Gegenoffensive eingestellt

Nikolay Mitrokhin, 18.7.2023

In den ersten beiden Juliwochen haben sich die Kämpfe in der Ukraine an vielen Stellen der Front intensiviert. Und doch ist offensichtlich, dass Kiew die Gegenoffensive nach militärischen Misserfolgen im Juni faktisch eingestellt hat. Bemerkenswert ist, dass die ukrainische Gesellschaft, die sich über Monate auf die Rückeroberung der zu Beginn der russländischen Großinvasion verlorenen Gebiete eingeschworen hatte, dies ohne Murren hingenommen hat. Es sind sogar erste Anzeichen eines Umdenkens zu beobachten. Die Frage der Zukunft wird sein, ob die Ukraine zwecks NATO-Beitritt oder verlässlicher Sicherheitsgarantien für das von ihr kontrollierte Territorium das Ziel einer militärischen Rückeroberung der okkupierten Gebiete aufgibt und auf eine Wiedervereinigung zu einem späteren Zeitpunkt hofft. Andernfalls steht eine Fortsetzung des Abnutzungskriegs bevor, in dem trotz erheblicher Schwächung auch der russländischen Armee unklar ist, woher die Ukraine die benötigten Ressourcen nehmen soll.

Die Lage an der Front

Die Intensität der Gefechte im Osten und Südosten der Ukraine hat in den ersten beiden Juliwochen 2023 zugenommen. Dies hat zum einen mit dem trockenen Wetter zu tun, zum anderen sind die russländischen Truppen nach der faktischen Einstellung der ukrainischen Gegenoffensive dazu übergegangen, an einigen Abschnitten der Front ukrainische Stellungen zu testen. An mindestens einem Dutzend Frontabschnitten fanden in der ersten Julihälfte intensive Gefechte statt, im Mai 2023 wurde nur an rund sechs Stellen in vergleichbarer Weise gekämpft.

Im Norden hat die Ukraine den Beschuss der russländischen Gebiete Belgorod, Brjansk und Kursk mit Artillerie, Raketen und Drohnen stark ausgeweitet. Die Ziele liegen nicht nur in grenznahen Dörfern, sondern auch tief im Hinterland der drei Gebiete. Am 14. Juli etwa griff eine ukrainische Drohne die örtliche FSB-Verwaltung in Kurčatov an. Die 40 000-Einwohner-Stadt ist Standort des AKW Kursk und liegt rund 70 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Ziel der Ukraine ist es, die Kräfte der russländischen Armee in diesen Gebieten „abzuklopfen“ und Energieinfrastruktur sowie Industrie- und Lagerhallen zu zerstören, in denen militärisches Gerät oder Munition untergebracht sein könnten. Da die Ukraine eine Evakuierung der grenznahen Landkreise des Gebiets Sumy verkündet hat, wird über einen möglichen größeren Einfall ukrainischer Truppen auf russländisches Gebiet spekuliert.

Der Oberkommandierende der Ukrainischen Armee Valerij Zalužnyj erklärte am 15. Juli in der Washington Post:

"Warum soll ich jemanden um Erlaubnis fragen, was ich im Gebiet des Feindes tun darf, wenn es darum geht, meine Leute zu retten? Aus irgendeinem Grund soll ich denken, dass ich dort nichts tun darf. Aber warum? Weil Putin dann Atomwaffen einsetzt? Den Kindern, die jetzt sterben, ist das egal. Das ist unsere Angelegenheit, wir entscheiden, wie wir diesen Feind töten. In einem Krieg kann und muss er auf seinem eigenen Territorium erledigt werden. Wenn unsere Partner sich fürchten, ihre Waffen einzusetzen, dann verwenden wir unsere eigenen. Aber nur genau in dem Maße, in dem es notwendig ist."[1]

Im nördlichsten Abschnitt der durch die Ukraine verlaufenden Front bei Kupjans’k ist die Intensität der Gefechte im Unterschied zu vielen anderen Abschnitten im Juli gegenüber den beiden Vormonaten zurückgegangen. Dort haben die russländischen Truppen ihre Angriffe weitgehend eingestellt. Mitte Juli nahmen sie diese jedoch wieder auf. Ganz anders im südlich davon gelegenen Raum Kreminna. Im Umland von Svatove versucht die ukrainische Armee die russländischen Verteidigungsstellen zu durchbrechen. Weiter südlich bei Tors’ke haben russländische Truppen mit einem gewissen Erfolg (500 Meter in einer Woche) einen Vorstoß in Richtung des Ufers des Žerebec’ unternommen. In den südwestlich von Kreminna gelegenen Wäldern (Forstgebiet Serebrjanka) finden seit Wochen Stellungskämpfe statt.

