Einkreisung verhindert

Nikolay Mitrokhin

Die militärische Lage in der Ukraine am Ende der elften Kriegswoche

11.5.2022
In der elften Woche des Kriegs Russlands gegen die Ukraine haben sich die Stellungskämpfe im Osten des Landes auf sieben Schauplätze konzentriert. Dies die Bilanz – von Nord nach Süd:

Im Raum nordöstlich von Charkiv bis zur russländischen Grenze hat die ukrainische Armee weitere Siedlungen befreit und die russländischen Truppen auf eine Entfernung von 30–50 Kilometer von der Stadt zurückgedrängt. Die dort verbliebenen Truppen der „Volksrepublik Lugansk“, der russländischen Nationalgarde (Rosgvardija) und der regulären Armee leisten nur schwachen Widerstand. Einige Einheiten sind abgezogen worden, die Nachhut hat sich im Kampf Schritt für Schritt zurückgezogen. Die Erfolge der ukrainischen Armee in diesem Bereich haben zwar keine große strategische Relevanz, sind aber wegen der sichtbaren Geländegewinne von großer symbolischer Bedeutung.

Weiter südlich an der Grenze zwischen den Gebieten Charkiv und Donec’k ist der Vormarsch der russländischen Armee im Raum zwischen Izjum und Slovjans’k nach sehr wirkungsvollen Angriffen der ukrainischen Artillerie auf Munitionsdepots und Sammelpunkte von Fahrzeugen und Geschützen zum Stillstand gekommen. Dies ist ein wichtiger Erfolg für die ukrainische Armee. Russlands Plan, die Verbände der ukrainischen Streitkräfte im Donbass von den Flanken her einzuschließen, ist damit gescheitert. Selbst dem großen Truppenverband bei Izjum ist es nicht gelungen, die 30 Kilometer südlich davon gelegene Kleinstadt Barvenkovo einzunehmen und auf diese Weise Slovjans’k von Westen her durch Unterbrechung der Straßen- und Bahnverbindung nach Dnipro vom Hinterland abzuschneiden. Bei diesen Kämpfen wurden zwei zum Kloster von Svjatohirs’k gehörende Kirchen vollständig zerstört, die auf strategischen Anhöhen über dem Tal des Sivers’kyj Donec‘ stehen und unter Beschuss der auf ukrainische Stellungen zielenden russländischen Artillerie gerieten.

Der am stärksten umkämpfte Abschnitt der gesamten Front im Donbass befindet sich in der Nähe des Dorfes Bilohorivka in der Nähe der 60 000-Einwohner-Stadt Rubižne, die fast vollständig von der russländischen Armee erobert wurde. Dort schlug eine von den russländischen Truppen abgefeuerte Granate in ein Schulgebäude ein und tötete 60 Zivilisten. Militärisch ist der Ort relevant, weil er am Ufer des Sivers’kyj Donec‘ liegt. Russlands Armee hatte dort Pontonbrücken errichtet, um von Westen her die Städte Severodonec‘k und Lysyčans’k anzugreifen, die die Ostflanke der ukrainischen Verbände sichern. Einigen russländischen Einheiten war es gelungen, an dieser Stelle den Fluss zu überqueren. Doch die ukrainische Armee fuhr Artillerie auf, zerstörte mehrere Übergänge und rieb nahezu eine gesamte taktische Bataillonsgruppe samt ihrer Panzer und gepanzerten Fahrzeuge auf. Die 74. Motorisierte Schützenbrigade der russländischen Armee, die in Friedenszeiten in Jurga im Gebiet Kemerovo stationiert ist, verlor mindestens 50 Fahrzeuge. Nach der Zerstörung aller Pontonbrücken gaben die übergesetzten Einheiten ihre Panzer und Transporter auf und versuchten schwimmend, das andere Ufer des Sivers’kyj Donec‘ zu erreichen. Dies ist der größte Erfolg der ukrainischen Armee seit den Angriffen auf die Militärkolonnen nördlich von Kiew und im Gebiet Černihiv.

Südlich von Lysyčans’k und Severodonec‘k setzen die russländischen Truppen weiter auf eine Einkreisung der ukrainischen Verbände, nachdem sie die Ruinen der Stadt Popasna eingenommen haben. Die ukrainischen Streitkräfte haben sich allerdings nun weiter westlich und nördlich erneut verschanzt. Um Lysyčans’k und Severodonec’k von Süden her einzuschließen, müssten die Truppen der Lugansker Volksmiliz diese neue Verteidigungslinie durchbrechen, was sich nicht abzeichnet.

Im Gebiet Zaporižžja ist der in den ukrainischen Medien angekündigte Angriff auf russländische Stellungen südlich von Huljajpole ausgeblieben. Dort steht seit fast zwei Monaten ein großer Verband der russländischen Armee, auf welche Gelegenheit die Ukraine hier gehofft hatte, ist unklar.

