„Nach der Wahl steht Georgien Russland schutzlos gegenüber“

Zaal Andronikashvili über den georgischen Alptraum, 3. Akt, 15.11.2024

Die Partei Georgischer Traum des Milliardärs Bidzina Ivanishvili hat sich durch Wahlfälschung erneut die absolute Mehrheit im georgischen Parlament gesichert. Da ihr die Umfragen eine Niederlage voraussagten, entschied sie sich für eine erfindungsreiche Kombination aus Wahlmanipulationen. Auch die proeuropäische Opposition gab sich Illusionen hin und machte Fehler. Sie konnte die Tatsache, dass 80 Prozent der Georgier in die EU streben, nicht besonders gut für sich nutzen. Geopolitisch sind Georgien und die Ukraine am Ende unterschiedliche Schauplätze des gleichen von Russland geführten Kampfes. Der einzige Schutz Georgiens gegenüber Moskau ist die EU- und NATO-Integration, mit dem Wahlsieg Ivanishvilis wird genau diese Integration ausgesetzt. Die Wahl ist für Russland ein großer Erfolg, erklärt Zaal Andronikashvili im Osteuropa-Interview. Und Brüssel schaut nur zu.

Osteuropa: Es haben sich die Anzeichen verdichtet, dass es bei der georgischen Parlamentschaftswahl am 26. Oktober 2024 systematische Wahlmanipulation in größerem Umfang zugunsten des Georgischen Traums gegeben hat. Die Rede ist von zehn bis 15 Prozent Stimmanteil. Wie bewerten Sie die offiziellen Zahlen?

Zaal Andronikashvili: Bereits die Diskrepanz zwischen den am Wahltag durch internationale Wahlforschungsinstitute erstellten Hochrechnungen und dem Endergebnis von 54 %, das nahe an der von der Regierung in den vorausgegangenen Monaten angekündigten Zahl lag, weckte erste Bedenken. Der gemeinsame vorläufige Bericht des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE sowie der parlamentarischen Versammlungen der OSZE, des Europarats und der NATO bescheinigte, dass die Wahlen zwar prozedural ordentlich organisiert waren, monierte jedoch zahlreiche Unregelmäßigkeiten wie Hinweise auf Einschüchterung der Wähler, Verletzungen des Wahlgeheimnisses und fehlende Markierung der Finger mit unter UV-Licht sichtbarer Spezialtinte. Bemerkenswert ist, dass die Wahlen im Bericht nicht als fair und frei bezeichnet wurden. Georgische Wahlbeobachter und oppositionelle Medien sprechen von einer lang vorbereiteten und nahezu „generalstabsähnlich“ durchgeführten Operation, bei der es der Regierung und der von ihr kontrollierten Zentralen Wahlkommission nicht vorrangig darum ging, die Wahlen durchzuführen, sondern sie massiv zu manipulieren.

Osteuropa: Wie lief diese Manipulation ab und wie vielfältig war die Wahlbeeinflussung?

Zaal Andronikashvili: Zuerst sind da die unvereinbarten, kurzfristigen Gesetzesänderungen, die Manipulationen ermöglicht haben. So änderte der Georgische Traum etwa die Regeln zur Ernennung von Wahlhelfern. Im Gegensatz zu früher wurde es dadurch möglich, Wahlhelferpositionen nicht erst am Wahltag zu verlosen, sondern sie bereits eine Woche vor der Wahl durch die Wahlkommission zu verteilen. Zudem hatte die Regierung illegalen Zugriff auf personenbezogene Daten. Der ehemalige georgische Premierminister Giorgi Gakharia, ein ehemaliger Anhänger Bidzina Ivanishvilis, der 2021 in die Opposition ging und klare Vorstellungen über die Möglichkeiten des Staates haben muss, geht davon aus, dass die Regierung Zugriff auf alle persönlichen Daten inklusive der medizinischen und finanziellen hatte. Sie wusste daher ziemlich genau, welche Personen nicht zur Wahl gehen würden. Sie konnte zwei Gruppen klar bestimmen: Erstens Menschen, die ausgewandert und lange Zeit nicht in Georgien gewesen sind. Und zweitens jene, die in Georgien überredet worden sind, nicht wählen zu gehen – im Austausch für kleinere oder größere Zugeständnisse, wie Geld oder die Einstellung von Strafverfahren. Einem Teil dieser Menschen wurden Personalausweise im Vorfeld der Wahlen abgenommen. Die Regierung konnte so Datenbanken mit persönlichen Identifikationsnummern dieser Nichtwähler anlegen. Mithilfe dieser Datenbanken konnten andere Personen – in den meisten Fällen dieselbe Person mehrfach – an verschiedenen Wahllokalen für die Partei Georgischer Traum stimmen. Die Personen, die mehrfach in unterschiedlichen Wahllokalen wählten, taten dies nicht mit der eigenen Personalidentifikationsnummer – dies geht nur einmal – sondern mit den Identifikationsnummern anderer Personen. Ein unabhängiger Wahlhelfer hätte diese „Karussell“-Manöver sofort aufgedeckt. Ein korrumpierter Wahlhelfer ließ sie hingegen zu. Die Listen und Datenbanken wurden zudem an von der Wahlkommission ernannte Wahlhelfer in den Wahllokalen weitergegeben, sie wussten folglich, wer unter falschem Namen wählen würde. Das Verfahren fiel dennoch in einigen Fällen auf – diese sind dokumentiert.

