„Es geht auch um die Delegitimierung der 3. Republik"
Kai-Olaf Lang, 12.6.2023
Die polnische Regierung hat die gesetzlichen Grundlagen für die Einrichtung einer Sonderkommission geschaffen, die „russische Einflussnahme“ auf die polnische Politik untersuchen wird. Das Exekutivorgan hat weitreichende Vollmachten und kann Politiker von der Übernahme politischer Ämter ausschließen. Im Wahljahr 2023 ist die Kommission ein Instrument, durch das nicht zuletzt Oppositionsführer Donald Tusk in Misskredit gebracht werden kann und das die Polarisierung weiter vorantreibt. Mehrere Hunderttausend Menschen sind in Warschau gegen das Gesetz auf die Straße gegangen. Die USA haben scharfe Kritik geübt, Deutschland hält sich zurück. Die Europäische Kommission hat sofort ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Osteuropa: Herr Lang, die polnische Regierungsmehrheit hat im Eilverfahren per Gesetz eine Sonderkommission mit quasigerichtlichen Vollmachten geschaffen. Ihre Aufgabe ist es, „russische Einflussnahme“ auf die polnische Politik in den Jahren 2007–2022 zu untersuchen. Wer hat dies initiiert?
Kai-Olaf Lang: Im November 2022 kündigten PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und Premier Mateusz Morawiecki an, man beabsichtige, eine Kommission zur Untersuchung der polnischen Energiepolitik seit 2007 einzurichten – also in der Zeit nach der ersten Regierung der PiS. Bereits damals hieß es, dass nicht nur ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet werden soll, sondern ein spezielles Organ gebildet, ähnlich wie die 2017 geschaffene Kommission zur Aufklärung der Reprivatisierung in der Stadt Warschau. Hierfür war denn auch ein spezielles Gesetz erforderlich. Das Ansinnen nahm bald Formen an und die PiS brachte eine entsprechende Gesetzesinitiative ein, die sich nun nicht mehr nur auf Fragen der Energiepolitik bezog.
Das Vorhaben verlief aber zunächst harzig. So stimmte im Januar 2023 eine Abgeordnete des PiS-Partners Solidarisches Polen – mittlerweile umbenannt in Souveränes Polen – im zuständigen Ausschuss gegen das Gesetz, weil sie Vorbehalte bezüglich der Verfassungsmäßigkeit hatte. Der PiS gelang es aber, die unbotmäßige Parlamentarierin und den Widerstand der Opposition zu überwinden. Das Regierungslager ignorierte dabei auch kritische Stimmen aus verfassungsrechtlichen Fachkreisen, von Unternehmensvertretern und sogar aus befreundeten Organisationen – etwa vom Vorsitzenden des PiS-nahen Think Tanks Ordo Iuris – Institut für Rechtskultur, dem Juristen Jerzy Kwaśniewski.
Osteuropa: Welche Kompetenzen hat die Kommission?
Lang: Die Kommission soll aufklären, ob im besagten Zeitraum Personen, die „öffentliche Amtsträger“ (funkcjonariusze) oder Mitglieder des „Führungskaders der höheren Ebene“ waren, unter russischem Einfluss Aktivitäten entwickelten, die den Interessen der Republik Polen schadeten. Kommt sie zum Schluss, dass dem so war, können sogenannte Abhilfemaßnahmen verhängt werden: Betroffene Personen können für zehn Jahre von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen werden, bei denen über Finanzmittel verfügt wird. Also bei einer weiten Auslegung nahezu alle höheren Ämter. Auch kann für zehn Jahre die Ausstellung einer Bescheinigung versagt werden, die Voraussetzung für den Zugang zu nichtöffentlichen Informationen ist, die also für die Ausübung einer Reihe von Ämtern unabdingbar ist. Schließlich kann die Kommission einer entsprechenden Person den Waffenbesitz verbieten.
Zwar kann wohl niemand von einer Kandidatur bei Wahlen ausgeschlossen werden. Aber de facto könnte ein künftiges Verbot ausgesprochen werden, z.B. Regierungschef zu werden, da dieser ja auch über öffentliche Mittelflüsse mitverfügt oder Einsicht in geheime Unterlagen benötigt. Natürlich könnte ein Betroffener zur Wahrnehmung von derlei Amtsgeschäften Bevollmächtigte beauftragen, aber das wäre doch recht abenteuerlich.
