’k überschritten die russländischen Truppen den Bahndamm, über den die Ukraine ihre Truppen in der Stadt versorgte, wurden dann aber wieder zurückgeworfen. Wie Bachmut ist Avdijivka von drei Seiten eingekreist, allerdings liegen dort die Zufahrtswege von Westen noch nicht unter ständigem Beschuss.

Zwischen Kreminna und Svatove sind die russländischen Truppen weitere 300–400 Meter vorgerückt und haben den Rand der Siedlung Makijivka am Fluss Žerebec’ erreicht. Südöstlich von Zaporižžja sind die ukrainischen Truppen am 22. März in die Siedlung Novodanylivka im Kreis Orichiv eingerückt, wurden aber offenbar einen Tag später zurückgeschlagen.

Drohnenkrieg

Trotz des anhaltenden Stellungskriegs mit kontinuierlichen Artilleriegefechten und Raketenbeschuss an der Front konzentriert sich die politische Aufmerksamkeit gegenwärtig auf die Beschaffung von Drohnen und die Angriffe mit ferngesteuerten Fluggeräten. Der ukrainische Präsident sprach davon, dass die Ukraine im Jahr 2023 mehr als eine halbe Milliarde Dollar für den Ankauf von Drohnen ausgeben werde. Einfache Modelle von Kampfdrohnen mit großer Reichweite kosten ca. 30 000 Dollar das Stück, einfache kampftaugliche Quadrocopter sind deutlich billiger, Hochgeschwindigkeitsmodelle mit großer Nutzlast für die Bombenfracht deutlich teurer. Überschlägig kann man bei der von Zelens‘kyj genannten Summe von rund 20 000 Drohnen ausgehen, was 75 Angriffe pro Tag ermöglichen würde – ein Vielfaches der gegenwärtigen Attacken.

Bereits jetzt laufen ohne Unterlass Meldungen über Drohnenangriffe, Gegenattacken, Einschläge russländischer Raketen an Orten, von denen zuvor Drohnen gestartet worden waren, sowie der Abschuss dieser Raketen durch die ukrainische Luftabwehr über den Nachrichtenticker. Der Schaden, den eine einzelne Drohne anrichten kann, ist nicht allzu groß, doch da sie vergleichsweise günstig sind, können sie in großer Zahl eingesetzt werden. Unabhängig vom jeweiligen militärischen Nutzen, dienen sie beiden Seiten auch dazu, der Bevölkerung des Gegners Angst einzujagen und vor allem auch dazu, in Zeiten des Stillstands an der Front oder der schlechten Nachrichten von dort, mit „Erfolgsmeldungen“ die Agenda zu bestimmen.

In der dritten Märzwoche tauchten mindestens drei Mal ukrainische Seedrohnen vor dem Militärhafen von Sevastopol‘ auf. Nach russländischen Angaben wurden sie alle in der Hafeneinfahrt abgefangen, doch die Sicherheitsmaßnahmen wurden verstärkt, die Sorgen der Armee und der Bevölkerung haben zugenommen.

Ein ukrainischer Drohnenangriff auf den Eisenbahnknotenpunkt Džankoj auf der Krim hatte hingegen einen gewissen Erfolg. Wurden in den vergangenen Wochen ein hoher Anteil der ukrainischen Drohnen von der russländischen Luftabwehr abgefangen, erreichten in Džankoj vier von sechs Apparaten ihr Ziel. Der gebündelte Angriff ermöglichte es, dass Abfangsystem Pancyr‘ zu überwinden, das lediglich über zwei Raketen zum Abschuss angreifender Objekte verfügt. Nach ukrainischen Angaben wurden Waren- und Treibstofflager getroffen, ein Depot für Lokomotiven und sogar für die Front bestimmte Kalibr-Raketen. Der Einschlag in Gebäuden wird in russländischen Quellen bestätigt, die Zerstörung von Raketen hingegen zurückgewiesen. Kurze Zeit später erfolgte ein russländischer Gegenangriff auf den Flugplatz Škol’nyj bei Odessa, wo ukrainische Kamikaze-Drohnen vom Typ Mugin-5 und Fernaufklärungsdrohnen vom Typ Tupolev M-141 (Striž) stationiert sind und von wo der Angriff auf Džankoj ausging. Des Weiteren griff Russland mehrere Ziele im Osten der Ukraine mit Shahed-Drohnen an, mit denen die ukrainische Luftabwehr immer größere Probleme hat. Bei einem Angriff auf Kryvyj Rih gelang es dieser, lediglich eins der fünf anfliegenden Objekte abzuschießen.