Osteuropa: Wie wurde noch manipuliert?

Zaal Andronikashvili: Verfälschend wirkte ebenso, dass Regierungspartei-Funktionären und kleinkriminellen Elementen erlaubt wurde, als angebliche Wahlbeobachter zu arbeiten. Sie kooperierten mit Wahlhelfern, um echte Wahlbeobachter an der Aufdeckung von Fälschungen zu hindern. In vielen Fällen kam es zudem bis in die Wahlkabinen zur Kontrolle der Stimmabgabe durch unbefugte Personen. Auch Bedrohungen von Wählern in der Nähe der Wahllokale durch Kleinkriminelle wurden registriert. Direkte Wählerbestechung trug ebenfalls zur Wahlfälschung bei. Bei einer Befragung des Fernsehsenders „Mtavari“ im Bezirk Akhalkalaki gaben Wähler etwa freimütig zu, für die Wahlen Geld angenommen zu haben. Ein weiteres Mittel der Wahlmanipultion waren die sogenannten Koordinationszentren. Sie sollten den Prozess in jedem Wahllokal überwachen und gewissermaßen als Vermittler zwischen Wahllokal und Partei fungierten. So konnten Sie der Partei in Echtzeit Informationen übermitteln und bei Bedarf die Ergebnisse im gewünschten Sinne anpassen. Auf diese Weise wurden vermutlich 300 000 Stimmen manipuliert. Die Zentrale Wahlkommission verstieß so – mindestens durch Fahrlässigkeit – massiv gegen das Prinzip der geheimen Wahl. Auch außerhalb Georgiens fand Unterdrückung der Wählerschaft statt. Die Regierung im Ausland eröffnete schlicht zu wenige Wahllokale. So wurden viele stimmberechtigte Auslandsgeorgier von den Wahlen abgehalten. Dabei haben etwa die moldauischen Auslandswähler für den Wahlsieg der proeuropäischen Präsidentin Maia Sandu eine entscheidende Rolle gespielt. Zum Vergleich: Georgien richtete bei einer größeren Wählerschaft 60 Wahllokale im Ausland ein, Moldau 228.

Osteuropa: Und diese Kombination der unterschiedlichen Manipulationen ist dann für die kritischen 15 Prozent der Stimmen verantwortlich.

Zaal Andronikashvili: Politikwissenschaftler Hans Gutbrod hat die Folgen unterschiedlicher Manipulationen berechnet. Ihre Kombination legt nahe, dass die internationalen Hochrechnungen näher am Willen des georgischen Volkes sind als die Ergebnisse der zentralen Wahlkommission. Ein Teil dieser Vorwürfe findet sich auch in den Berichten internationaler Wahlbeobachter. Wenn dies nachgewiesen wird, wäre es die größte Wahlmanipulation in der georgischen Geschichte.

Osteuropa: Der Georgische Traum wäre auch ohne diese Fälschung klar stärkste Kraft. Warum hat die Partei diese zehn bis 15 Prozent unbedingt gebraucht?