Im daran anschließenden Großabschnitt von Soledar und Bachmut versucht die ukrainische Armee bei Jakovlevka von Norden her in eine in Richtung Kramators’k zeigende Frontausbuchtung vorzustoßen, um die russländischen Truppen bei Soledar abzuschneiden. Gleichzeitig versucht sie, russländische Stellungen im Nordwesten sowie an zwei Stellen im Süden von Bachmut zu stürmen. Die dortigen Höhenzüge und Landstriche bei Kliščijivka und Kudrjumivka waren in den letzten Wochen mal in ukrainischer, mal in russländischer Hand.

Intensive Kämpfe finden auch weiter südlich nahe Avdijivka statt. Die ukrainischen Kräfte halten dort die seit 2014 bestehenden Stellungen und gehen gelegentlich zu Gegenangriffen über. Eine Befestigungsanlage östlich von Avdijivka, die Russland im Juni erobert hatte, ist mittlerweile wieder unter ukrainischer Kontrolle.

Trotz aller Intensität der Gefechte gab es nennenswerte Veränderungen nur im Frontabschnitt im Norden des Gebiets Zaporižžja. Dort gelang es der ukrainischen Armee Ende Juni-Anfang Juli südlich von Velyka Novosilka die Frontausbuchtung bei Vremivka mit einer Fläche von zehn auf sieben Kilometern abzuschneiden, die erste Verteidigungslinie der Besatzer zu durchbrechen, die Ruinen von sieben Siedlungen zu erobern und zur zweiten Verteidigungslinie zwischen den Dörfern Staromajors’ke und Prijutne vorzustoßen. Diesen Siedlungen haben sich die ukrainischen Verbände im Juli immer mehr genähert, und es ist durchaus möglich, dass sie diese in der zweiten Julihälfte einnehmen. Der Ausgang der dortigen Kämpfe ist von Bedeutung, da die beiden Siedlungen die Straße nach Mariupol’ schützen. Sollte der Ukraine hier ein Durchbruch gelingen, wäre der Weg zum Asowschen Meer nur noch gut 100 Kilometer. Sollte ein solcher Vorstoß erfolgreich sein, würden die ukrainischen Truppen die gesamte russländische Verteidigung im Süden der Ukraine zerschneiden, was Angriffe auf die Flanken ermöglichen würde. Doch natürlich ist dies Russlands Armeeführung bewusst. Daher gibt es an dieser Stelle vier Verteidigungslinien, von denen die Ukraine erst eine durchbrochen hat. Außerdem haben russländische Truppen entlang der Straße nach Mariupol’, die bis dorthin durch weitere 15 Dörfer führt, zusätzliche Verteidigungsstellen errichtet.

Westlich von Velyka Novosilka haben russländische Einheiten bei Huljaj Pole am 13. Juli an einem zuvor meist ruhigen Frontabschnitt eine Reihe ukrainischer Stellungen erobert und sind 1-2 Kilometer vorgestoßen. Noch weiter westlich ist es der ukrainischen Armee bei Orichiv gelungen, zur ersten Verteidigungslinie des Gegners vorzudringen. Dort fanden in der gesamten zweiten Juliwoche heftige Gefechte statt. Noch weiter westlich hat die ukrainische Armee am Ufer des Dnipro im Kreis Kamjnas’ke vor einiger Zeit das zur ersten Verteidigungslinie gehörende Dorf P’jatychatky eingenommen, versucht aber seitdem erfolglos, weiter vorzudringen.

