Titelbild Osteuropa 9-10/2022

Aus Osteuropa 9-10/2022

Georgischer Alptraum
Über die autoritäre Entwicklung in Tbilissi

Zaal Andronikashvili

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Abstract in English

Abstract

Georgiens herrschende Partei führt das Wort „Traum“ im Namen, doch ihre Politik bereitet allen demokratisch gesinnten Kräften im Land Alpdrücken. Hinter der Partei und der Regierung steht der Oligarch Bidzina Ivanishvili, der ein autoritäres Regime errichtet hat und Georgien in die Arme Russlands treibt. Die Beziehungen zur Ukraine haben sich massiv verschlechtert. Angeblich geht es der georgischen Regierung darum, Moskau nicht zu provozieren, tatsächlich ist Machtsicherung ihr einziges Ziel. Die EU scheint vor einem Dilemma zu stehen: demokratische Standards oder geopolitische Interessen. Eine klare und kluge Politik kann beides erreichen, mit Unentschlossenheit verspielt die EU beides. Dies ist umso gefährlicher, als Russland sich in Georgien wie in vielen anderen Staaten der Welt als Helfer im Kampf gegen koloniale Unterdrückung darstellt. Sein wahres Gesicht aber zeigt das Putin-Regime in der Ukraine.

(Osteuropa 9-10/2022, S. 193–200)

Volltext

Osteuropa: Herr Andronikashvili, Georgien galt in den ersten Wochen nach Russlands Überfall auf die Ukraine als mögliches nächstes Opfer der Moskauer Aggression. Seitdem ist das Land aus dem Blickfeld geraten. Wie ist die innenpolitische Lage, das Verhältnis von Regierung und Opposition, die Situation der Zivilgesellschaft?

Zaal Andronikashvili: Georgien ist tief gespalten. Und es gibt nicht nur eine Kluft. Zum einen ist da die extreme Polarisierung zwischen Regierung und Opposition. Zum anderen herrschen aber auch große Differenzen zwischen der gesamten politischen Klasse und der westlich orientierten Zivilgesellschaft.

Spätestens seit dem Jahr 2020 hat Georgien massive Rückschritte in Sachen Demokratie gemacht. Die Parlamentswahlen im Herbst 2020 waren zwar nach Einschätzung der OSZE frei, fanden aber unter erheblichem Einsatz administrativer Ressourcen statt. Das Problem ist, dass das Urteil der OSZE über den Verlauf der eigentlichen Abstimmung praktisch als Freibrief gilt. Dass die Wahlbeobachter in ihren Berichten auch darauf aufmerksam machen, dass das Wahlgesetz zu strukturell ungleichen Bedingungen führt und das Ivanishvili-Regime den Wahlkampf mit absolut unlauteren Mitteln geführt hat, ging unter.

Tatsächlich aber ist die Grenze zwischen der seit 2012 regierenden Partei Georgischer Traum des Oligarchen Bidzina Ivanishvili und den staatlichen Behörden bei den Wahlen komplett verschwommen. Trotz einer erst nach Straßenprotesten und unter Druck der Europäischen Union und der USA im Juni 2020 verabschiedeten Wahlrechtsänderung, die die Zahl der nach Mehrheitswahl gewählten Abgeordneten auf 30 von 150 begrenzte, errang der Georgische Traum erneut eine absolute Mehrheit der Mandate. Ivanishvili zog sich dann Anfang 2021 angeblich aus der Politik zurück, wie er es angeblich in den Jahren 2013–2018 schon einmal getan hatte. Tatsächlich stellt er weiter die Weichen der georgischen Innen- und Außenpolitik. Deswegen sollte man nicht von der Regierung Gharibashvili sprechen, die nur formal die Geschäfte führt, sondern vom Ivanishvili-Regime.

Osteuropa: Was ist in den vergangenen zwei Jahren konkret geschehen?