Zaal Andronikashvili: Der Georgische Traum wäre zwar mit über 40 % die stärkste Kraft im Parlament gewesen, hätte jedoch keine Regierung bilden können. Die oppositionelle Allianz aus vier Parteien beziehungsweise Parteibündnissen hätte die Regierungsbildung übernehmen können. Dies hätte für Ivanishvili einen Machtverlust bedeutet.

Osteuropa: Auf Ersuchen der Zentralen Wahlkommission hatte die Generalstaatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Wahlbetrugs eingeleitet. 14 Prozent der Stimmen bzw. fünf Wahllokale wurden daraufhin neu ausgezählt. Wie kann es sein, dass die Neuauszählung ohne Folgen abgeschlossen wurde?

Zaal Andronikashvili: Das ist nicht ganz korrekt. Die Staatsanwaltschaft hat die Stimmen nicht im Zusammenhang mit der Ermittlung der Generalstaatsanwaltschaft neu ausgezählt. Die stichprobenartige Neuauszählung ist eine Routineprozedur, die gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Wahlkommission ist verpflichtet, sie durchzuführen. Auch in der entsprechenden Mitteilung der Zentralen Wahlkommission wird kein Bezug zu dem Ermittlungsverfahren hergestellt, dagegen wird auf die georgische Gesetzgebung verwiesen. Die Neuauszählung hat die Ergebnisse nur minimal korrigiert. Die oben beschriebenen angeprangerten Wahlfälschungen bzw. Wahlmanipulationen hätten durch die Neuauszählung ohnehin nicht bzw. kaum aufgedeckt werden können.

Osteuropa: Acht von zehn Georgiern befürworten Umfragen zufolge den Weg in die Europäische Union. Wie erklären Sie, dass der Georgische Traum, der etwa mit dem „Agentengesetz“ – von der Zivilgesellschaft auch als „russisches Gesetz“ bezeichnet – eine extreme Polarisierung betrieben hat, trotzdem die meisten Stimmen erhalten hat?

Zaal Andronikashvili: Man muss der Antwort vorausschicken, dass in Georgien kein normaler politischer Wettbewerb stattfindet. Er wurde vom Georgischen Traum in jeder Hinsicht dominiert, auch mit den Mitteln, die nicht rechtstaatlich sind oder sich zumindest in der rechtlichen Grauzone befinden. Es muss deutlich gesagt werden, dass der Georgische Traum den georgischen Staat nahezu vollständig gekapert und seine Ressourcen in den Dienst der eigenen Machtsicherung gestellt hat. Das Regime kontrolliert Exekutive, Legislative und Judikative, sowie große Teile der Wirtschaft und Medien. Ivanishvili vereint mit einem Vermögen, das etwa einem Fünftel der georgischen Wertschöpfung entspricht, wirtschaftliche und politische Macht in Personalunion. Ivanishvili kontrolliert nicht nur 40 % der elektronischen Medien, vor allem das Fernsehen. Das Regime betreibt auch Tausende von Fake-News-Plattformen und Trollfabriken im Land, die Diffamierungskampagnen gegen Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft führen.

Dennoch steht fest, dass diese Partei 40 % der Stimmen erhalten hat. Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. Einflussnahme erfolgte etwa über die Nutzung administrativer Ressourcen, etwa Druck auf Staatsbeamte und Angestellte im öffentlichen Dienst sowie deren Familien. Einschüchterung und Stimmenkauf schon vor dem Wahltag waren weitere wichtige Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Ein entscheidender Faktor ist zudem die aggressive Propagandamaschinerie. Die Kriegsangst wurde geschürt und dabei gezielt mit dem Westen in Verbindung gebracht, der angeblich eine zweite Front des Krieges gegen Russland in Georgien eröffnen wolle. Ebenso wurde Anti-LGBT-Propaganda verbreitet, die ebenfalls mit dem Westen assoziiert wurde und die Botschaft beinhaltete, dass der Westen die traditionellen Familienwerte und Identitäten in Georgien zerstören und die Georgisch-Orthodoxe Kirche angreifen wolle.

Osteuropa: Die Polarisierung der Gesellschaft war bei den Wahlen also ein Vorteil für die Partei der Macht.

