Sotk in der ostarmenischen Provinz Gegharkunik nach dem Beschuss durch aserbaidschanische Truppen im Oktober 2022 – Foto: Volker Weichsel
Sotk in der ostarmenischen Provinz Gegharkunik nach dem Beschuss durch aserbaidschanische Truppen im Oktober 2022 – Foto: Volker WeichselÜberreste einer Granate auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters von Sotk – Foto: Volker Weichsel
Überreste einer Granate auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters von Sotk – Foto: Volker WeichselMänner in Sotk – Foto: Volker Weichsel
Männer in Sotk – Foto: Volker Weichsel

Mit aller Macht

Armenien unter aserbaidschanischem Druck

Volker Weichsel, 28.3.2023

Aserbaidschan hat seit dem Zweiten Bergkarabach-Krieg im Herbst 2020 weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit eine außenpolitische Kurswende vollzogen. Nach dem ersten Bergkarabach-Krieg 1988–1994 hatte Baku für 25 Jahre im Konflikt mit den Karabach-Armeniern und der Republik Armenien stets auf der territorialen Integrität der aus der Konkursmasse der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten gepocht. Die Republik Armenien dagegen unterstützte die Karabach-Armenier, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beriefen, und eroberte auch weitere Regionen rund um Karabach; Aserbaidschan warf Armenien Irredentismus vor.

Seit dem Sieg im Zweiten Bergkarabach-Krieg[1] bezieht Aserbaidschan – neben dem fortgesetzten Pochen auf territoriale Integrität – aus einer Position der militärischen Stärke selbst irredentistische Positionen und erhebt verschiedene Territorialforderungen an Armenien. Diese reichen von der Anerkennung kleinerer Gebietseroberungen auf armenischem Staatsgebiet entlang der Staatsgrenze über die Einrichtung eines Transportkorridors unter aserbaidschanischer Kontrolle, der Armenien von seinem südlichen Nachbarland und wichtigen Handelspartner Iran abschneiden würde. Mittlerweile erhebt Baku sogar mit historischen Argumenten untermauerte Ansprüche auf ein großes Gebiet im Süden Armeniens und mitunter auf das gesamte Armenien.

Das gesamte Spektrum dieser seit Ende 2020 immer lauter erhobenen Forderungen[2] entfaltete – unterlegt mit Drohungen und eingebettet in eine panturkische Ideologie – Staatspräsident Ilham Alijew in einer Rede auf einem von ihm selbst initiierten Treffen der Staatschefs der Organisation der Turkstaaten Mitte März 2023 in Ankara. Wir dokumentieren die Rede hier.

Offen ist, ob diese Forderungen taktischer Natur sind und vor allem eine beschleunigte Übergabe des seit Ende 2020 von knapp 2000 russländischen Soldaten einer Friedensmission geschützten Gebiets der selbstproklamierten „Republik Arzach“ befördern sollen. Kommt es zu dieser, wäre ungeachtet der Versprechungen Bakus zur Wahrung individueller Bürgerrechte der dort lebenden ca. 100 000 Armenier unzweifelhaft eine vollständige Flucht und Vertreibung dieser Menschen die Folge. Oder nutzt das semitotalitäre Regime in Baku, das seit Jahren eine nationalistische Stimmung im Land anheizt, die geopolitischen Verschiebungen, die Russlands Angriff auf die Ukraine ausgelöst haben, um ohne Eingreifen des militärisch geschwächten und ideologisch auf den Kampf gegen den Westen fixierten Russlands gewaltsam eine den Süden Armeniens durch- oder abschneidende Landbrücke zur Exklave Nachitschewan und damit zum „Bruderstaat“ Türkei zu schaffen?

Armenien scheint dieser Bedrohung nahezu wehrlos gegenüberzustehen. Seine bisherige Schutzmacht Russland macht zwar Aserbaidschan für konkrete Scharmützel verantwortlich, gibt aber Armenien die allgemeine Schuld an den Spannungen.[3] Damit bestraft Moskau die demokratische Regierung des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, der in einer friedlichen Revolution im Jahr 2018 an die Macht kam und dessen Partei trotz Massenprotesten gegen die Regierung nach der Niederlage im 44-Tage-Krieg um Bergkarabach im Herbst 2020 bei einer vorgezogenen Parlamentswahl im Juni 2021 zum zweiten Mal nach 2018 die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erzielte.