Osteuropa: Wie wird die Kommission arbeiten?
Lang: Die Kommission ist kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, sondern ein Organ der staatlichen Verwaltung. Sie hat sowohl Ermittlungskompetenzen als auch die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen. Sie kann Personen vorladen, von denen sie glaubt, sie hätten dem Gemeinwesen aufgrund ihrer Handlungen mit Bezug auf Russland Schaden zugefügt. Ebenso Zeugen oder Sachverständige. Die Kommission kann beantragen, dass die journalistische, anwaltliche oder ärztliche Schweigepflicht aufgehoben wird. Nur das Beichtgeheimnis darf nicht angetastet werden. Gegen Entscheidungen der Kommission kann laut Gesetz nur vor Verwaltungsgerichten vorgegangen werden – diese dürfen nur die Korrektheit des Verfahrens, nicht aber die Inhalte überprüfen. Sollte Berufung eingelegt werden, wird der Vollzug der Sanktionen nicht aufgeschoben. Auch können die Mitglieder der Kommission für ihre Tätigkeit nicht belangt werden.
Osteuropa: Das klingt nach einer weiteren Aushöhlung der Gewaltenteilung …
Lang: Es wird eine mächtige Institution geschaffen, die sich auf umfassende Kompetenzen stützen kann und deren Entscheidungen weitreichende Konsequenzen für die Karrieren von Einzelpersonen haben können. In der Diskussion wird übrigens bislang ein Aspekt kaum betont. Die Kommission kann auch Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung aufheben bzw. diese für ungültig erklären, wenn sie zum Schluss kommt, dass diese unter russischem Einfluss getätigt wurden und dem polnischen Staat geschadet haben. Würde dies genutzt, hätte dies eventuell Folgen z.B. für die Wirtschaft, speziell im Energiesektor.
Osteuropa: Mit welchem Verfahren wird die Kommission besetzt, stehen bereits Mitglieder fest und wann soll sie ihre Arbeit aufnehmen?
Lang: Die Parlamentsfraktionen haben nach Inkrafttreten des Gesetzes vierzehn Tage Zeit, um Kandidaten für die Kommission zu benennen. Ihr werden neun Mitglieder im Range von Staatssekretären angehören. Eine besondere Qualifikation ist nicht erforderlich. Der Sejm würde dann auf seiner Sitzung Mitte Juni die Kommissionsmitglieder berufen. Nach spätestens weiteren vierzehn Tagen wählt der Premierminister den Vorsitzenden aus und, danach muss nach nochmals maximal vierzehn Tagen eine Geschäftsordnung festgelegt werden. Die Kommission könnte also im Laufe der zweiten Junihälfte ihre Arbeit beginnen. Aus Sicht der Initiatoren ist Eile geboten, denn bis Mitte September soll ein Bericht vorgelegt werden. Wer der Kommission angehören wird, ist offen. Vieles spricht dafür, dass zum Beispiel Personen aus dem Institut für öffentliches Gedenken (IPN) prominent vertreten sein werden. Möglicherweise werden auch profilierte PiS-Politiker wie Antoni Macierewicz dabei sein. Die proeuropäische Opposition wird das Organ nicht durch Beteiligung am Besetzungsverfahren legitimieren und daher nicht in der Kommission vertreten sein.
Osteuropa: Das Gesetz zur Einrichtung der Sonderkommission wird „Lex Tusk“ genannt. In der Tat liegt der Verdacht nahe, dass es sich mindestens um ein Propagandawerkzeug zur Diskreditierung des Oppositionsführers handelt.