Zaal Andronikashvili: Genau, die Stimmen, die der Georgische Traum erhält, bekommt er nicht trotz, sondern gerade wegen dieser extremen Polarisierung. Die Opposition und die Zivilgesellschaft wurden gehetzt, dämonisiert, schikaniert und sowohl verbal als auch physisch bedroht. Neben der Propaganda spielen auch wirtschaftliche und machtpolitische Faktoren eine Rolle. In den ländlichen Gegenden genießt der Georgische Traum größere Zustimmung als in den Großstädten. Die Bevölkerung dort ist ärmer und daher stärker den Macht- und Propagandamechanismen ausgesetzt als die Stadtbevölkerung.

Osteuropa: Wodurch kommt das?

Zaal Andronikashvili: Das hat mehrere Gründe: Der Einfluss der lokalen Administration, der Polizei und der lokalen Wirtschaftsbosse, die am Weiterregieren der regierenden Partei interessiert sind, ist in der ländlichen Bevölkerung viel unmittelbarer als in einer Großstadt. Man kennt sich persönlich, die Druckmittel sind größer. Der Arbeitgeber ist meist der Staat, der seine Mitarbeiter unter Kontrolle hat. Es gibt auch weniger zivilgesellschaftliche Elemente, die diesen Einfluss abfedern können. Teilweise können nur regierungstreue Sender empfangen werden. Darüber hinaus besteht in Regionen, wo Sprachminderheiten überwiegen, eine Sprachbarriere, die von georgisch-oppositionellen Quellen abschneidet. Die Zivilgesellschaft ist dort auch kaum präsent, sodass die Auswirkungen des „Agentengesetzes“ nicht unmittelbar spürbar sind. In vielen ländlichen Regionen hat der Georgische Traum dadurch etwa 80 % der Stimmen erhalten. Zum Vergleich: In den Wahllokalen im Ausland war das Verhältnis umgekehrt, zugunsten der Opposition. Die Unterstützung für den Georgischen Traum wird gelegentlich auch mit Wählergruppen in Verbindung gebracht, die zu den Verlierern der postsowjetischen Transformation zählen. Diese Menschen sehen in der Niederlage der prowestlichen liberalen Elite und der aufkommenden Mittelschicht eine Art Revanche. Allerdings müssten sie hierfür eine Allianz eingehen, die ihnen außer einem symbolischen Sieg und kurzzeitigen finanziellen Zuwendungen nichts zu bieten hat und im Gegenteil zu ihrer weiteren Verarmung und Ausbeutung beiträgt.

Osteuropa: Welche waren die größten Fehler und Irrtümer der Oppositionsparteien? Wieso hat etwa die Ende Mai von der Staatspräsidenten Salome Surabischwili verkündete „Georgische Charta“ nicht stärker verfangen?

Zaal Andronikashvili: Diese Frage impliziert wiederum eine normale Wahlkampfsituation. Die politische Opposition agierte dagegen in einer Situation des unlauteren Wettbewerbs und wurde von vorne herein benachteiligt. In den Umfragen und selbst in den Hochrechnungen lag sie klar vorne. Wenn wir den Ausgang der Wahlen als eine Niederlage der Opposition bezeichnen, impliziert das schon, dass wir die Wahlen als frei und fair anerkennen und gerade das trifft nicht zu. Dennoch kann man durchaus von den vielfältigen Fehlern der Opposition sprechen. Ihre hohen Werte waren nicht das Resultat ihrer Beliebtheit oder Zustimmung beim georgischen Wähler. Sie sind primär darauf zurückzuführen, dass viele die Wahl als eine Abstimmung für die europäische Zukunft Georgiens betrachteten. Zwar gelang es der Staatspräsidentin Salome Surabischwili, alle Parteien auf gemeinsame Ziele einzuschwören. Doch es fehlten der Opposition – auch aufgrund von Personalfragen – der Wille zur Kooperation und die Fähigkeit zur Koordination. Nicht zuletzt aufgrund dieser Koordinationsschwierigkeiten agierte die Opposition ausschließlich reaktiv und hinkte der Regierungspartei immer mindestens einen Schritt hinterher. Die Opposition ging kaum auf die Propagandanarrative des Georgischen Traums ein. Insbesondere gelang es dem Georgischen Traum, die von ihm geschürte Kriegsangst zu instrumentalisieren.

Osteuropa: Wieso konnte die Opposition die proeuropäische Stimmung in der georgischen Bevölkerung also nicht klarer für sich nutzen?