Die armenische Regierung sucht keinen Konflikt mit Moskau, sondern enthält sich selbst im Angesicht des brutalen Kriegs gegen die Ukraine jeglicher Kritik am dortigen Vorgehen Russlands. Aus Sorge, dass auf Moskaus Sicherheitsgarantien kein Verlass mehr ist, hat Paschinjan gleichwohl eine zivile Beobachtermission der Europäischen Union (EUMA) ins Land gelassen, die die Vorgänge an der Grenze zu Aserbaidschan aufzeichnet. Moskau, das sich in einem umfassenden Konflikt mit dem „kollektiven Westen“ sieht, klammert den Brüsseler Versuch zur Wahrung des Friedens im Südkaukasus nicht aus dieser Wahrnehmung aus, sondern will auch in dieser mit nahezu keinen Kompetenzen ausgestatteten Mission ein geopolitisches Vordringen der EU erkennen. Die Absicht ist offensichtlich: Zum einen übt Moskau Druck auf die armenische Regierung aus und unterstützt jene Kräfte in Erevan, die trotz gegenteiliger Evidenz weiter hoffen, durch noch stärkere Anbindung an Moskau Sicherheitsgarantien für Armenien und die in Aserbaidschan in der „Republik Arzach“ lebenden Armenier zu erhalten. Zum anderen kaschiert Moskau seine Schwäche und rechtfertigt seinen schleichenden, bislang von Widersprüchen gekennzeichneten, aber doch sichtbaren Positionswechsel vom Sicherheitsgaranten des schwachen und weitgehend isolierten Armenien zum „pragmatischen“ Kooperationspartner des ressourcenreichen und darüber hinaus mit der Türkei, einem weiteren Moskauer Partner „pragmatischer Kooperation“, verbündeten Aserbaidschan.[4]

Die Lösung des Karabach-Knotens scheint so einfach: Aserbaidschan gewährt nach der Rückgewinnung aller besetzten Gebiete im 44-Tage-Krieg 2020 aus einer Position der Stärke den Karabach-Armeniern Sicherheitsgarantien und Minderheitenrechte entsprechend dem Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats. Vertrauensbildung und Demilitarisierung führen dazu, dass Erevan und Baku im Konsens die Statio­nierung der russländischen Friedenstruppen dem Abkommen gemäß zum 10. November 2025 auslaufen lassen. Zum allseitigen Vorteil öffnen Armenien, Aserbaidschan und die Türkei alle gemeinsamen Grenzen und entwickeln die Verkehrsinfrastruktur.

Doch dass es dazu kommt, ist nahezu ausgeschlossen. Die äußeren Mächte, die einen solchen Prozess garantieren könnten – die EU, die USA, Russland, die Türkei und der Iran – sind zu schwach, haben Interessen mit höherer Priorität und liegen untereinander in Konflikt über diese und insbesondere über andere Fragen. Dennoch sollte es mit allen Mitteln versucht werden. Denn was sonst geschieht, liegt auf der Hand: Entweder kommt es zu einer unblutigen, aber durch massiven Druck herbeigeführten Bevölkerungsverschiebung, da die Armenier teils schleichend aus Karabach abwandern, teils gegen ihren Willen deportiert werden. Oder die ethnische „Bereinigung“ findet gewaltsam im Zuge eines ungleichen Krieges statt, der Aserbaidschan in die Versuchung bringen könnte, die irredentistischen Forderungen nicht mehr nur als Druckmittel in der Karabach-Frage einzusetzen, sondern militärisch umzusetzen. So oder so – eine weitere menschliche Katastrophe und ein weiteres Debakel für die europäische Sicherheitsordnung.


[1] Siehe dazu Otto Luchterhandt: Zeitenwende im Südkaukasus. Armeniens Niederlage im Krieg um Bergkarabach, in: Osteuropa, 12/2020, S. 59–79. – Egbert Jahn: Aufgetaut und wieder eingefroren. Kontinuität und Wandel im Bergkarabach-Konflikt, ebd., S. 81–104.

[2] Siehe etwa Joshua Kucera: What’s the future of Azerbaijan’s “ancestral lands” in Armenia? Eurasia.net, 16.6.2021. – Azerbaijan will return to Zangezur 101 years later – Ilham Aliyev, turan.az, 21.4.2021.

[3] Siehe dazu die Meldung „O situacii v Nagornom Karabache“ vom 17.3.2023 im Telegramkanal Rybar’, der als Lautsprecher des russländischen Militärgeheimdiensts gilt, <https://t.me/rybar/ 44745>.

[4] Am 22.2.2022, zwei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine, unterzeichneten Russland und Aserbaidschan ein umfangreiches Abkommen über „Bündniskooperation“. Deklaracija o sojuzničeskom vzaimodejstvie meždu Rossijskoj Federaciej i Azerbajdžanskoj Respublikoj, <http://kremlin.ru/supplement/5777>. Im November 2022 folgte ein weiteres Abkommen über grenzüberschreitenden Verkehr. – Russia, Azerbaijan sign agreement on development of border crossing points, other documents. Interfax, 17.11.2022. Zu den anhaltenden Widersprüchen und Konflikten sowie der stockenden Umsetzung der Vereinbarungen siehe: Lavrov, in Baku, tries to shore up shaky Russia-Azerbaijan „alliance“. Eurasia.net, 1.3.2023.