Die politische Opposition und die kritische Zivilgesellschaft sind einer permanenten Dämonisierung durch Ivanishvilis Propagandamedien ausgesetzt. Ivanishvili steht hinter dem größten Fernsehsender Imedi, hinter dem Kanal Rustavi 2 sowie hinter dem russlandfreundlichen Propagandasender Post-TV, während Medien, die nicht dem Regime nahestehen, mit Schikanen und Finanzierungsproblemen kämpfen. Der Intendant des größten oppositionellen Fernsehsenders sitzt im Gefängnis und dies hat nicht zuletzt politische Gründe. Seit Oktober 2021 sitzt auch der ehemalige Präsident Mikheil Saakashvili in Haft. Ganz unabhängig von der Frage, ob es berechtigte Haftgründe gibt, haben die Umstände seiner Inhaftierung die Parlamentarische Versammlung des Europarats dazu veranlasst, ihn in einer Resolution vom Oktober 2022 als politischen Gefangenen zu bezeichnen und seine Freilassung zu fordern.

In vielen Bereichen – von der Außenpolitik bis zur Kultur – hat eine Gleichschaltung stattgefunden. Unabhängige Profis mit fachlicher Kompetenz wurden entlassen und durch gefügige Parteikader ersetzt. Immer wenn sich Protest regt, werden die Demonstranten von rechten Schlägergruppen schikaniert und von der Ivanishvili-Justiz zu hohen Geldstrafen verurteilt. Gleichzeitig bleiben die Reformen aus, die für die offiziell angestrebte Mitgliedschaft in der EU und der NATO notwendig wären. Denn sie würden Ivanishvilis uneingeschränkte Machtposition gefährden.

Osteuropa: Wie würden Sie vor diesem Hintergrund die politische Ordnung in Georgien charakterisieren? Wie und in welchen Phasen hat sie sich in den vergangenen 30 Jahren entwickelt – und welche Entwicklungspfade sehen Sie?

Andronikashvili: In Georgien ist wie in allen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – mit Ausnahme der baltischen Staaten ‑ nach dem Zusammenbruch der UdSSR keine Neugründung des Staats gelungen. Georgien wurde zwar zu einem unabhängigen Staat, aber die Herrschaftsstruktur blieb unverändert. Es gibt eine demokratische Fassade und formelle Gewaltenteilung – tatsächlich aber wurde das Land in den vergangenen 30 Jahren von wechselnden Einparteien-Regimen beherrscht, die sich alle auf exzessive Polizeigewalt stützten. Die jeweils herrschende Partei dominierte nicht nur die Exekutive, sondern auch die Legislative, die Judikative sowie große Teile der Wirtschaft und der Medien. Ob es Gamsakhurdias Runder Tisch – Unabhängiges Georgien Anfang der 1990er Jahre war, Shevardnadzes Bürgerunion in den Jahren 1992–2003, Saakashvilis Nationale Bewegung von 2003–2012 oder Ivanishvilis Georgischer Traum seitdem: Obwohl sie sich wechselseitig bekämpften und unterschiedliche politische Programme hatten, war die Machtstruktur, die sie errichteten, stets die gleiche.

Bei allen Problemen hat es unter der Herrschaft der ersten drei Regimes jedoch stets auch Fortschritte gegeben: in Gamsakhurdias Zeit fällt die staatliche Unabhängigkeit, in die Shevardnadze-Ära die Verabschiedung einer neuen Verfassung sowie die innenpolitische Stabilisierung nach dem Bürgerkrieg, eine Stärkung der Währung und eine außenpolitische Verankerung Georgiens auf der internationalen Bühne. Saakashvili hat zwar ebenfalls die Macht monopolisiert, insbesondere in seiner zweiten Amtszeit. Aber die Korruptionsbekämpfung, die Polizeireform und die signifikante Verbesserung der Bürgerdienste – all dies steht für eine schnelle Modernisierung des Landes, für die er gesorgt hat. Hinzu kam die starke Bindung an die USA.

Kurzum, sie alle waren primär Politiker und hatten ein politisches Programm, ganz gleich wie man dieses beurteilt. Ivanishvili ist dagegen ein Oligarch. Sein Vermögen hat er unter intransparenten Verhältnissen im Russland der 1990er Jahre gemacht. Er stellt nachweisbar seine privaten Interessen stets höher als die Interessen der Bürgerinnen und Bürger oder des Staates. Georgien wird seit 2012 von oligarchischem Kapital kontrolliert. Ivanishvilis Privatvermögen umfasst ein Drittel des georgischen Bruttoinlandsprodukts. Er hat den Staat gekapert und Georgien in eine Oligarchie, genauer: in eine Alleinherrschaft unter einem Oligarchen verwandelt.

