Kriegsschauplatz Donbass

Nikolay Mitrokhin

Der militärische Lage in der Ukraine am 9. April 2022

Die Kämpfe konzentrieren sich mittlerweile vollständig auf den Donbass. Die russländische Armee hat den Plan aufgegeben, die ukrainischen Stellungen von Norden kommend zu umgehen. Allerdings ist Russlands Truppenkontingent für diese zweiten Phase des Krieges noch nicht in Stellung gebracht. Die ukrainische Armee kann sich gegenwärtig die größten Erfolge am rechten Ufer des Dnepr versprechen, allerdings fehlen ihr bislang die Kräfte, um das Blatt dort rasch zu wenden.

Die vergangenen Tage waren von der Sorge beherrscht, der russländischen Armee könne es gelingen, die ukrainischen Verbände im Donbass einzukesseln. Sie hat sich als unbegründet erwiesen. Eine Schlacht im Nordosten des Landes hat Klarheit in die Lage gebracht: eine nach Süden ziehende Kolonne der russländischen Armee wurde zerschlagen, die Truppen mussten sich von Braživka, das sie offenbar zuvor eingenommen hatten, nach Norden zurückziehen und stehen jetzt weiter irgendwo „südlich von Izjum“.

Auch der Vormarsch auf Charkiv ist gescheitert, obwohl die Stadt und sogar das nordwestlich davon gelegene und erst kürzlich von der ukrainischen Armee befreite Derhači unter permanentem Beschuss liegen. Ziel ist offenbar, den bei Charkiv stationierten Verband der ukrainischen Streitkräfte zu binden und davon abzuhalten, mit einem Vorstoß nach Süden die Städte Balaklija und Izjum zu befreien.

Die wichtigsten Kämpfe – abgesehen von jenen um Mariupol‘, wo die ukrainische Armee sich weiter hält und an manchen Stellen sogar zum Gegenangriff übergeht – finden seit drei Wochen um die Städte Lysyčans’k, Rubižne und Popasna im äußersten Westen des Gebiets Luhans’k statt. Sie versperren der russländischen Armee den Zugang zum nördlichen Teil des Gebiets Donec’k, der weiter unter Kontrolle der ukrainischen Armee steht, und bilden die nordöstliche Flanke der Donbass-Front der ukrainischen Streitkräfte.

Von großer Bedeutung für den Fortgang der Kriegs ist, dass die russländische Armee offenbar die Risiken einer Umgehung von Slovjans’k und Kramators‘k über Barvenkovo neu bewertet hat. Sie wird in dieser zweiten Phase des Kriegs, für die sie jetzt frische Kräfte sammelt, so dass der Angriff frühestens am 13. April beginnen dürfte, nun wohl eher versuchen, die Tür einzurammen, also die von der ukrainischen Armee befestigten Städte an der Donbass-Front (Mar’inka, Avdiïvka und die oben genannten) mit Artilleriebeschuss dem Erdboden gleichzumachen, um anschließend über die verminten Felder nach Süden zu ziehen, dann die nächste Ansammlung von Städten zu zerstören, um dann vor Slovjans’k und Kramators’k zu stehen, die ebenfalls im Sturm genommen werden sollen.

Ein Plan, der viel Zeit in Anspruch nehmen und unweigerlich zu großen Verlusten bei den Angreifern führen wird, der aber technisch gesehen realistischer ist als die aufgegebene Umgehungstaktik. Denn auf diesem Weg gibt es ein Straßennetz, das es ermöglicht, neue Munition aus den unerschöpflichen Lagern der russländischen Armee heranzubringen. Realistischer zumindest so lange, bis die ukrainische Armee Mittel findet, um die in Stellung gebrachten Geschütze auf dem Weg oder an den Stadtgrenzen zu vernichten. Oder bis Russland die Soldaten ausgehen, weil niemand mehr bereit ist, für „das Volk des Donbass“ oder was auch immer an die Front zu fahren.

Zwei gute Nachrichten gibt es: Zum einen ist Russlands Armee vollständig aus dem Gebiet Sumy abgezogen. Es war nicht unwahrscheinlich, dass sie sich dort festsetzt, denn das Gebiet hätte einen guten Ausgangspunkt für neue Angriffe in alle möglichen Richtungen geboten, sei es auf Kiew, sei es auf Kremenčuk, sei es auf Charkiv. Nur sind die Straßen in dieser Gegend leider eng und in den Wäldern lauert die ukrainische Brigade „Cholodnyj Jar“ (Kalte Schlucht) mit Javelins und Stugnas auf die durchfahrenden Panzer.[1]

Die zweite gute Nachricht: Boris Johnson war zu einem Überraschungsbesuch in Kiew und hat fest versprochen, dass Großbritannien den Seezielflugkörper Harpoon an die Ukraine liefern wird. Diese Raketen werden es der Ukraine nicht nur erlauben, die Blockade der Häfen im Süden der Ukraine zu brechen, sondern auch Russlands in der Nähe der Krim stationierte Schwarzmeer-Flotte unter Beschuss zu nehmen.

Die besten Aussichten bieten sich den Streitkräften der Ukraine gegenwärtig am rechten Ufer des Dnepr. Dort stehen sie nur noch 10‑15 Kilometer vom Staudamm bei Kachivka entfernt und könnten bald den gesamten Verband der russländischen Armee, der sich von dort aus entlang der Grenze zum Gebiet Cherson steht, von der rückwärtigen Versorgung abschneiden. Bislang hat die ukrainische Armee dazu nicht ausreichend Truppen (obwohl das Ergebnis vielversprechend wäre: eine hastiger Rückzug der russländischen Verbände über den Dnepr, bei dem sie ihr gesamtes militärisches Gerät zurücklassen müssten).

Um das ebenfalls am rechten Ufer des Dnepr gelegene Cherson wird heftig gekämpft, bislang ohne Ergebnis. Die wichtigsten Kämpfe finden an der Grenze zwischen dem Gebiet Mykolaïv und dem Gebiet Cherson statt. Entscheidend für die Versorgung der russländischen Einheiten ist eine Brücke über den Dnepr nahe Cherson. Diese wird gewiss bald Ziel ukrainischer Angriffe werden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Es handelt sich um die 93. Mechanisierte Brigade des ukrainischen Heers, die aus der 93. Motorisierten Schützendivision der Roten Armee hervorgegangen ist, die bei der Befreiung von Charkow von den Truppen der deutschen Wehrmacht im August 1943 eine wichtige Rolle spielte.