An dem 300 Kilometer langen Frontabschnitt entlang des Dnipro gab es in der ersten Julihälfte nur an der zerstörten Antonivka-Brücke relevante Entwicklungen. Trotz massiven Beschusses ist es der Ukraine gelungen, den Brückenkopf am linken Ufer des Flusses zu halten und sogar auszuweiten. Große Chancen bietet dies der Ukraine allerdings nicht. Die russländische Armee hat Artillerie herangeführt, beschießt die Truppen am Ufer und auf den Inseln im Fluss, ebenso alle ukrainischen Boote, mit denen diese Einheiten versorgt werden sollen. Gleichwohl sind die Kämpfe aussagekräftig für das Kräfteverhältnis an diesem Frontabschnitt.

Schließlich setzen beide Seiten auch in diesem südlichen Frontabschnitt den Beschuss des rückwärtigen Raums mit Artillerie und Raketen fort. Auf der von der Ukraine kontrollierten Seite wurden insbesondere Cherson und die Kleinstadt Orichiv stark beschossen, in beiden Städten wurden unter anderem Gebäude getroffen, in denen humanitäre Hilfe verteilt wurde, es gab Tote und Verletzte. Die ukrainische Armee hat mehrfach die von Russland seit mehr als 16 Monaten okkupierten Städte Berdjans’k und Melitopol’ sowie die Kleinstadt Polohy beschossen. Bei einem Treffer auf ein Gebäude nahe Berdjans’k, das als Stabsstelle der 58. Russländischen Armee diente, wurde mit dem stellvertretenden Armeekommandeur Generalmajor Oleg Cokov der 12. russländische General seit Beginn der Großinvasion im Februar 2022 getötet.

Die Einstellung der ukrainischen Gegenoffensive

Die Übersicht über die umkämpften Frontabschnitte zeigt, dass von einer laufenden ukrainischen Gegenoffensive keine Rede mehr sein kann. Zwar rief der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens’kyj am 1. Juli die Streitkräfte seines Landes noch einmal dazu auf, bis zum zehn Tage später anstehenden NATO-Gipfel substantielle Ergebnisse vorzulegen. Doch schon drei Tage später verkündete der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine Oleksij Danilov einen Strategiewechsel: Die ukrainische Armee setze nun nicht mehr auf „Vormarsch“, sondern auf „Erschöpfung“ des Gegners durch Beschuss. Bereits zuvor hatte die Ukraine allerdings recht erfolgreich den unmittelbaren rückwärtigen Raum der russländischen Armee mit US-amerikanischen Himars-Raketen und das entferntere Hinterland mit britischen Storm Shadow-Raketen beschossen. Faktisch hat Danilov damit eine Einstellung der Gegenoffensive verkündet.

Im Grunde war bereits drei Wochen zuvor klar gewesen, dass die über Monate angekündigte und vorbereitete Gegenoffensive gescheitert ist. Die ukrainische Armee hatte an rund zehn Abschnitten mit kleineren Kolonnen getestet, ob ein Durchbrechen der Front möglich ist, jedoch selbst an der Ausbuchtung bei Vremivka, wo sie gewisse Erfolge verzeichnen konnte, keinen Durchbruch von größerer taktischer oder gar strategischer Bedeutung erzielt. Bei Bachmut ist es der Ukraine gelungen, den Gegner von der westlich der Stadt gelegenen Siedlung Časov Jar zurückzudrängen, doch dies war keine Gegenoffensive, bei der besetztes Land zurückgewonnen wurde, sondern hat lediglich ein weiteres Vordringen der russländischen Streitkräfte verhindert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine einen neuen Anlauf unternimmt. Doch dies wäre eine neue Offensive.

Blickt man auf die Juni-Offensive zurück, so springt vor allem der Kontrast zwischen den großen Zielen und dem bescheidenen Ergebnis ins Auge. Die russländischen Verteidigungsanlagen, insbesondere die Minenfelder, haben sich als noch größeres Hindernis erwiesen, als dies befürchtet worden war. Aber auch die Unterweisung der ukrainischen Soldaten an den westlichen Panzern hat sich als unzureichend erwiesen. Unter Kampfbedingungen zeigte sich, dass die Einheiten nicht gut genug ausgebildet sind, einige flohen unter den Gegenschlägen in Panik und ließen dabei sogar augenscheinlich unbeschädigte Fahrzeuge mit laufendem Motor zurück. Die Ukraine hat an nur drei Tagen im Juni ein Drittel der 36 ihr zur Verfügung gestellten Leopard-Panzer verloren sowie einige Dutzend Schützenpanzer vom Typ Bradley. Manche Fahrzeuge sind beschädigt und können vielleicht repariert werden, andere sind Russland in die Hände gefallen und werden gewiss bereits von Spezialisten der Rüstungsindustrie untersucht. Dies ist genau das, was die westlichen Staaten befürchtet hatten, als sie die Lieferung bestimmter Waffengattungen an die Ukraine im Jahr 2022 zurückgehalten hatten.