Osteuropa: Was bedeutet das für die außenpolitische Orientierung des Landes?

Andronikashvili: Der Charakter der politischen Ordnung und die außenpolitische Orientierung hängen in Georgien wie in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sehr eng zusammen. Man sieht das sehr deutlich in Belarus: Je autoritärer, ja totalitärer das Regime herrscht, desto enger lehnt es sich an Russland an. In Georgien haben Shevardnadze und Saakashvili bei allen Problemen und Schwankungen das Land grundsätzlich gen Westen ausgerichtet. Und dies war nicht einfach nur ökonomisches oder sicherheitspolitisches Kalkül, sondern Ausdruck eines Willens zum Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats, einer politischen Ordnung also, die sich sehr stark von der in Russland oder dem ebenfalls nicht weit von Georgien entfernten Iran unterscheidet.

An dieser Orientierung, die seit 30 Jahren von der absoluten Mehrheit der Georgierinnen und Georgier unterstützt wurde, rüttelt Ivanishvili – und man sieht es in der Außenpolitik. Bereits 2013 erklärte er, dass die armenische Außenpolitik mit ihrer Ausrichtung sowohl auf den Westen als auch auf Russland für Georgien ein gutes Beispiel sei. Was er nicht sagte, ist, dass Armenien mit dieser Politik immer mehr in Abhängigkeit von Russland geraten ist.

Unter dem Ivanishvili-Regime sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland seit 2012 konsequent ausgebaut worden. Auch die politischen Beziehungen mit Moskau wollte Ivanishvili vertiefen. Doch als im Juni 2019 ein Abgeordneter der russländischen Staatsduma, Sergej Gavrilov von der Kommunistischen Partei, in seiner Funktion als Präsident der Orthodoxen Interparlamentarischen Versammlung eine Sitzung dieser Organisation im georgischen Parlament in russischer Sprache und vom Platz des Parlamentsvorsitzenden aus leitete, war dies ein so klares Anzeichen für die strukturellen Verschiebungen, dass es zu spontanen Massenprotesten kam. Die Proteste wurden mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt niedergeschlagen, zugleich traten aber Parlaments­präsident Irakli Kobakhidze vom Georgischen Traum sowie der Organisator des Treffens, Zakaria Kutsnashvili, ebenfalls von Ivanishvilis Partei, zurück. Ebenso versprach die herrschende Partei als Zugeständnis, das Wahlgesetz zu reformieren, das klar zum Vorteil der herrschenden Partei war. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Es gab zwar eine Änderung des Wahlgesetzes, aber nach einer inszenierten innerparteilichen Revolte beim Georgischen Traum wurde statt der versprochenen Abschaffung aller Ein-Mann-Wahlkreise die Zahl der Direktkandidaten nur reduziert. Statt einer Justizreform, die zu mehr Unabhängigkeit der Richter führen sollte, wurde die Justiz vollständig unterworfen. Seitdem befindet sich Georgien in einer politischen Dauerkrise. Nicht einmal die persönlichen Vermittlungsversuche, die der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel im Sommer 2021 unternommen hat, haben sie beenden können.

Das bittere Ergebnis dieser Politik ist, dass Georgien – einst Vorreiter für demokratische Reformen im postsowjetischen Raum – zwar unmittelbar nach Russlands Überfall auf die Ukraine einen Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union gestellt hat, der Europäische Rat aber im Juni 2022 Georgien anders als der Ukraine und Moldova nicht den Status eines Kandidaten verliehen hat. Dies könne, so die Entscheidung des Europäischen Rats, erst geschehen, wenn Georgien eine Reihe von Reformen in den Bereichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit umsetzt. Es ist mehr als fraglich, ob das Ivanishvili-Regime dies tun wird.

Osteuropa: Wie hat Georgien in den letzten Monaten gegenüber Russland und der Ukraine agiert?