In Mariupol‘ gehen die Kämpfe um das Stahlwerk Azovstal‘ weiter. Russland hat allerdings bereits einige Verbände abgezogen. Von zwölf Bataillonsgruppen sind nur noch zwei für die Bewachung des umstellten Werks und den möglichen Sturm auf die Verstecke der dort verbliebenen ukrainischen Soldaten geblieben. Diese Truppen beschießen das Stahlwerk nun auch von einer Abraumhalde im Hafen von Mariupol‘ aus und haben offenbar jede Möglichkeit unterbunden, Munition, Lebensmittel und Medikamente aus der Luft über dem Werk abzuwerfen. In den Kellern des Stahlwerks befinden sich nach Angaben des Azov-Bataillons, das sich dort verschanzt hat, über 600 verwundete Soldaten, die nicht mehr medizinisch versorgt werden können. Der Lagebericht lautet, dass es keinen Befehl gegeben habe, sich zu ergeben. Offenbar wären die letzten Kämpfer des Azov-Bataillons aber dazu bereit. Die ukrainische Hoffnung, dass die Soldaten des Bataillons evakuiert und bis zum Ende des Kriegs von einem nicht am Krieg beteiligten Staat interniert werden könnten, haben wenig Chancen auf Erfüllung. Russland ist nicht humanitär gesonnen.

Unklar ist die Lage rund um die Schlangeninsel. Die ukrainische Seite hat überzeugende Beweise vorgelegt, dass sie die russländischen Truppen auf der Insel vernichtet hat. Russland behauptet allerdings, dass es der ukrainischen Armee dabei schwere Verluste zugefügt habe. Dazu schweigt Kiew. Der häufige Raketenbeschuss von Odessa ist ein Hinweis darauf, dass die Insel weiter umkämpft ist.

Die Lage abseits der Front

Die Waffenlieferungen aus den Vereinigten Staaten und anderen NATO-Staaten an die Ukraine erscheinen zwar gemessen an deren Wert sehr umfangreich. Allerdings gleichen sie die Verluste der ukrainischen Armee bei Geschützen und Panzern nur schleppend aus, bei einigen Waffengattungen gar nicht. Die NATO-Staaten haben zudem ihre Rüstungsproduktion nicht oder noch nicht in dem Maße erhöht, wie es ein Ausgleich der ukrainischen Verluste erfordern würde. So haben die USA zwar angekündigt, die Zahl der pro Jahr hergestellten Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin von 2000 auf 4000 zu erhöhen. Die ukrainischen Streitkräfte verschießen oder verlieren jedoch derzeit etwa siebenhundert bis tausend dieser Raketen pro Monat. Zudem erhält die Ukraine so viele verschiedene Waffen der gleichen Gattung aus unterschiedlicher Produktion – etwa ein Dutzend verschiedener Modelle von Panzerabwehrraketen –, dass dies unweigerlich zu ernsthaften Schwierigkeiten bei der Vorbereitung auf den Umgang mit diesen Waffen führen wird. All dies bedeutet, dass – anders als es Russland offiziell behauptet – die NATO noch nicht durch intensivere Rüstungsproduktion in den Krieg eingetreten ist und den Krieg in der Ukraine weiter als Konflikt mittleren Ausmaßes betrachtet.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Plünderung der Landwirtschaft in den besetzten Gebieten. Die Armee, der Geheimdienst und andere russländische Behörden beschlagnahmen in großem Stil Agrarprodukte, bringen sie zu den Häfen auf der Krim oder in Russland, und versuchen sie an Mittelmeeranrainerstaaten zu verkaufen. Es bleibt unerklärlich, warum in diesem so eindeutigen Fall kein Staat und keine internationale Organisation die Frachtschiffe mit gestohlenem Getreide stoppt. Geraubt werden übrigens auch landwirtschaftliche Maschinen, häufig modernes westliches Gerät, das anschließend nicht zuletzt in Tschetschenien wieder auftaucht. So wie Russland bereits in den Jahren 2014–2016 die besetzten Gebiete im Donbass ausgeplündert hatte, wiederholt sich dies nun im großen Maßstab in den neu eroberten Gebieten.

Fragen der Zukunft

Die Ukraine hat das Ziel, nicht nur die nach dem 24.2.2022 von Russland eroberten Landstriche zurückzugewinnen, sondern auch jene Gebiete, die seit 2014 besetzt sind. Allerdings wurde dort – in vielen Fällen unter Anwendung von Gewalt – nahezu die gesamte männliche Bevölkerung in die Reihen der "Volksmilizen" der beiden „Republiken“ getrieben. Anders als erwartet, sind diese "Volksmilizen" in den vergangenen Kriegswochen nicht wegen mangelnder Kampfmoral und schlechter Ausbildung zu einer Belastung für die russländische Armee geworden. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass es sich um kampffähige Verbände handelt, denen es – mit Unterstützung der russländischen Luftwaffe – gelungen ist, fast den gesamten nach 2014 unter ukrainischer Kontrolle verbliebenen Teil des Gebiets Luhans‘k und die südliche Hälfte des Gebiets Donec‘k einzunehmen. Einzelne Gruppierungen kämpfen an verschiedenen Abschnitten der gesamten Front. Es ist nicht zu erkennen, dass es größere Absatzbewegungen gibt. Berichte über Überläufer gab es nur dort, wo ein solcher Verband komplett eingekreist wurde. Von einem begeisterten Wechsel auf die ukrainische Seite war jedoch nichts zu sehen. Mit anderen Worten: Diese Menschen sind zwar ukrainische Staatsbürger, aber sie kämpfen mit Nachdruck gegen die Ukraine. Dies werden sie erst recht tun, wenn es der ukrainischen Armee gelingen sollte, zur Befreiung der seit 2014 besetzten Gebiete überzugehen. Darüber, wie die Ukraine diese Menschen für sich gewinnen könnte, scheint in Kiew niemand nachzudenken.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.