Zaal Andronikashvili: Die Opposition versäumte es, vielen Wählerinnen und Wählern zu verdeutlichen, dass gerade die EU langfristigen und sicheren Frieden für Georgien bedeuten könnte. Es gelang der Opposition nicht, die 80-prozentige Zustimmung zur EU vollständig auszunutzen und in Stimmen gegen das Ivanishvili-Regime umzuwandeln. Sie versäumte es, die latenten Euroskeptiker anzusprechen und ihnen die Vorteile der europäischen Integration zu verdeutlichen. Die Opposition hat es auch nicht hinbekommen, auf die existenziellen und sozialen Sorgen der georgischen Wähler einzugehen. Gerade in sozial schwachen Regionen, in denen der Georgische Traum mehr Zustimmung erhielt, konnten die Oppositionsparteien den Menschen keine klare Zukunftsvision jenseits der europäischen Perspektive bieten. Auch in den überwiegend von armenischen und aserbaidschanischen Minderheiten bewohnten Gebieten, die traditionell die amtierende Regierung unterstützen, versäumte es die Opposition, diesen Gruppen innerhalb der eigenen Reihen stärkere Sichtbarkeit zu verleihen. Schließlich entwickelte sie keine Gegenstrategie zur Manipulationsmaschinerie des Regimes. Auch für die Zeit nach den Wahlen scheint die Opposition keinen klaren Plan zu haben, was die Wähler enttäuscht und zum Abebben der Proteste beiträgt.

Osteuropa: Wie hat sich Russland während des Wahlkampfs und in den Tagen nach dem Urnengang verhalten?

Zaal Andronikashvili: Russland hat den Ausgang der Wahlen begrüßt, obwohl zunächst keine offiziellen Glückwünsche aus Moskau kamen. Dennoch gab es inoffiziell viel Lob. In den Wahlkampf direkt mischte sich Russland kaum ein. Das Land verfolgt in Georgien seine eigene Agenda. Während die Westintegration Georgiens durch diese Wahl mittelfristig gestoppt zu sein scheint, hat Russland bereits weitere Forderungen formuliert: Dazu gehört die „Grenzberichtigung“ zu Abchasien und Südossetien, was einer De-facto-Anerkennung dieser Regionen gleichkäme. Zudem hat Russland den Artikel in der georgischen Verfassung kritisiert, der die EU- und NATO-Integration verankert. Der Georgische Traum verfügt jedoch nicht über die erforderliche, ursprünglich angestrebte und angekündigte Zwei-Drittel-Mehrheit, um diesen Artikel zu ändern. Russland beanstandet außerdem den jährlichen Resolutionsantrag, den Georgien bei der UNO-Generalversammlung einbringt. Er fordert das Rückkehrrecht aller Binnenvertriebenen, Flüchtlinge und ihrer Nachkommen in ihre Heimatorte in ganz Georgien. Diese Resolution ist ein Teil der georgischen Anstrengungen, die Anerkennung der territorialen Integrität international ständig zu bekräftigen.

Osteuropa: Es sieht also so aus, als habe der Georgische Traum sich durch Wahlfälschung erneut die absolute Mehrheit gesichert. Welche Schritte plant die Partei nun in den kommenden vier Jahren?

Zaal Andronikashvili: Der Georgische Traum ist der verlängerte Arm Ivanishvilis. Ohne ihn hat die Partei keinen Bestand. Was die Partei plant, ist nicht nur mit Ivanishvili abgestimmt, sondern vielmehr sein eigener Plan. Teile dieses Plans wurden angekündigt, andere bereits umgesetzt.