Lang: Wenn man die ganze Angelegenheit wohlwollend interpretieren möchte, könnte man zunächst feststellen, dass die Aufklärung von russischen Einflusskanälen in Politik, Staat und Wirtschaft eigentlich ein durchaus löbliches Unterfangen ist. Allerdings ist das Vorhaben bereits jetzt derart politisiert, dass die Aufarbeitung von intransparenten Netzwerken oder Manipulationsstrukturen vermutlich auf lange Zeit in Misskredit geraten ist. Die PiS verweist darauf, dass es derlei Bestrebungen auch in anderen Mitgliedstaaten der EU gibt. Allerdings wurde nirgends eine Institution geschaffen, die derart weitgehende Kompetenzen hat und die sich leicht als Handhabe zur Eliminierung oder zumindest Beschädigung unliebsamer Konkurrenz nutzen lässt. Die PiS wendet ein, dass ein gewöhnlicher parlamentarischer Untersuchungsausschuss nicht zielführend wäre, nicht nur weil er zu wenig Kompetenzen hätte, sondern auch weil er bei Änderung der Mehrheitsverhältnisse im nächsten Parlament möglicherweise seine Arbeit einstellen müsste. Das kann natürlich nicht ganz von der Hand gewiesen werden, denn derlei Ausschüsse sind immer auch politisch, und es kann durchaus sein, dass nicht alle Parteien ein ehrliches Aufklärungsinteresse haben.
Genauso gilt aber das Argument der Opposition, dass bei eklatantem Fehlverhalten von Politikern bestehende Gesetze bzw. Ermittlungseinrichtungen und Dienste schon längst hätten aktiv werden können bzw. müssen. Die gesamte Anlage der neuen Kommission, ihre Zusammensetzung, ihr Kompetenztableau oder ihre Funktionsweise legen nahe, dass es sich hier um einen funktionalisierbaren Mechanismus zur Verunglimpfung oder im Extremfall Ausschaltung der politischen Konkurrenz handelt. Auch der Zeitpunkt ihrer Schaffung legt dies nahe. Ein erster Bericht soll am 17. September vorgelegt werden. Das ist ein Symboldatum, nämlich der Jahrestag, an dem sowjetische Truppen 1939 im damaligen Ostpolen einmarschierten. Gleichzeitig liegt dieser Termin wenige Wochen vor den Wahlen. Entscheidungen der Kommission, die einer bestimmten Person Verstrickungen mit Russland nachweisen, können dann kaum noch revidiert werden, zumal der Weg vor die zuständige Verwaltungsgerichtsbarkeit ohnedies nur eine formale Prüfung vorsieht und selbst diese eine Weile dauern kann.
Osteuropa: Ist Tusk nur zweifellos gemeint oder explizit genannt?
Lang: Die Regierungsseite bezieht sich in ihrer Kampagnenführung vorrangig auf Donald Tusk. Ihm werden dunkle Machenschaften und ein Ausverkauf polnischer Interessen zugunsten Russlands oder Deutschlands unterstellt. Im polnischen öffentlichen Fernsehen lief vor einiger Zeit der Film Nasz człowiek w Warszawie – „Unser Mann in Warschau“. Dort wird Donald Tusk genau in diesem Sinne porträtiert. Was jetzt passiert ist sozusagen die Kommission zum Film. Tusk ist für die PiS das Sinnbild des Ausverkaufs polnischer Souveränität. Aber belangt werden könnten auch andere, wie etwa der Ex-Premier Waldemar Pawlak von der PSL, der als Wirtschaftsminister eine Rolle beim Abschluss von Gaslieferverträgen zwischen dem polnischen Mineralöl- und Erdgaskonzern PGNiG und Gazprom in den Jahren 2009–2010 spielte. Interessant wird sein, ob auch Politiker der nationalistisch-libertären Oppositionsgruppierung Konfederacja ins Visier genommen werden. Einer ihrer bekannten Vertreter, Janusz Korwin-Mikke, besuchte beispielsweise 2015 die annektierte Krim.
Osteuropa: Die „unvorteilhaften Gasverträge mit Russland“ – das erinnert an das Strafverfahren, mit dem in der Ukraine Anfang der 2010er Jahre der autoritäre, von Russland gestützte Präsident Viktor Janukovyč seine Konkurrentin Julija Tymošenko aus dem Weg räumte. Auch in der Türkei und Russland sind die herrschenden Regime mit solchen Methoden vorgegangen. Ist das für die PiS und ihre Partner kein Problem?