Andronikashvili: Das Regime versucht auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Einerseits stimmt es allen Resolutionen gegen Russland zu, etwa bei der Abstimmung über die Verurteilung des Angriffs in der UNO-Vollversammlung im Oktober. Andererseits sieht der Georgische Traum schon lange eine Deeskalationspolitik gegenüber Moskau als sein Markenzeichen. Das hat seine Wurzeln im Augustkrieg von 2008. Sowohl die Regierung als auch Staatspräsidentin Salome Zurabishvili vertreten die Moskauer Sicht, dass der damalige Präsident Saakashvili den Krieg ausgelöst habe. Dass die Erzählung, Moskau sei provoziert worden, nicht stimmt, hat man nach Russlands Einmarsch auf der Krim und verdeckt im Donbass 2014 und spätestens nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 auch in den westeuropäischen Hauptstädten eingesehen.

Der Georgische Traum aber bleibt bei seiner Variante und dem, was er als Deeskalationspolitik betrachtet. Entsprechend ist das Verhältnis zur Ukraine seit vielen Jahren unterkühlt. Im Jahr 2008 hatte Georgien aus der Ukraine Luftabwehrsysteme erhalten, im Jahr 2022 erklärte Ministerpräsident Irakli Garibashvili kurz nach dem Überfall auf die Ukraine indirekt, diese trage die Schuld an dem Krieg, da sie im Unterschied zu Georgien keine verantwortungsvolle Deeskalationspolitik betrieben habe. Eine Woche nach Beginn des Angriffs holte die Ukraine ihren Botschafter in Tbilissi zu Konsultationen nach Kiew. Im August lieferten sich der georgischstämmige Fraktionsvorsitzende von Diener des Volks, der Partei des ukrainischen Präsidenten, Davyd Arachamia, und der stellvertretende Präsident des georgischen Parlaments Archil Talakvadze vom Georgischen Traum einen verbalen Schlagabtausch. Dies sind rhetorische Scharmützel, von größerer Bedeutung ist jedoch, dass die Regierung Garibashvili sich bis heute weigert, die Sanktionen der EU gegen Russland mitzutragen.

Diese offizielle Position steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu dem, was große Teile der georgischen Gesellschaft denken und tun. Die Menschen sammeln Spenden und schicken humanitäre Hilfe. Ein georgisches Freiwilligen-Bataillon kämpft in der Ukraine an der Seite der Kiewer Truppen. Sehr viele Georgierinnen und Georgier verstehen den Krieg in der Ukraine als ihren eigenen Krieg. Die Ukraine, so die gängige Meinung in Georgien, kämpft auch für die Freiheit Georgiens und aller anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Doch Ivanishvilis Partei – insbesondere der ehemalige Parlamentspräsident Kobakhidze – denunziert die Unterstützer der Ukraine als Kriegstreiber und behauptet, sie wollten in Georgien eine zweite Front eröffnen und Russland von Süden angreifen.

Osteuropa: Es sind also vor allem sicherheitspolitische Gründe, die Angst vor dem großen Nachbarn nach den traumatischen Erfahrungen von 2008, die die georgische Politik prägen?

Andronikashvili: Nein! Dieses Argument wird instrumentalisiert. In der innenpolitischen Auseinandersetzung mit Saakasvhili vor den Wahlen von 2012 hatte es noch eine gewisse Plausibilität. Damals – und selbst noch nach 2014 – konnte der Georgische Traum sogar darauf verweisen, dass eine konfrontative Politik gegenüber Moskau im Stile Saakashvilis Probleme mit der Europäischen Union verursachen würde, da wichtige Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich ja eine ganz andere Russlandpolitik betrieben.

Spätestens seit der innenpolitischen Zuspitzung in Georgien im Jahr 2020 ist auch dieses ohnehin schlechte Argument obsolet. Die Annäherung an Russland dient der Festigung der von der Gesellschaft herausgeforderten autoritären Herrschaft des Regimes und blockiert die Annäherung an die EU. Das Ivanishvili-Regime nutzt sicherheitspolitische Argumente, genauer: Es diffamiert Kritiker als sicherheitspolitische Hasardeure, um seine uneingeschränkte Macht zu behalten und stellt diese Macht über die langfristigen Interessen Georgiens und den Willen der absoluten Mehrheit seiner Bevölkerung.