Sollten die Gesetze über die „Transparenz ausländischen Einflusses“ (Agentengesetz) und über den „Schutz der Familienwerte und Minderjährigen“ (Anti-LGBTQ-Gesetz) in Kraft bleiben, eröffnen sie die Möglichkeit, dem zivilgesellschaftlichen NGO-Sektor den Geldhahn zuzudrehen sowie de facto eine Zensur einzuführen. Darüber hinaus kündigte der Georgische Traum ein Verbot oppositioneller Parteien und juristische Schritte gegen die ehemalige Regierungspartei „Vereinigte Nationale Bewegung“ an. Premierminister Irakli Kobakhidze hat im Mai außerdem eine Reformen im Bildungswesen angekündigt. Er beschuldigt die Vorgängerregierung „antinationale“ Lehrbücher eingeführt zu haben. Er sprach von einem „düsteren Gesamtbild an der führenden Staatlichen Universität Tiflis“. Die Professoren seien nach politischen Kriterien ausgesucht, ihnen fehle die nötige Qualifikation, das gesamte Hochschulsystem breche zusammen, so Kobakhidze. Es ist also mit einem Angriff auf die Universitäten zu rechnen, die sich bisher dem Einfluss des Georgischen Traums noch entziehen konnten. Ich rechne mit Säuberungswellen. Die Ilia-Universität – meine Hochschule – hat etwa trotz exzellenter Noten nur eine Aufschub-Autorisierung für ein Jahr bekommen. Es ist zu befürchten, dass sie gar keine Autorisierung mehr bekommt, stark unter Druck gesetzt oder gar aufgelöst wird.

Zu erwarten ist auch rechtliche Verfolgung von Oppositionellen und der Zivilgesellschaft, Diffamierungs- und Propagandakampagnen, Schikanen und körperliche Gewalt, wie sie im Mai 2024 stattgefunden haben. Es wird allerdings auch gemutmaßt, dass Ivanishvili das „Agentengesetz“ und das „Anti-LGBTQ-Gesetz“ zurücknehmen könnte – als Gegenleistung für eine Anerkennung der Wahl durch die EU-Staaten. Grundsätzlich wird das Regime darauf hinarbeiten, seine Machtbasis weiter zu festigen und alle verbliebenen Freiräume zu besetzen.

Osteuropa: Wie dürfte die Rolle des Schatten-Machthabers Bidzina Ivanishvili in der nächsten Legislatur aussehen?

Zaal Andronikashvili: Ivanishvili selbst hält sich gern im Hintergrund und mischt sich nur in für ihn wichtige Angelegenheiten ein. Wird die Situation für die Partei jedoch kritisch – wie im Wahljahr 2024 – zeigt er sich vermehrt in der Öffentlichkeit, um zu signalisieren, dass er hinter der Partei steht. Welche Rolle er in den nächsten vier Jahren spielen wird, hängt davon ab, inwieweit die Pläne des Regimes umgesetzt werden können.

Osteuropa: Mitte Mai sagten Sie im Gespräch mit Osteuropa, dass es am Ende auch um die Existenz Georgiens als unabhängiger Staat geht. Was meinten Sie damit und inwiefern verschlimmert der Wahlausgang die Situation?

Zaal Andronikashvili: Es sind innen- und außenpolitische Faktoren, die jedoch miteinander verknüpft sind. Einerseits stellt Russland eine existentielle Bedrohung für Georgien dar. Russland kämpft um das sowjetische Erbe und um den machtpolitischen Status einer Weltmacht mit privilegierten Einflusszonen, zu denen primär die ehemaligen Sowjetrepubliken gehören. Georgien, die Ukraine, Moldova und Armenien sind unterschiedliche Schauplätze dieses Kampfes. Sollte der Begriff „existentielle Bedrohung“ übertrieben erscheinen, genügt ein Blick auf die Ukraine: Dort geht es buchstäblich um das Überleben des ukrainischen Staates und Volkes. Diese Bedrohung besteht auch für Georgien und Moldau. Zudem sind Georgien und Moldau deutlich schwächer als die Ukraine und können nicht den Widerstand leisten, den die Ukraine geleistet hat und weiterhin leistet. Der einzige Schutz Georgiens gegenüber Russland ist die EU- und NATO-Integration. Mit dem Wahlsieg Ivanishvilis wird genau diese Integration jedoch ausgesetzt. Das bedeutet, dass Georgien Russland schutzlos gegenübersteht. Selbst wenn Russland Georgien nicht militärisch angreift und besetzt, wird es das Land dauerhaft schwächen und international isolieren.

Während die EU-Integration für Georgien eine dauerhafte Sicherung der demokratischen Grundordnung und der Rechtstaatlichkeit bedeutet, wird ein autoritäres Georgien ohne demokratische Institutionen, ohne Zivilgesellschaft und ohne Freiheit in Kunst und Wissenschaft zunehmend verfallen. Es wird sich in eine „Bananenrepublik“ verwandeln – eine Gesellschaft mit einer kleinen Gruppe von Superreichen und einer extrem armen, ausgebeuteten Bevölkerung. Das ist nicht die Zukunft, die ich mir für Georgien wünsche.