Lang: Nein, denn das innenpolitische Kalkül dominiert. Denn es geht ja um nicht weniger als um die Parlamentswahlen im Herbst. Man sollte aber nicht vergessen, dass für das Establishment der PiS, für Jarosław Kaczyński, aber auch für den Kern der PiS-Anhängerschaft die Themen „negative Einflussnahme Russlands“ und „schadensträchtige Loyalität oder Willfährigkeit polnischer Politiker gegenüber externen Mächten“ integraler Bestandteil ihrer Bedrohungswahrnehmung und Gegenwartsanalyse sind. Aus Sicht der PiS ist die Selbstbehauptung Polens nur dann möglich, wenn es seine Souveränität gegenüber Übergriffen aus Brüssel, deutscher Dominanzpolitik und jeder Art russischer Einflussnahme absichert. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine wurde der letzte Aspekt natürlich auch innerpolnisch noch bedeutsamer. Der russische Faktor ist immer auch Element in dem negativen Gründungsmythos, den die PiS über die Entstehung der Dritten Republik 1989 erzählt. Dazu gehört der Kompromiss am Runden Tisch mit den Reformkommunisten und ein damit angeblich etabliertes System, in dem liberale Solidarność-Politiker und Exkommunisten fraternisierten und die Bindungen zu Russland nicht kappten. Dazu gehört auch der Sturz der Regierung Olszewski am 4. Juni 1992. Dazu gehört ferner natürlich die Tragödie – oder für die PiS eher der „Anschlag“ von Smolensk vom 10. April 2010, also der Flugzeugabsturz, bei dem der damalige polnische Präsident Lech Kaczyński sowie mehrere Dutzend hochrangige Personen ums Leben kamen. Der Flug der polnischen Maschine nach Smolensk fand im Kontext einer von der Regierung Tusk verfolgten Verbesserung der polnisch-russischen Beziehungen statt. Kurzum, es geht der PiS nicht nur um kurzfristige Wahlkampfziele, sondern auch um die Entlarvung und Delegitimierung der Dritten Republik als ein von externen Mächten, vor allem von Russland, abhängiges und mit willfährigen Eliten durchsetztes Gemeinwesen.
Osteuropa: Gibt es überhaupt machtpolitisch notwendige Gründe für eine solche Strategie? Stehen die PiS und ihre Partner vor den Wahlen mit dem Rücken an der Wand?
Lang: Es ist offenkundig, dass die PiS im Wahlkampf immer wieder neue Fronten eröffnet. Thematisch baut sie auf ihre traditionellen Felder Soziales, Sicherheit und Souveränität. Kurz vor den Querelen um die Untersuchungskommission hat die PiS beispielsweise neue Vorschläge wie die Anhebung des Kindergeldes von 500 auf 800 Złoty oder die dauerhafte Verankerung einer vierzehnten Monatsrente präsentiert. Parallel hierzu wird auf Polarisierung, Emotionalisierung und Delegitimierung gesetzt. Das ist nicht neu. Und für die PiS ist eine solche Wahlkampfführung immer auch ein Vehikel zur Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft.
In der Vergangenheit waren außerdem Kontroversen um Fragen der Rechtsstaatlichkeit nichts, was die PiS innenpolitisch in Bedrängnis gebracht hätte. Die Demonstrationen des Komitees für die Verteidigung der Demokratie zum Beispiel waren eher überschaubar. Vielleicht ging die PiS davon aus, dass es dieses Mal wieder ähnlich laufen würde, dass die Opposition nur ihre eisernen Sympathisanten auf die Beine bringen würde, dass sich die Aufregung schnell legen würde, dass man aber vor allem ein wirkungsvolles Instrument zur selektiven Kujonierung der politischen Konkurrenz in der Hand hält. Die PiS stellte sich wohl gar nicht so sehr die Frage, ob das Gesetz machtpolitisch notwendig ist. Entscheidend war eher das Ziel, ein effektives Instrument zur Verfügung zu haben. Eine weichere Variante, die weniger Fragen nach der Rechtsstaatlichkeit aufgeworfen hätte, das aber gleichwohl dazu gedient hätte, Personen aufgrund realer oder angeblicher Verflechtungen mit russischen Interessen zu brandmarken, wäre nicht der Stil der PiS gewesen.
Osteuropa: Staatspräsident Duda hat das Gesetz zur Gründung der Kommission unterzeichnet, dann ist er zurückgerudert und hat Änderungen vorgeschlagen. Warum?
