Kriegsschäden am Kloster Svjatohirs’k
Kriegsschäden am Kloster Svjatohirs’kAusbildungsgebäude auf dem Truppenübungsplatz Javoriv nahe L’viv kurz nach dem Raketenbeschuss am 13.3.2022
Ausbildungsgebäude auf dem Truppenübungsplatz Javoriv nahe L’viv kurz nach dem Raketenbeschuss am 13.3.2022Mariupol‘, von russländischen Truppen eroberter Außenbezirk der Stadt, 13.3.2022
Mariupol‘, von russländischen Truppen eroberter Außenbezirk der Stadt, 13.3.2022Zerstörter Ponton der russländischen Armee bei Hostomel‘
Zerstörter Ponton der russländischen Armee bei Hostomel‘

Hart umkämpft

Die militärische Lage in der Ukraine

Nikolay Mitrokhin

13.3.2022

Die Lage der ukrainischen Verteidigung spitzt sich an mehreren Stellen zu, vor allem im Osten und bei Irpinʼ nahe Kiew. Es ist damit zu rechnen, dass die russländischen Truppen dort in den kommenden Tagen einen Durchbruch versuchen.

Am vorgelagerten Posten der russländischen Armee bei Irpinʼ 25 Kilometer nordwestlich von Kiew ist der tschetschenische Führer Ramzan Kadyrov mit seinem Gefolge eingetroffen. Die Stadt Irpinʼ selbst ist nach Angaben des Bürgermeisters weiter zu 70 Prozent unter ukrainischer Kontrolle. Der Bürgermeister hat jedoch Vorkehrungen für eine Flucht getroffen. Es ist mit einem Angriff auf Kiew aus dieser Richtung zu rechnen, bei dem die Kadyrov-Truppen eine wichtige Rolle spielen, denn die motorisierten Schützen- und Fallschirmjägereinheiten der ersten Angriffswelle sind demotiviert und erschöpft. Es ist weiter möglich, dass die russländische Armee zunächst versuchen wird, Kiew von Westen her zu umzingeln. Doch dafür fehlt es offenbar an Truppen. Im Nordosten von Kiew steht weiter der große Verband der russländischen Armee mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Doch seit die Kolonne um den 9. März zum Halt gekommen ist, gibt es von dort keine Nachrichten, die die ukrainische Verteidigung beunruhigen müssten. In Černihiv, Sumy, Achtyrka, Charkiv und Mykolajiv ist die militärische Lage im Großen und Ganzen unverändert.

Im Osten der Ukraine rückt die russländische Armee hingegen weiter aus dem Donbass kommend nach Norden vor. Die 50 000-Einwohner-Stadt Izjum, auf halber Strecke von Donec’k nach Charkiv, ist eingeschlossen und scheint teilweise eingenommen zu sein. Weiter im Süden dringen die russländischen Truppen nach Einnahme der weitgehend zerstörten Kleinstadt Volnovacha zwischen Donec’k und Mariupolʼ weiter nach Westen in Richtung Dnepr vor. Wenn die ukrainische Armee diese vordringenden Einheiten nicht zerschlagen oder aufreiben kann, wird ihre zentrale Front von Süden, Osten und Norden in einem Halbkreis eingeschlossen.

In den vergangenen 24 Stunden wurden Stellungen der ukrainischen Armee in der Gegend von Kramatorsk, Slovʼjansk und Svjatohirsʼk massiv beschossen. Auch das Kloster Svjatohirs’k wurde in Mitleidenschaft gezogen, da sich in der Nähe eine wichtige Brücke über den Siversʼkyj Donez befindet. Diese Brücke könnte im Falle eines Rückzugs der ukrainischen Armee aus den Gebieten nördlich von Donec’k und Horlivka ein zentraler Übergang sein. Im Gebiet Luhansʼk hat die „Volksmiliz“ der LNR nach eigenen Angaben Popasna eingenommen. Die Gefahr ist groß, dass die Städte im Norden des Gebiets – Lysyčansʼk mit 100 000 Einwohner und Starobil’sʼk mit 20 000 Einwohnern eingekesselt werden. Anders als von vielen prognostiziert, halten die beiden Städte jedoch seit fast drei Wochen die Stellung und zeigen kein Anzeichen, dass sie sich ergeben wollen.