Instrument dieser Kampagne ist die Abgeordnetengruppe Die Macht des Volkes, die sich angeblich von der Ivanishvili-Partei abgespalten habe. Sie wurde mit einem populistischen russlandfreundlichen Propagandasender ausgestattet, Post-TV, der antiwestliche Parolen verbreitet. Diese Abgeordneten attackieren westliche Diplomaten verbal, hetzen gegen das, was sie als westliche Pseudowerte bezeichnen, ziehen gehen „Liberale“ und „Liberalismus“ in den Kampf. Es ist die Rhetorik, die man aus Russlands Staatsfernsehen und mittlerweile unverhohlen auch aus dem Mund des Kremlchefs hört.

Dies ist wirklich eine substantielle Veränderung gegenüber allem, was Georgien in den 30 Jahren zuvor erlebt hat. Bei allen Defiziten, die der georgische Staat in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hatte und die in mehr als zwei Jahrzehnten nur halbherzig beseitigt wurden. Die Richtung hatte gestimmt. Was das Ivanishvili-Regime in Gestalt des Ministerpräsidenten Garibashvili, von Parlamentsabgeordneten des Georgischen Traums bis hin zu Satelliten wie die Gruppierung Macht des Volkes spätestens seit 2020 betreibt, geht in die entgegengesetzte Richtung. Demokratie, Menschenrechte, Minderheitenschutz, individuelle Rechte von Angehörigen der verschiedensten sozialen Gruppen werden im Namen „georgischer Werte“ angegriffen, sie seien der georgischen Nation fremd. Auf dem Rücken von Minderheiten wird gezielt ein Kulturkampf geschürt, um die Georgierinnen und Georgier von ihrer Unterstützung für die West­orien­tierung des Landes abzubringen, weil diese unweigerlich mit einer Beschränkung der absoluten Macht des Regimes einhergeht.

Osteuropa: Spielt die Abchasien- und Südossetienfrage für das Verhältnis zu Russland noch eine Rolle?


Andronikashvili: Allenfalls eine untergeordnete. Einige kleine oppositionelle Parteien haben versucht, den Krieg in der Ukraine zu nutzen, um die Abchasienfrage wieder auf den Tisch zu bringen. Es gab eine Initiative mit dem Slogan „vor Buča kam Abchasien“. Doch eine solche Verwischung der georgischen Verantwortung im Abchasien-Krieg ändert nichts an der Abchasienpolitik. Tbilissi arbeitet aber schon seit Shevardnadzes Zeiten nicht mehr ernsthaft daran, den status quo zu ändern. Für Südossetien gilt das gleiche seit 2008. Nur eine dramatische Veränderung im gesamten Machtgefüge des postsowjetischen Raums durch eine massive Schwächung Russlands in dem von Moskau begonnenen Krieg könnte daran etwas ändern. Das Problem ist, dass weder die Regierung in Tbilissi noch die oppositionellen Parteien sich auf diese möglichen Veränderungen vorbereiten, damit sie im Falle eines solchen geopolitischen Umbruchs bereits eine vernünftige und friedliche Abchasien- und Südossetienpolitik formuliert haben.

Osteuropa: Welchen Einfluss hat denn umgekehrt das außenpolitische Umfeld auf die politische Ordnung?

Andronikashvili: Selbstverständlich spielt das außenpolitische Umfeld eine große Rolle. Shevardnadzes persönliche Freundschaft mit Hans-Dietrich Genscher oder mit James Baker hat Georgien große, vielleicht sogar überproportionale Sichtbarkeit verliehen. Saakashvili und sein Apparat hatten einen sehr guten persönlichen Draht zur US-amerikanischen Politik, insbesondere zur Administration des damaligen Präsidenten George W. Bush, Georgien konnte auf die Unterstützung der USA zählen. Der Georgische Traum hat nichts davon. Unter Barack Obama spielte Georgien überhaupt keine Rolle mehr für die USA und Donald Trump hat sogar die traditionell große Unterstützung für die georgische Zivilgesellschaft zurückgefahren. Die Europäische Union und Deutschland hatten insbesondere seit 2012 keine klare Georgienpolitik. Für Kanzlerin Merkel war Georgien ebenso wie die Ukraine eher ein Störfaktor bei der Gestaltung der Beziehungen zu Russland. Dies hat in Georgien zu großer Frustration geführt, insbesondere in der Zivilgesellschaft und bei allen, die die Vorbereitungen für einen Beitritt zu EU und NATO unterstützt hatten. Das hat wiederum vielen EU-Gegnern und Befürwortern einer Annäherung an Russland unter den Ivanishvili-Anhängern die Gelegenheit gegeben zu behaupten, der Westen habe Georgien verraten.