Lang: Nachdem der Sejm das Gesetz am Freitag, den 26. Mai, angenommen hatte, unterzeichnete der Präsident es am darauffolgenden Montag. Gleichzeitig wurde aber deutlich, dass Duda, der ja Jurist ist, doch einige heikle Punkte sah. Deswegen leitete er das Gesetz am Ende der Woche an den Verfassungsgerichtshof zur Prüfung weiter.
Wichtig ist, dass der Präsident den Weg der nachträglichen Kontrolle wählte. Damit ist das Gesetz erst einmal in Kraft. Erst wenn die Verfassungshüter Mängel feststellen, müssen diese behoben werden. Andrzej Duda hätte das Gesetz auch vor seiner Unterzeichnung dem Verfassungsgerichtshof vorlegen können, dann wäre es nicht in Kraft getreten, solange es kein Urteil gegeben hätte. Insofern darf gefragt werden, warum der Präsident mit seiner Unterschrift nicht zögerte? Vermutlich kamen hierbei drei Faktoren zusammen. Erstens scheint Andrzej Duda davon überzeugt zu sein, dass die Aufklärung russischer Einflussstrukturen notwendig ist und eine Einrichtung wie die vorgesehene Kommission grundsätzlich ein probates Mittel hierfür ist. Zweitens wollte Duda in der jetzigen Situation das Regierungslager, mit dem er ja biographisch und politisch verbunden ist, nicht schwächen. Sein Verhältnis zu Jarosław Kaczyński ist nicht gerade herzlich und ein Ausbremsen dieses für den PiS-Chef und die ganze Partei bedeutenden Projekts wäre ein weiterer Affront gewesen. Konkreter wird auch darüber spekuliert, dass der Präsident darauf hoffte, durch ein kooperatives Verhalten einige Vertraute auf guten Listenplätzen der PiS zu positionieren. Und drittens hat Andrzej Duda wohl unterschätzt, welche Wellen das Gesetz innenpolitisch und international schlagen würde. Immerhin profilierte er sich in letzter Zeit eher als jemand, der gegenüber den Partnern im Westen konzilianter agiert, dem insbesondere an guten Beziehungen zu den USA gelegen ist. Der Sturm, der dann hereinbrach, war dann offensichtlich zu mächtig. Deswegen brachte er nur wenige Tage nach seinem Plazet einen Novellierungsvorschlag ein. Das wirkt natürlich nicht besonders konsistent. Weder was das Verhalten des Präsidenten selbst angeht, noch bezüglich des Regierungslagers insgesamt.
Osteuropa: Was schlägt Duda konkret vor?
Lang: Er möchte dem Gesetz Ecken und Kanten nehmen, sodass sich die Aufregung legt. Zum Beispiel soll es Berufungsmöglichkeiten vor allgemeinen Gerichten und nicht nur vor Verwaltungsgerichten geben, womit auch eine inhaltliche Prüfung der Entscheidungen der Kommission erfolgen könnte. Auch sollen Sanktionierungen wegfallen und die Kommission soll lediglich feststellen können, dass eine Person unter russischem Einfluss gehandelt habe. Ein solches Verdikt wäre allerdings auch ohne formelle Sanktionsbewehrung nicht harmlos. Duda selbst sagte, dass man bei einer Person, über die derart geurteilt worden wäre, keine Garantie habe, dass sie die Amtsgeschäfte im öffentlichen Interesse führe. Man wird aber sehen müssen, ob die PiS bzw. Jarosław Kaczyński willens und in der Lage ist, Dudas Entschärfungsversuch mitzutragen. Einerseits wäre das eine Möglichkeit, um die Wogen zu glätten. Andererseits würde man zurückweichen. Außerdem muss für die Duda-Initiative eine Mehrheit gefunden werden und allein schon der PiS-Koalitionspartner Suwerenna Polska könnte sich dem verweigern.
Osteuropa: Wie reagiert die Opposition?