Im Süden kommen die russländischen Truppen vor Mariupolʼ zwar nur langsam voran, doch es zeichnet sich ab, dass sie die Stadt einnehmen werden, auch wenn die Verteidigungstruppen heftige Gegenwehr leisten. In der Stadt sind bereits über 2000 Zivilisten ums Leben gekommen, die Zerstörungen sind verheerend, denn die russländischen Truppen beschießen auf ihrem Vormarsch aus Panzern sämtliche mehrstöckigen Häuser, in denen sich Scharfschützen verstecken könnten. Nirgendwo haben sie eine solche humanitäre Katastrophe ausgelöst wie in Mariupolʼ und der völlig zerstörten 35 000-Einwohner Stadt Buča nordwestlich von Kiew.

Am 13.3. meldeten die ukrainischen Behörden, sie hätten südlich von Zaporižžja bei Vasylivka eine größere Gruppierung der russländischen Armee zerschlagen, die sich auf den Sturm von Zaporižžja vorbereitet hätte. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass russländische Truppen am rechten Dnepr-Ufer in Richtung Dnipro vorrücken. Dieser Vorstoß wird dann besonders gefährlich, wenn es dieser Gruppierung gelingt, die Verbindung von Zaporižžja und Dnipro nach Kryvyj Rih abzuschneiden. Denn die Linie Avdiïka-Dnipro-Kryvyj Rih-Kropyvnyts’kyj (Kirivohrad)-Bila Cerkva-Kiew ist gegenwärtig die Achse der ukrainischen Verteidigung. Die ukrainischen Streitkräfte haben jedoch mehrfach solche Durchbrüche abgewehrt, auch sind die Reservisten sowie die Territorialverteidigung im Gebiet Dnipropetrovsk bislang noch nicht im Einsatz.

Die ukrainische Armeeführung befürchtet zudem, Russland könnte erneut versuchen, bei Odessa Truppen vom Schwarzen Meer her abzusetzen. Ein erster Versuch ist wegen schwerer See gescheitert, die Schiffe kehrten nach Sevastopolʼ zurück. Der Versuch, Truppen per Hubschrauber abzusetzen, ist in den ersten Tagen des Kriegs bei Hostomelʼ nahe Kiew gescheitert. Nach ukrainischen Angaben sind dort 19 von 20 Luftlandetrupps zerschlagen worden. Ob das Moskauer Verteidigungsministerium erneut versuchen wird, Truppen aus der Luft oder per Schiff abzusetzen, ist unklar.

In den beiden großen von russländischen Truppen eingenommenen Städten im Süden der Ukraine – Cherson und Melitopolʼ – finden immer wieder Proteste gegen die Besatzer statt. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass die Militärkommandantur diese Kundgebungen mit Gewalt unterdrücken wird.

Ein großes Problem der ukrainischen Verteidigung: Russland hat im Laufe der vergangenen Woche neue Kurzstreckenraketen, vor allem vom Typ Iskander, in Richtung Ukraine gebracht. Mit diesen beschießt sie Führungsstände der ukrainischen Armee, Flugplätze, Luftabwehrstellungen, Treibstoffdepots und Rüstungsfabriken. Zuletzt wurde der Truppenübungsplatz Javoriv nahe L’viv mit Raketen beschossen, dort wurden mehrere Gebäude zerstört und mindestens 35 Menschen getötet.

Raketenschläge gegen solche Ziele hatte es bereits in den ersten Stunden des Krieges gegeben. Moskau kennt nahezu alle Standorte, denn seit dem Ende der Sowjetunion haben sie sich kaum geändert. Informationen über neue Einrichtungen wurden mindestens bis zum Jahr 2015 von Agenten im ukrainischen Kommando nach Russland übermittelt, wo sie vom Auslandsgeheimdienst GRU und vom Generalstab gesammelt wurden. Das Zentrum für gemeinsame Übungen mit der NATO in Očakov östlich von Odessa war Ziel einer der ersten Luftschläge nach dem Angriff. Wahrscheinlich wurden dort rund 50 Menschen unter den Trümmern begraben. Zwei Kommandozentralen der ukrainischen Streitkräfte wurden ebenfalls zerstört. Das Kommando Nord befand sich in einem dreistöckigen, ungeschützten Gebäude in einer alten sowjetischen Militärgarnison. Auch hier wurden Dutzende Offiziere getötet. Ähnliches geschah kürzlich in Mykolajiv, und nun in Javoriv. Warum sich an all diesen Orten, von denen klar war, dass sie früher oder später Ziel russländischer Raketenangriffe werden, weiter Soldaten und Offiziere befunden haben, ist unklar.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.