Die Zeit arbeitet für die Ukraine

Nikolay Mitrokhin

Die militärische Lage in der Ukraine am 23. März 2022

Aus dem Bewegungskrieg in den ersten Tag nach Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein Stellungskrieg geworden. Seit zwei Wochen hat es an den verschiedenen Fronten keine wesentlichen Veränderungen mehr gegeben. Russlands Armee hat sich in ihren Stellungen verschanzt. Nur im Donbas durchbricht sie unter gewaltigen Verlusten die seit acht Jahren bestehenden befestigten Verteidigungslinien der ukrainischen Armee und kommt mit einer Geschwindigkeit von einem Dorf pro Tag voran. Moskau geht dabei mit den Kämpfern der Milizen der beiden „Volksrepubliken“ weitaus weniger zimperlich um als mit den eigenen Staatsbürgern; insbesondere die Tschetschenen werden geschont.

Im Raum Kiew hat die ukrainische Armee heute eine Reihe von Erfolgen vermeldet. Die Truppen des Gegners seien im Osten der Stadt zurückgedrängt worden und stünden nun 50 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Im Nordwesten haben ukrainische Truppen zwei russländische Verbände von drei Seiten eingeschlossen. Die städtische Agglomeration von Irpin, Buča und Hostomel‘ befindet sich zu nicht unerheblichen Teilen unter ukrainischer Kontrolle. So nahm in Irpin am 22. März die örtliche Polizeistation ihre Arbeit wieder auf. Vereinzelte Berichte deuten darauf hin, dass Teile des russländischen Verbands, der sich im Raum nördlich der Fernstraße Kiew-Žytomyr befindet, abgeschnitten sind – ab Makariv in Richtung Osten sowie weiter östlich die Truppen zwischen Irpin, Buča und Hostomel‘. Zahlreiche vom ukrainischen Geheimdienst abgehörte Funksprüche, deren Absender nicht genau lokalisiert werden können, lassen darauf schließen, dass sich die Soldaten von ihren Kommandeuren im Stich gelassen fühlen. Sie erhalten keinen Lebensmittelnachschub, haben seit einem Monat keine sanitäre Einrichtung mehr gesehen haben und schlafen in den Schützengräben.

Die Lage in Černihiv ist sehr ernst. Obwohl ukrainischen Quellen zufolge ein weiterer Versuch zur Einnahme der Stadt abgewehrt wurde und sogar Abgeordnete des ukrainischen Parlaments von Kiew nach Černihiv gefahren sind, befinden sich die Verteidiger dort in einer schwierigen Situation. Die Stadt ist stark zerstört und entvölkert. Ähnlich verhält es sich mit Izjum im Osten des Landes. Dort wehrt die ukrainische Armee immer neue Angriffswellen ab, doch sie wird die Stadt möglicherweise ebenfalls aufgeben müssen.

Charkiv und Mariupol‘ halten sich. In Mariupol‘ wurde ein weiterer hochrangiger Offizier der russländischen Truppen getötet – der Kommandeur einer Marineinfanteriebrigade. Es ist der dritte hohe Armeeführer, der dort in den vergangenen vier Wochen sein Leben gelassen hat.

Der Vormarsch der russländischen Armee in Richtung Zaporižžja ist aufgrund des Widerstands in Mariupol‘ ins Stocken geraten. Einige Trupps haben versucht, in Richtung Krivoj Rih vorzustoßen, wurden aber von der ukrainischen Armee rasch abgeschnitten. Offensichtlich haben die russländischen Truppen die Grenze des Gebiets Dnipropetrovs‘k nicht überschritten. Zwischen dem besetzten Cherson und Mykolaïv gehen die Kämpfe weiter, die genaue Lage ist nicht zu beurteilen. Die ukrainischen Truppen beschießen täglich mit Artillerie einen Flugplatz am westlichen Stadtrand von Cherson bei Čornobaïvka, wo sich weiter das Kommando der russländischen Truppen im südlichen Abschnitt befindet und Hubschrauber von der Krim kommend neue Soldaten und Ausrüstung absetzen. In den ukrainischen Medien ist „Čornobaïvka“ zum omnipräsenten Schlagwort geworden. Es steht für die Zerstörung des letzten Luftlandestützpunkts der russländischen Truppen. Allerdings kursieren seit dem zweiten, äußerst erfolgreichen Angriff am 7. März, als die ukrainische Armee um die 30 russländische Hubschrauber zerstörte, nur noch schwer überprüfbare Informationen über mehrere weitere Attacken.

Die belarussische Armee bindet weiter ukrainische Reserven im Westen, indem sie einsatzbereite Truppen im unmittelbaren Grenzgebiet stationiert hält und mal weitere Truppen zuführt, dann diese wieder zurückzieht.

Gleichwohl arbeitet die Zeit ganz offensichtlich für die Ukraine. Sie hat weitere Kräfte zur Einsatzbereitschaft gebracht und neue Waffen aus dem Westen erhalten. Mit nur wenigen Brigaden kann es ihr gelingen, den gesamten russländischen Verband im Nordwesten von Kiew einzukesseln und einen ersten psychologisch wichtigen großen Sieg zu erringen. Mindestens zwei weitere russländische Verbände – einer bei Boryspil‘, der andere am rechten Ufer des Dnepr zwischen Kachivka und der Grenze des Gebiets Dnipropetrovs‘k – befinden sich in einer ähnlich schwierigen Lage und könnten von ukrainischen Kräften in relativ geringer Stärke vollständig eingekesselt werden.

Russland versucht, eine „zweite Garde“ in die Ukraine zu schicken. Doch es kann gut sein, dass es Moskau allenfalls gelingen wird, „die Löcher zu stopfen“, die durch die erheblichen Verluste bei den erschöpften Truppen entstanden sind. Truppen, die selbst dort, wo ihnen keine Einkreisung droht, vor der schwierigen Aufgabe stehen, ein gemessen an ihrer Größe äußerst großes Gebiet zu halten.

Der Krieg könnte in zwei Wochen vorüber sein, wenn der Kreml einsehen würde, in welcher Lage seine Truppen sich befinden. Er kann auch noch sechs Monate oder ein Jahr andauern, wenn die ukrainische Armee Russlands Truppen Stück für Stück aus den besetzten Gebieten vertreiben muss.

Militärisch ist jedoch die Vorentscheidung gefallen. Die Ukraine hat der Aggression widerstanden, sie führt einen gerechten Krieg auf ihrem eigenen Territorium, die Regierung und der Präsident sind in Kiew geblieben und genießen die volle Unterstützung der Bevölkerung. Die ukrainische Armee und andere sie unterstützende Verbände haben an Kampferfahrung gewonnen und erhalten massive materielle Unterstützung aus dem Westen. Sie haben eine reale Chance, diesen Krieg zu gewinnen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.