Lang: Die Opposition hat das Gesetz in Bausch und Bogen verurteilt. Aus ihrer Sicht handelt es sich um einen neuerlichen Frontalangriff auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Anders als bei bisherigen Querelen um das Thema sieht man dieses Mal einen direkten Eingriff in den Wahlprozess mit klarer Ausrichtung auf einzelne Personen, in erster Linie auf Donald Tusk. Vor diesem Hintergrund konnte die Opposition einen beachtlichen Erfolg erzielen. Am 4. Juni fand in Warschau ein schon lange geplanter, von Donald Tusk initiierter Demonstrationszug statt. Nachdem kurz zuvor das Gesetz über die Sonderkommission verabschiedet worden war, überstieg die Zahl der Teilnehmer alle Erwartungen. Die Opposition spricht von 500 000 Menschen. Zweifellos handelte es sich um die größte politische Manifestation in Polen seit 1989. Auch in anderen Städten fanden Kundgebungen statt. Die PiS gab der Opposition somit einen mächtigen Mobilisierungsimpuls sowie einen Anreiz zur engeren Zusammenarbeit. Letzteres zeigte sich daran, dass die beiden Vorsitzenden des Bündnisses Dritter Weg – die Bauernpartei PSL und die zentristische Polska 2050 entgegen ihrer ursprünglichen Ankündigungen dann doch am Warschauer Marsch teilnahmen. Der Dritte Weg ist übrigens durchaus in der Bredouille, denn die wachsende Polarisierung macht diese Allianz eher zu einem Anhängsel der Bürgerplattform. Die Idee von PSL und Polska 2050, gemeinsam eine Alternative für Oppositionswähler aufzubauen, die Donald Tusk und seiner Partei natürlich nicht gefällt, kann somit kaum Zugkraft entwickeln.
Insgesamt will die Opposition die Aufwallungen um die Russland-Kommission als Initialzündung für den Wahlkampf nutzen. Aber es ist noch lange hin bis zum Herbst und auch wenn die PiS mit dem neuen Gesetz ungewohnte Fehler machte, so läuft ihre professionelle Kampagnenmaschinerie weiter auf Hochtouren. Mit zahlreichen Initiativen, sozialpolitischen Offerten, europa- und deutschlandpolitischen Attacken können die Verwicklungen um die Aufklärungskommission durchaus wieder in den Hintergrund rücken. Das Rennen bleibt also offen. Wichtigster kurzfristiger Effekt für die Opposition ist vielleicht, dass sie wieder beginnt, an ihre eigenen Chancen zu glauben.
Osteuropa: Gibt es diese Chancen?
Lang: Es fällt auf, dass sich die Kampagne der PiS nicht nur gegen die proeuropäische Opposition oder deren wichtigste Gruppierung, die Bürgerkoalition bzw. Bürgerplattform richtet, sondern primär auf Donald Tusk abzielt. Die Bürgerplattform hat der PiS den Gefallen getan, mit Tusk den Lieblingsgegner von Jarosław Kaczyński in die polnische Politik zurückgeholt zu haben. Tusk hat ja ein nicht zu unterschätzendes Negativelektorat – also Menschen, die keiner Partei und keinem Bündnis, in denen er eine Rolle spielt, ihre Stimme geben. Die Opposition und auch Tusk selbst haben diese personalisierte Antagonisierung im Moment der Zuspitzung durch die neue Kommission recht gut aufgefangen. Indem sie das Gesetz als „Lex Tusk“ rahmten, nahmen sie sozusagen den Ball der PiS auf. Für die PiS ist die ganze Angelegenheit ambivalent. Zum einen gibt sie wieder ein Thema und das Tempo vor. Und unangenehme Fragen, wie etwa die nach der Rolle des Verteidigungsministers bei einem unaufgeklärten Fund einer Rakete russischer Bauart, die vor einigen Monaten in der Nähe von Bydgoszcz niedergegangen war, werden überlagert. Zum anderen darf die PiS den Bogen nicht überspannen. Denn wie der Marsch vom 4. Juni zeigte, kann die Anti-Kampagne der Regierungsseite auch als Katalysator für die Opposition wirken. Auch könnte sich Tusk bei übermäßiger Drangsalierung durch die Kommission oder durch andere Stellen – etwa wenn er, wie angekündigt, einer Vorladung nicht folgen würde – als Märtyrer inszenieren und so bei unentschlossenen Wählern punkten. Die gesamte Anti-Tusk-Kampagne stärkt den Ex-Premier ungemein, seine Position in der Opposition wurde zumindest vorläufig aufgewertet.