Das Problem ist, dass es selbst nach der sogenannten „Zeitenwende“ keine klare Georgienpolitik gibt. Wird die EU ignorieren, wie es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Georgien aktuell bestellt ist und sich aus geopolitischen Gründen für eine Heranführung Georgiens entscheiden, selbst wenn das Ivanishvili-Regime an der Macht bleibt? Oder beharrt sie auf den Standards und riskiert, dass ein EU-Beitritt so unerreichbar erscheint, dass selbst seine Anhänger in Georgien dieses Ziel aufgeben? Das Dilemma ist offensichtlich, aber unverkennbar ist auch, dass Ivanishvili diese Unklarheit nutzt, um die geopolitische Orientierung Georgiens als Faustpfand in den Beziehungen zur EU und den USA einzusetzen und zugleich seine autoritäre Macht in Georgien weiter zu zementieren.

Statt zu lavieren und sich ausspielen zu lassen, sollte die EU sich klar entscheiden: für Georgien und für die Demokratie. Es ist ein Mythos, dass nur eines von beiden zu haben ist, aber eine sehr reale Gefahr, beides zu verlieren. Was gebraucht wird, sind klare Zusagen in Bezug auf das Ziel Beitritt zur EU, konsequente und transparente Kontrolle der auf dem Weg dorthin benötigten Reformen und eine stärkere Unterstützung der Zivilgesellschaft.


Osteuropa: Die Beziehungen zwischen Russland und den anderen postsowjetischen Staaten werden seit längerem, und seit Moskaus Überfall auf die Ukraine besonders intensiv, im Rahmen des postkolonialen Paradigmas diskutiert. Was sind die politischen Gründe für die Popularität gerade dieses Konzepts, und was seine Stärken und seine Schwächen?

Andronikashvili: In Georgien ist das Konzept bislang nicht besonders populär. Grundsätzlich besteht seine Anziehungskraft aber darin, dass es erlaubt, die Asymmetrie und die Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und dem Moskauer Machtzentrum an ein im Westen gängiges Deutungsmuster anzuschließen. Angesprochen werden soll vor allem die westliche Linke, die sich entweder für den postsowjetischen Raum überhaupt nicht interessiert oder den Blick nur nach Moskau richtet. Zugleich kann man den nationalen Befreiungsgedanken selbst als links und progressiv statt als rechts und rückwärtsgewandt verstehen.

Die Deutung der Sowjetunion und der postsowjetischen Beziehungen zwischen Russland und anderen ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR im Rahmen des postkolonialen Paradigmas ist jedoch problematisch. Mit der Bezeichnung der UdSSR als Kolonialreich wird der Begriff überstrapaziert. Selbst das Russische Imperium vor 1917 war kein Kolonialreich im gängigen Sinne.

Während das britische Imperium vor allem auf wirtschaftliche Ausbeutung setzte, stand für Russland – damals wie heute – machtpolitisches Kalkül über wirtschaftlichen Aspekten. So hat etwa die Eroberung des Kaukasus die Zaren deutlich mehr gekostet, als sie einbrachte. Auch in den kulturellen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie gibt es viele Differenzen. Eine derartige kulturelle Hegemonie wie jene der westeuropäischen über die kolonisierten Gesellschaften gab es im Verhältnis zwischen der russischen und der georgischen nicht. Moskau hatte im 19. und in langen Phasen des 20. Jahrhunderts die absolute politische Dominanz, aber kulturell hat die georgische Gesellschaft ihre Autonomie bewahrt und gefestigt. Dies war die Voraussetzung für den – leider niedergeschlagenen – Versuch einer Nationalstaatsbildung nach 1917 und die erfolgreiche Schaffung eines georgischen Staats 1991. Seit einiger Zeit wird versucht, die Tatsache, dass das Russische Imperium über keine kulturelle Hegemonie verfügte, mit dem Begriff „subalternes Imperium“ zu fassen. Ein Oxymoron, das mehr verdunkelt, als es erhellt.