Das militärische Scheitern der Gegenoffensive hat eine wichtige politische Erkenntnis zu Tage gebracht: Die ukrainische Führung hat nach den ersten Misserfolgen die Armee nicht vorangepeitscht, hat nicht ohne Rücksicht auf Verluste Tausende Soldaten in die Schlacht geworfen. Und die ukrainische Gesellschaft hat dies trotz des Militarismus und der Opferbereitschaft, die sie täglich demonstriert, einfach akzeptiert. Sie hat den „Strategiewechsel“ gleichgültig hingenommen und sich damit zufriedengegeben, dass „die Gegenoffensive vorangeht, jedoch langsam, unter Rücksicht auf das Leben unserer Soldaten“.

Gleichzeitig hat die Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Vilnius am 11.-12. Juli keine feste Zusage für eine baldige Mitgliedschaft erhalten. Dies hat bereits dazu geführt, dass die Hoffnung auf eine baldige Befreiung der okkupierten Gebiete zurückgeschraubt wurde. Noch bis Anfang Juli gab es in der ukrainischen Debatte nahezu ausschließlich Stimmen, die – ausgehend von den Erfolgen der ukrainischen Armee im Jahr 2022 und basierend auch auf den Versprechungen der Staats- und Armeeführung – davon ausgingen, dass die ukrainischen Truppen die Verteidigungsstellungen der Besatzer rasch durchbrechen und mindestens bis zu den Landübergängen auf die Krim vorstoßen werden.[2] Viele machten sich Hoffnungen, dass auch die Krim bald befreit werden könne. Man erinnere sich, dass einige ukrainische Politiker im Winter 2022/2023 Hotels auf der Krim buchten, weil sie daran glaubten oder einen solchen Glauben zur Schau stellen wollten, dass die Halbinsel bis zum Beginn der Badesaison befreit sein würde.

Jetzt stellt man sich in der Ukraine die Frage, wie realistisch dies ist. Exemplarisch ist ein unmittelbar nach dem NATO-Treffen auf der Online-Plattform Zaxid.net erschienener Text. Zaxid.net gehört zu 80 Prozent der Mediaholding des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadovyj und ist ein zentrales Debattenforum Lemberger Intellektueller, die in nicht unerheblichem Maß die ideellen Grundlagen der ukrainischen Politik schaffen. Dort erwägt der Autor Ljubko Petrenko, dass die Ukraine nach dem Vorbild des Verzichts der BRD auf eine sofortige Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zwecks Beitritt zur NATO vom Ziel einer unmittelbaren Rückeroberung der Krim abrücken könnte. Schließlich sei das Ziel der Bonner Regierung 1990 in Erfüllung gegangen: mit der Wiedervereinigung rückte Gesamtdeutschland unter das Dach der NATO. An der Hoffnung eines Vorstoßes in Richtung Süden bis zur Landbrücke auf die Krim hält der Autor fest, von dort könne die Armee „nach Osten“ vorrücken.[3] Von einer Befreiung des Donbass ist jedoch keine Rede. Dem Autor dürfte bewusst sein, dass eine Rückeroberung dieses dicht bebauten Gebiets rein militärisch gesehen viel schwieriger ist als eine Befreiung der Krim.

