In Russlands Haft

Politische Häftlinge und weitere ukrainische Staatsbürger der Ukraine im Visier der russländischen Justiz

Am 14. Mai 2018 trat Oleg Sentsov in einen unbefristeten Hungerstreik. Der 1976 in Simferopol’ geborene Filmregisseur war im August 2015 vom Militärgericht des Föderalkreises Nordkaukasus zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und befindet sich seit September 2017 in einer Haftanstalt in Labytnangi im Hohen Norden Russlands. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial betrachtet Sentsov als politischen Gefangenen. Als Sentsov seinen Hungerstreik begann, forderte er die Freilassung aller Ukrainer, die in Russland aus politischen Gründen inhaftiert sind. Die Menschenrechtsinitiative OVD-Info hat, gestützt nicht zuletzt auf Informationen, die das Menschenrechtszentrum von Memorial zusammengetragen hat, eine Liste jener Menschen erstellt.

Alle 88 Personen auf der Liste waren bis zum 16. März 2014 unzweifelhaft Staatsbürger der Ukraine. Einige sind es bis heute und wurden in Russland auf der Grundlage einer Bestimmung des Strafgesetzbuches verurteilt oder in Haft genommen, die eine Strafverfolgung eines ausländischen Staatsbürgers vorsieht, wenn dieser eine Straftat gegen einen russländischen Staatsbürger begangen hat. Der überwiegende Anteil dieser 88 Menschen stammt von der Krim. Viele sind durch die Annexion der Halbinsel Staatsbürger Russlands geworden, manche haben weiter die ukrainische Staatsbürgerschaft, in mindestens einem Fall ist die Staatsbürgerschaft umstritten.

Der Anwalt von Oleg Sentsov sprach von 64 politischen Gefangenen aus der Ukraine. Diese Zahl hatte bereits im Februar 2018 das ukrainische Justizministerium genannt. Menschenrechtsorganisationen erstellten Listen, auf denen eine Reihe weiterer Personen genannt sind. Das 88 Personen umfassende Verzeichnis von OVD-Info enthält die Namen von weiteren 15 ukrainischen Staatsbürgern, die in Russland verurteilt wurden, in Untersuchungshaft sitzen oder unter Hausarrest bzw. Ausreiseverbot stehen und in keiner der gängigen Listen aufgeführt wurden.

13 der 88 auf der Liste aufgeführten Personen betrachtet Memorial als politische Gefangene, drei wurden aus politischen Gründen verfolgt, sind aber mittlerweile in Freiheit. Bei sieben Menschen geht Memorial davon aus, dass sie aus religiösen Gründen verfolgt werden. In 24 Fällen sieht Memorial klare Hinweise darauf, dass es politische Motive für die Strafverfolgung gibt und dass der Prozess unter groben Verstößen gegen das herrschende Recht verlief oder verläuft, hat die Personen jedoch noch nicht als politische Gefangene anerkannt.[1] 41 Personen führt Memorial nicht, OVD-Info hat sie jedoch in die Liste aufgenommen, da die verbreitete Anwendung von Folter, zweifelhafte Anklagepunkte, zahlreiche Verstöße gegen die Strafprozessordnung, nachweislich fingierte Prozesse und die in den Staatsmedien ständig verbreiteten Nachrichten über angebliche Terroranschläge und Sabotageakte von Ukrainern es sehr wahrscheinlich machen, dass in dem Prozess gegen sie politische Motive eine wichtige Rolle spielen. Die Liste zeugt nicht zuletzt von den politischen Repressionen gegen die Krimtataren, die am stärksten unter der Annexion der Krim zu leiden hatten. 50 der 88 Personen sind Krimtataren, die meisten hatten sich politisch oder religiös-kulturell engagiert. Sie werden beschuldigt, einer extremistischen Organisation angehört zu haben.

Osteuropa dokumentiert die von OVD-Info zusammengestellten Informationen: Wer sind diese 88 Menschen, wann und unter welchen Umständen wurden sie verhaftet, was wird ihnen vorgeworfen, welche Strafen drohen ihnen oder zu wieviel Jahren Strafkolonie wurden sie verurteilt? Wie sind die Haftbedingungen, wer wurde misshandelt oder gefoltert, wie ist ihr Gesundheitszustand?

Dokumentation „In Russlands Haft“

Übersetzung und Redaktion der deutschen Fassung: Felix Eick, Lara Rindt und Volker Weichsel


[1] Memorial geht derzeit von insgesamt 47 politischen Gefangenen in Russland aus, weitere 38 wurden nach der Auffassung von Memorial aus politischen Gründen verfolgt, sind aber derzeit nicht in Haft. Bei 108 Personen sieht die Organisation es für gegeben an, dass religiöse Motive bei der Strafverfolgung eine Rolle spielten, in 80 Fällen spricht sie von wahrscheinlichen Opfern politischer Verfolgung. <https://memohrc.org/ru/content/spiski-presleduemyh>. OVD-Info geht davon aus, dass gegenwärtig in Russland 51 Menschen eine Haftstrafe absitzen, bei deren Verurteilung politische Motive eine große Rolle spielten, 240 sind aus diesen Gründen in Untersuchungshaft, 13 unter Hausarrest und 20 mit einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit belegt. <http://politpressing.org>.