Osteuropa: Die Empörung über das Gesetz ist nicht nur in anderen EU-Staaten und in Brüssel groß, sondern auch beim zentralen Partner USA. Rechnen die PiS und ihre Partner damit, dass Washington und Brüssel die übergeordneten strategischen Interessen in dem Krieg, den Russland vom Zaun gebrochen hat, über die polnische Innenpolitik stellen werden?
Lang: Die USA haben etwa durch ihren Botschafter Mark Brzeziński und das State Department deutliche Worte der Kritik formuliert. Washington ist sich bewusst, dass die Regierungsseite in Warschau auf amerikanische Signale sensibler reagiert als auf Druck aus Brüssel. Gleichzeitig könnte es sein, dass in der PiS-Führung die Überlegung vorherrscht, dass in der gegenwärtigen geopolitischen Konstellation Polen zwar auf die USA angewiesen ist, diese aber ihrerseits Polen als relevanten Partner und Führungsmacht in Ostmitteleuropa benötigen. Es erstaunt dennoch, dass z.B. der Staatspräsident, der ja seit einiger Zeit auf gute Beziehungen zu Washington achtet, nicht umsichtiger agiert hat.
Osteuropa: Und Berlin?
Lang: Deutschland äußert sich vorsichtig und das wundert wenig. Berlin weiß, dass Stellungnahmen aus Deutschland zu diesem innenpolitisch aufgeladenen Thema im Vorwahlkampf von der PiS sofort aufgegriffen bzw. instrumentalisiert würden.
Osteuropa: Und die Europäische Kommission?
Lang: Diese hat erstaunlich schnell agiert und gut eine Woche nach Inkrafttreten des Gesetzes ein Vertragsverletzungsverfahren initiiert. Im Einzelnen macht die Kommission vier Dimensionen aus: einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip, da u.a. in den demokratischen Prozess und Wahlen eingegriffen werde; eine Verletzung der Grundsätze von Legalität und Nicht-Rückwirkung von Sanktionen; das Fehlen eines wirksamen Rechtschutzes sowie die Nichteinhaltung von EU-Datenschutzregeln. In ihrer Argumentation beruft sich die Kommission also auch direkt auf die in den Art. 2 und 10 des EU-Vertrags festgelegten und für Mitgliedstaaten verbindlichen allgemeinen Demokratieregeln. Dies ist insofern ein weiterer Schritt beim Ausbau der Rechtsstaatspolitik der EU.
Osteuropa: Wie sind die Chancen auf Erfolg?
Lang: Ein weiterer Streit mit Brüssel ist an sich kein größeres Problem für die PiS. Sie wird versuchen, dies als Einmischung in den Wahlkampf von außen darzustellen. Aber im Kontext von Mittelsperrungen, einem neuen EuGH-Urteil von Anfang Juni zum Disziplinarwesen in Polens Gerichtsbarkeit und generell einem sich wieder vertiefenden Dauerclinch ist das neue Vertragsverletzungsverfahren Wasser auf die Mühlen der Opposition. Diese stellt die PiS ja als Kraft dar, die Polen mindestens an den Rand der EU, wenn nicht aus ihr herausmanövriert.
So ist es nicht wahrscheinlich, dass die PiS noch einmal Änderungen vornimmt, obwohl die Gesetzesinitiative Dudas dies ermöglichen würde.. Zwar wären Dudas Vorschläge wohl aus Brüsseler Sicht nicht ausreichend, die PiS könnte aber kleinere Änderungen vornehmen, um nach außen wie innen guten Willen zu demonstrieren. Doch selbst das erscheint wenig realistisch. Die PiS-Führung weicht nicht gerne zurück, und möchte eher Stärke als Kompromissbereitschaft demonstrieren. Wir sehen einen weiteren Akt des seit Jahren auf zwei Ebenen ablaufenden Wechselspiels: Auf eine innenpolitische Verhärtung folgt eine Reaktion aus Brüssel, die wiederum die Fronten in Polen verhärtet.
Das Interview führte Volker Weichsel am 8.6.2023.