Fest steht, dass neben dem Abschuss von Drohen eine andere Methode zu deren Abwehr immer wichtiger wird: die Störung des Funksignals, mit dem diese gelenkt werden. Die hohe Anzahl ukrainischer Drohnen, die in Russland in den vergangenen Wochen auf freiem Feld niedergegangen oder sich in Bäumen verfangen haben, spricht dafür, dass die russländische Armee hier große Fortschritte gemacht hat. Offenbar hat Israel Mitte März die Lizenz für den Export der entsprechenden Technologie in die Ukraine erteilt.[1] Deutschland hat zugesagt, die Zahl der entsprechenden Abfangsysteme für die Ukraine von 60 auf 90 zu erhöhen.[2]

Russland kauft seinerseits Drohnen in China. Seit Kriegsbeginn sollen Flugapparate im Wert von zwölf Millionen US-Dollar geliefert worden sein.[3] Doch dies ist nur ein Teil des Problems. Russland stellt verschiedene Drohnentypen selbst her und plant, die Produktion stark auszuweiten. Ein Vertreter des Industrie- und Handelsministeriums erklärte kürzlich, Russland benötige bis zum Jahr 2030 eine Million Fachkräfte für die Herstellung und Bedienung von Drohnen. Gegenwärtig seien erst 100 000 Menschen damit befasst.[4]

Hinzu kommt, dass Russland jüngst erstmals seit Beginn des Kriegs präzisionsgelenkte Bomben mit erweiterter Reichweite (Joint Direct Attack Munition – Extended Range, JDAM-ER) eingesetzt hat. Russlands Armee griff mit solchen Bomben Verwaltungsgebäude in der Siedlung Bilopol’ja im nordukrainischen Gebiet Sumy unweit der Grenze zu Russland an, in denen angeblich ukrainische Grenzschutztruppen untergebracht gewesen seien. Das zuerst in den USA entwickelte Lenksystem ermöglicht es, die in Syrien oder bei der Bombardierung des Azov-Stahlwerks in Mariupol‘ eingesetzten 500-Kilogramm-Fliegerbomben in großer Höhe abzuwerfen, um sie anschließend mit Hilfe eines Signals des russländischen GPS-Systems Glonass über mehrere Dutzend Kilometer mit großer Genauigkeit in ein Ziel zu steuern. Da Russland zu Beginn des Kriegs anders als geplant die Kontrolle über den ukrainischen Luftraum nicht übernehmen konnte, weil es nicht gelang, die ukrainische Luftabwehr auszuschalten, steht der Luftwaffe heute noch eine große Zahl dieser schweren Bomben zur Verfügung. Dies bereitet den ukrainischen Streitkräften große Sorgen, denn nachdem die teuren Raketen knapp geworden sind, kann Russland mit dem JDAM-ER-System nun aus großer Entfernung schwere Bomben in Gebäude und Anlagen auch weit hinter der Front lenken.

Panzerprobleme

Bessere Nachrichten scheint es für die Ukraine bei der Materialschlacht am Boden zu geben. Zahlreiche Videoaufnahmen dokumentieren, dass Russland Panzer vom Typ T-54 aus dem Fernen Osten in den Westen des Landes verlegt. Diese Panzer wurden in den 1950er Jahren gebaut und in den 1980er Jahren im Militärbezirk Fernost aus dem Dienst genommen. In Hangars in Arsen’ev 200 Kilometer nördlich von Vladivostok wurden Hunderte dieser Panzer gelagert, bevor sie jetzt nach Westen transportiert wurden.

Diese Fahrzeuge verfügen zwar über keine Reaktivpanzerung und können daher nicht nur mit modernen Panzerabwehrwaffen leicht zerstört werden, sondern auch mit traditionellen Granatwerfern. Gleichwohl sind sie nicht vollständig wertlos. Sie können zumindest an den Verteidigungslinien im Gebiet Kursk und Brjansk zur Deckung eingesetzt werden, aber auch an der Front in der Ukraine Einheiten zur Verfügung gestellt werden, die überwiegend aus Männern bestehen, die während der letzten beiden Einberufungswellen in die Armee eingezogen wurden.

Selbstverständlich ist der Transport dieser Panzer an die Front ein indirektes Eingeständnis, wie es um die Versorgungslage bestellt ist. Putin kündigte zwar an, dass Russland den 400 Panzern, die der Westen der Ukraine zur Verfügung stellen will, 1600 entgegenstellen werde. Zunächst einmal erhalten die Soldaten aber rostiges Gerät, das ihre Großväter bedienten. Obendrein hat Dmitrij Medvedev erneut Kopfschütteln auf sich gezogen. In seiner neuen Funktion als Beauftragter für den Militärisch-Industriellen-Komplex drohte er in einem Stalin-Cosplay den Direktoren der russländischen Rüstungsfabriken, indem er ihnen den Wortlaut eine Telegramms vorlas, das der sowjetische Diktator seinerzeit an die Chefs der sowjetischen Waffenschmieden gerichtet hatte: „Ich bitte Sie aufrichtig, die Aufträge zur Lieferung von Panzern zu erfüllen. Verstoßen Sie aber gegen Ihre Pflicht gegenüber der Heimat, werde ich Sie wie Verbrecher zermalmen.“

Ähnliche Drohungen hatte Medvedev bereits in den zwei Monate zuvor ausgestoßen – ohne sichtbaren Erfolg. Die Ukraine hingegen erhält modernes westliches Gerät. Kiew nimmt angesichts der zu erwartenden schweren und langanhaltenden Schlachten auch solches Gerät an, das nicht dem neuesten Stand der Waffentechnik entspricht, aber rascher zu liefern ist als moderne Waffen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Israel approves export licenses for anti-drone systems for Ukraine. Axios.com, 15.3.2023.

[2] Military support for Ukraine, <www.bundesregierung.de/breg-en/news/military-support-ukraine-2054992>.

[3] As War in Ukraine Grinds On, China Helps Refill Russian Drone Supplies. New York Times, 21.3.2023.

[4] Rossii nužen 1 mln razrabotčikov i operatorov dron. Vedomosti, 17.3.2023.