Der Text auf Zaxid.net ist ein erstes Anzeichen für eine Neubewertung der Lage in der ukrainischen Gesellschaft. Betrachtet man diese Lage von außen mit größtmöglicher Objektivität, so stellen sich zwei Fragen. Die erste lautet: Wie soll es der ukrainischen Armee gelingen, riesige Gebiete im Süden und Osten des Landes zu befreien, wenn eine über Monate vorbereitete Großoffensive nach sechs Wochen nur dazu geführt hat, dass die Armee an einem einzigen kleinen Frontabschnitt sieben Kilometer vorangekommen ist, bevor sie auf die zweite Verteidigungslinie der Besatzer gestoßen ist? Wie lange soll dieser Versuch einer militärischen Befreiung fortgeführt werden und wo werden die Ressourcen dafür hergenommen? Die Ukraine hat zwar erhebliche Teile der zwischen November 2022 und Mai 2023 aufgebauten Kräfte noch nicht eingesetzt. Gleichwohl geht bei den täglichen Gefechten an den erwähnten Frontabschnitten Material verloren und es sterben Soldaten. Manche Hinweise wie der auf angeblich sechs am 13. Juli beim Versuch der Einnahme eines Waldstücks bei Orichiv verlorene Bradley-Schützenpanzer lassen sich zwar schlecht prüfen. Aber solch intensive Kämpfe können nicht ohne Verluste bleiben.

Die zweite Frage ist noch konkreter. Bereits vor dem NATO-Gipfel hat US-Präsident Joe Biden trotz der Proteste internationaler Menschenrechtsorganisationen entschieden, der Ukraine Streumunition zu liefern. Die Begründung für die Entscheidung war simpel: Der Westen verfüge über keine andere Munition mehr für die von ihm an die Ukraine gelieferten Geschütze. Man darf annehmen, dass auch die Hoffnung eine Rolle spielte, mit dieser Munition könne die ukrainische Armee sich Wege durch die von den Besatzern geschaffenen Minenfelder bahnen. Doch auch die jetzt gelieferte Streumunition wird in nicht allzu ferner Zukunft verschossen sein. Wie geht es dann weiter, in einer Situation, in der es der Ukraine nach 16 Monaten Krieg nicht gelungen ist, die eigene Rüstungsproduktion im benötigten Maß zu steigern und auch die Herstellung geeigneter Munition im Westen nicht substantiell erhöht wurde?

Russlands Armee nach dem Wagner-Aufstand

Auch drei Wochen nach dem Aufstand der Wagner-Armee unter Evgenij Prigožin am 24. Juni hält die von diesem Ereignis ausgelöste Unsicherheit an. Offenbar hat Russlands Präsident den unmittelbar Beteiligten fürs Erste einen Weg zur Reue eröffnet. Am 29. Juni hat er die gesamte Führung der Gruppe in Gestalt von 35 Personen zu einer dreistündigen Audienz empfangen, Loyalitätsbekundungen entgegengenommen und „Varianten der Weiterbeschäftigung“ diskutiert. Ein kleiner Teil der Wagner-Soldaten ist nach Belarus gegangen, wo sie seit der zweiten Juliwoche als Ausbilder für belarussische Reservisten arbeiten. Die große Mehrheit der Kämpfer ist jedoch weiterhin in Feldlagern im okkupierten ukrainischen Gebiet Luhans’k.

Wagner-Chef Prigožin war vom 26. Juni bis zum 14. Juli komplett verschwunden. Dann tauchte erstmals ein Foto auf, das ihn in einer Garnison in Belarus zeigen soll. Hatte er bis zum Aufstand seiner Truppe teils mehrmals am Tag Botschaften über Telegram verbreitet, ist er nun komplett aus den sozialen Medien verschwunden. Seine Mediaholding „Patriot“ hat er mit einem Schlag aufgelöst, alleine in Sankt Petersburg haben über 1000 Mitarbeiter von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren. Auch die Anwerbestellen in vielen Städten Russlands wurden geschlossen. Die Wagner-Truppe hat der regulären Armee ihre schweren Waffen und die dazugehörige Munition übergeben. Prigožin hat im Gegenzug offenbar wieder Zugriff auf enorme Mengen von Geld, Immobilien und Waffen, den ihm der Staat zuvor entzogen hatte. Möglicherweise wird sich das Militärunternehmen Wagner in Zukunft auf Afrika und Syrien konzentrieren, wo die Truppe mit tatkräftiger Unterstützung Moskaus lokale Diktatoren stützt.

Wesentlich mehr Sorgen um die eigene Zukunft müssen sich jene hochrangigen Angehörigen der regulären Truppen machen, die verdächtigt werden, den Aufstand unterstützt oder sogar organisiert zu haben. Dies trifft vor allem für den Oberbefehlshaber der Luft- und Weltraumstreitkräfte Armeegeneral Sergej Surovikin zu. Dieser hatte beim Überfall auf die Ukraine zunächst die Truppengruppierung „Süd“ befehligt und war von Oktober 2022 bis Januar 2023 Befehlshaber der gesamten Invasionsarmee, danach stellvertretender Befehlshaber. Surovikin wurde bereits am 24. oder 25. Juni festgenommen oder verhaftet. Über seinen Aufenthaltsort, seinen Gesundheitszustand und seinen rechtlichen Status ist nichts bekannt.