Osteuropa: Was hat die EU in den vergangenen Monaten versäumt?

Zaal Andronikashvili: Der EU fehlt eine zusammenhängende Vision des geopolitischen Raums im Osten Europas. Die Russlandpolitik und die Östliche Partnerschaft wurden getrennt statt einheitlich betrachtet. Es wurde geglaubt, dass man eine Russlandpolitik über die Köpfe der Länder der Östlichen Partnerschaft hinweg betreiben könne. Diese Sichtweise änderte sich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2024. Ein Ergebnis dieses Gesinnungswandels war die erneute Bereitschaft zur Osterweiterung. Doch auch in den vergangenen Monaten wurde deutlich, dass die EU keinen klaren Plan für unterschiedliche Entwicklungsszenarien hat und von Voraussetzungen ausgeht, die heute, im Gegensatz zu vor zehn Jahren, nicht mehr gültig sind.

Osteuropa: Und konkret in Georgien?

Zaal Andronikashvili: Die EU hat in Georgien so agiert, als setze sie den Beitrittswunsch der georgischen Regierung als selbstverständlich voraus und als führe dies automatisch zu demokratischen Reformen. Lange Zeit war diese Voraussetzung gegeben, doch die EU hat die Transformation des Ivanishvili-Regimes verpasst. Sie ist Deals eingegangen, die der Georgische Traum nicht einhielt. Der Georgische Traum nutzte sie aus, um seine machtpolitische Position zu festigen, ohne tatsächlich die versprochenen Reformen umzusetzen (wie etwa das Charles-Michel-Abkommen). Das Ivanishvili-Regime eskalierte, um die darauffolgenden Entspannungen als Zugeständnisse und Fortschritte zu verkaufen ­Brüssel reagierte nur. Die EU hätte in Georgien eine stärkere Präsenz zeigen und die gesamte Bandbreite ihrer wirtschafts- und machtpolitischen Instrumente nutzen können, um die proeuropäischen Kräfte zu unterstützen. Stattdessen betrieb sie in Georgien eine schwache, eher symbolische und rhetorische Politik. Es fehlte an hochrangigen Besuchen vor und nach den Wahlen, die deutlich hätten zeigen können, wo die EU Georgien sehen möchte. Stattdessen reiste der ungarische Ministerpräsident Orbán direkt nach der Wahl nach Georgien und gratulierte dem Georgischen Traum zum Wahlsieg. Die EU hat sich mit den Erklärungen begnügt, dass Orbán nicht die EU vertrete. Wie der Politikwissenschaftler Thornike Gordadze formuliert: „Wenn Europa seine Werte und seinen Einfluss schützen möchte, muss es als eine Macht auftreten, mit der gerechnet werden muss.“

Osteuropa: Was bedeutet der Wahlausgang für den Westen, insbesondere für die EU? Welche Anreize bieten Europa und die USA noch und welche Druckmittel bleiben, um der immer stärkeren Hinwendung Georgiens zu Russland und China entgegenzuwirken?

Zaal Andronikashvili: Russland hat mit dem Ivanishvili-Regime seine Ziele erreicht, die es in der Ukraine mit Krieg und in Moldova mit einem hybriden Krieg zu erreichen versucht: langfristig diese Länder von der EU- und vor allem NATO-Integration abzuschneiden und einen ausschließlichen politischen Einfluss auf sie auszuüben. Sowohl realpolitisch als auch symbolisch ist der Wahlausgang in Georgien ein Sieg für Russland in seinem Machtkampf gegen den Westen.

Mit dem Ivanishvili-Regime liegt die EU-Integration Georgiens mittelfristig auf Eis. Georgien ist ein Schlüsselland im Kaukasus. Das bedeutet, dass ein Georgien, das zurück in die russische Einflusssphäre fällt, auch die EU-Orientierung Armeniens erschwert. Die EU-Positionen im südlichen Kaukasus und im Schwarzmeerraum werden dadurch erheblich geschwächt.

Das Gespräch führte Felix Eick am 15.11.2024.

Zaal Andronikashvili (1973), Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur und Kulturforschung, Berlin