Die Unterschiede zu den westlichen Kolonialreichen liegen auf der Hand: Russland kam nicht aufgrund technischer Fortschritte bei der Seefahrt in fremde Weltgegenden. Die Geschichte der Entstehung und der Beziehung zwischen den verschiedenen Machtzentren in dem Raum, den das Russische Reich zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung einnahm – Integration und Desintegration, Konflikt und Kooperation, Unterwerfung und Befreiung, Asymmetrie und Symmetrie – kann nicht gleichgesetzt werden mit den Beziehungen zwischen den westeuropäischen Staaten und ihren überseeischen Kolonien zwischen dem 16. und der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Georgien hat eine christliche Kultur, deren Ursprünge älter sind als die der Russischen Orthodoxie und die zugleich gemeinsame Wurzeln hat. Wie soll man das im gleichen Rahmen verstehen wie die Beziehungen zwischen britischen oder französischen Missio­naren, und den Menschen, auf die sie in Afrika trafen? Und es gibt auch ein politisches Problem. Das postkoloniale Paradigma hat in Europa und den USA eine antiwestliche Stoßrichtung, es richtet sich gegen die europäische und amerikanische Moderne. Wie passt ein solches Paradigma zur Selbstbefreiung der Ukraine oder Georgiens von Moskauer Herrschaftsansprüchen, bei der Europa, der Westen, die Europäische Union und die USA doch eine nicht unbedeutende Rolle als Vorbild und Partner spielen.

Osteuropa: Der Kreml arbeitet implizit und spätestens seit Putins Annexions-Rede vom 21.9.2022 explizit ebenfalls mit dem Konzept. Russland sei die Schutzmacht aller von den westlichen Staaten in Geschichte und Gegenwart kolonisierten Völker, bringe ihnen Freiheit vom kolonialen Joch und souveräne Demokratie. Was sagen Sie dazu?

Andronikashvili: Das ist genau der Punkt. Das Putin-Regime versucht, antiwestliche, antiamerikanische und antikapitalistische Kräfte in aller Welt für sich zu mobilisieren – nicht zuletzt im Westen selbst. Leider gibt es weltweit immer noch viele Intellektuelle, die sich als „links“ verstehen und sich mit der Geschichte des Russischen Imperiums, der Sowjetunion und der postsowjetischen Staaten wenig auskennen. Die keine Vorstellung davon haben, was für eine Unterdrückungsmaschine das Putin-Regime ist, wie dieses in Russland selbst und in seiner Nachbarschaft all jene verfolgt und angreift, die soziale und nationale Rechte einfordern. Dies ist mit dem Überfall auf die Ukraine erschreckend deutlich geworden. Russland greift gezielt zivile Infrastruktur an, hat in den besetzten Gebieten ein Terrorregime errichtet, Folter und Vergewaltigungen sind dort Alltag. In Russland selbst werden vor allem solche Menschen für den Krieg mobilisiert, die sich nicht wehren und freikaufen können, vor allem also Menschen aus den nichtrussischen Randgebieten des Landes und aus den ärmsten Bevölkerungsschichten. Auch weltweit ist Russland in keinerlei Weise eine antikoloniale Macht. Im Gegenteil, es ist ein Staat, der von der Vertiefung der Ungleichheit und der Unterdrückung profitiert. Seine gesamte globale Politik zielt auf das Schüren von Konflikten zwecks Schwächung des Westens. Russlands wichtigste Partner sind autoritäre und totalitäre Staaten: China, Nordkorea, der Iran und Syrien. Und es ist kein Zufall, dass Russland in Europa und anderswo rechtsnationale Bewegungen unterstützt und finanziert.

Das Gespräch führte Volker Weichsel.

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