Mindestens zehn weitere amtierende und ehemalige Militärs im Range von stellvertretenden Abteilungsleitern im Verteidigungsministerium oder in entsprechender Position im Generalstab wurden ebenfalls festgenommen oder verhaftet. Weitere 13 Personen oder mehr wurden entlassen. Die meisten von ihnen hatten durch jahrelange Zusammenarbeit enge Kontakte zu Prigožin, denn die Wagner-Soldaten fungierten faktisch als Truppe der Militärischen Auslandsaufklärung des Generalstabs. Prigožin verdiente nicht nur mit der Organisation der Truppenverpflegung, sondern erledigte auch zahlreiche heikle Aufgaben des Verteidigungsministeriums. Einstweiliger Sieger des Kräftemessens der Apparate sind Verteidigungsminister Sergej Šojgu sowie der Leiter des Generalstabs und gegenwärtige Kommandierende der „Spezialoperation“, Armeegeneral Valerij Gerasimov.

Den Säuberungen im Verteidigungsministerium fiel nicht zuletzt General Ivan Popov zum Opfer, der Kommandierende der im besetzten Teil des Gebiets Zaporižžja an der Front stehenden 58. Armee. In einer letzten Ansprache an seine Soldaten teilte er diesen mit, dass er entlassen worden sei, nachdem er Gerasimov einen Bericht über ein verlorenes Artilleriegefecht sowie hohe Opfer unter den Soldaten präsentiert hatte.[4] Am 15. Juli wurde mit Generalmajor Vladimir Seliverstov auch der Kommandeur der 106. Gardedivision der Luftlandetruppen aus Tula entlassen. Dieser hatte bei der Schlacht um Bachmut eng mit Prigožin und seinen Truppen zusammengewirkt.

All dies zeugt davon, dass die Konfrontation zwischen Sergej Šojgu, dem politischen Statthalter Putins an der Spitze des Verteidigungsministeriums und dem zu ihm haltenden Gerasimov auf der einen Seite und einer Fraktion professioneller und erfahrener Truppenkommandeure auf der anderen Seite anhält. Wie sie ausgeht, ist offen. Möglicherweise werden weitere Mitglieder einer „Surovikin-Gruppe“ degradiert oder entlassen. Über Surovikins persönliches Schicksal hat Putin noch nicht entschieden. Vielleicht wird es auch zu Aufständen weiterer Gruppierungen kommen, die von der Armeeführung „Gerechtigkeit“ verlangen. Zweifellos schwächt dies die Kampffähigkeit der russländischen Truppen, sind doch bereits jetzt Generäle mit einer über viele Jahre hinweg erworbenen Kampferfahrung verhaftet oder entlassen worden.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] To defeat Russia, Ukraine’s top commander pushes to fight on his terms. Washington Post, 14.7.2023.

[2] Siehe etwa Petro Gerasimenko: Psycholohija kontrnastupu. Inodi dijsno krašče movčati, niž bahato hovoriti. Zaxid.net, 3.7.2023, <https://zaxid.net/psihologiya_kontrnastupu_n1566677>.

[3] Ljubko Petrenko: Samit umovnoho rozčuvorannja. Zaxid.net, 12.7.2023, <https://zaxid.net/samit_umovnogo_rozcharuvannya_n1567287>. – Zu ähnlichen Erwägungen früheren Datums siehe Egbert Jahn: Waffenstillstand durch Waffenlieferungen. Zwei Szenarien für die Ukraine, in: Osteuropa, 12/2022, S. 31-45.

[4] Das Video mit der Ansprache, in dem Popov, Kampfname „Cäsar“ die Soldaten „meine Gladiatoren“ nennt, machte der Abgeordnete der Staatsduma Andrej Gurulev öffentlich, der bis Ende 2021 die 58. Armee befehligt hatte und in der Duma im Verteidigungsausschuss sitzt.