Russlands Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine

Nikolay Mitrokhin, 20.11.2022

Mittels Kriegsverbrechen an den Verhandlungstisch bomben

Russland hat mit erneuten massiven Luftangriffen auf die Strom- und Wärmeversorgungssysteme der Ukraine eine katastrophale Lage herbeigeführt. Die Angriffswelle am 15. November war die heftigste seit Beginn des Kriegs Ende Februar 2022. Russlands Armee beschoss die Ukraine in einem Zeitraum von dreieinhalb Stunden mit weit über 100 Raketen und Drohnen, mindestens 77 davon konnte die Luftabwehr der Ukraine abfangen. Gleichwohl wurden an diesem Tag ca. 30 Anlagen des Stromversorgungssystems beschädigt. Am 17. November beschoss Russland in einer zweiten Angriffswelle vor allem Industrieanlagen, darunter auch solche zur Gasverarbeitung.

Keiner der Einschläge an diesen beiden Tagen hatte für sich genommen katastrophale Folgen. Nach über zwei Monaten systematischer Angriffe sind allerdings mittlerweile derart viele Generatoren, Transformatoren und Umspannwerke zerstört, dass das landesweite Stromnetz am Rande des Zusammenbruchs steht. In Kiew etwa wird der Strom zwecks Netzstabilisierung planmäßig für eine gewisse Dauer abgeschaltet, hinzu kommen kurzfristig angekündigte Abschaltungen sowie unangekündigte Notabschaltungen. In Odessa gab es im Durchschnitt der vergangenen Tage nur noch an rund vier Stunden pro Tag Strom. Doch die Unterschiede in der Stadt sind groß: Einige Stadtviertel erhielten vier Mal am Tag für eine gewisse Zeit Strom, andere waren zwei volle Tage ohne Elektrizität. Ähnlich ist die Lage in den meisten Teilen des Landes. Entsprechend fallen auch das Mobilfunknetz und das Internet aus. Vor allem aber ist auch das Fernwärmesystem stark beschädigt. Und in der Ukraine hat mit den ersten Schneefällen der Winter begonnen.

Die Behörden machen den Menschen mittlerweile keine Hoffnung mehr auf eine Besserung der Lage. Der Bürgermeister von Ivano-Frankivs’k hat den Einwohnern der Stadt geraten, den Winter bei Freunden oder Verwandten auf dem Land zu verbringen, wo die Häuser mit Holz geheizt werden können. Der Bürgermeister von L’viv hat angekündigt, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die Menschen in der Stadt im Winter über zwei Wochen ohne Strom- und Wärmeversorgung ausharren müssen. Der Leiter des Mobilfunkbetreibers Kyivstar kündigte an, dass anstelle des flächendeckenden Netzes ein „Punktbetrieb“ eingeführt werde. Und der Chef des größten Stromversorgers der Ukraine DTĖK erklärte, dass es gut wäre, wenn so viele Menschen wie möglich das Land verlassen, um den Stromverbrauch zu senken. Nach einer Welle der Empörung sagte er wenige Stunden später, seine Worte seien falsch interpretiert worden.

Kurzum, die Ukraine steht am Rande eines Totalzusammenbruchs des landesweiten Stromnetzes und der zentralisierten Wärmeversorgung. Kommt es zu einem solchen, gibt es nur noch im Umkreis einiger Kraftwerke, wahrscheinlich solcher mit eher geringer Leistung, Strom und Wärme. Die Verwaltungen aller größeren haben bereits Versorgungspunkte eingerichtet, an denen aus der EU gelieferte Diesel- und Benzingeneratoren Strom produzieren. Dort können die Menschen sich aufwärmen, warmes Essen erhalten und Geräte mit Akkubetrieb aufladen.

Was bezweckt Russland mit diesem eindeutigen Kriegsverbrechen, der vorsätzlichen Zerstörung ziviler Infrastruktur, von der Millionen Zivilisten betroffen sind? Es ist offensichtlich, dass es darum geht, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu bomben. Russland benötigt wegen der Erschöpfung seiner Truppen an der Front dringend einen Waffenstillstand. Gespräche über einen solchen versuchte Außenminister Sergej Lavrov auf dem Treffen der G20-Staaten in Bali zu initiieren, blitzte jedoch ab. Die Ukraine lehnte solche Gespräche ab, solange russländische Truppen Teile ihres Staatsterritoriums besetzt halten und Moskau mit Verhandlungsangeboten den Zweck verfolgt, diesen Zustand zu zementieren.

Russland braucht dringend einen Waffenstillstand, um Zeit zu gewinnen, in der die seit der Mobilmachung Ende September eingezogenen Soldaten ausgebildet, ausgerüstet und an die Front gebracht und die im Herbst einberufenen jungen Wehrdienstleistenden durch die Grundausbildung geschleust und Einheiten zugewiesen werden können, so dass sie zumindest in Kasernen bereit stehen für den Einsatz im rückwärtigen Gebiet der Front auf russländischem Territorium. Auch für eine zweite Mobilmachungswelle im Januar soll Zeit gewonnen werden.

Die anhaltenden Kämpfe, in deren Zuge es der ukrainischen Armee nicht nur gelingen könnte, im Norden oder im Süden die Frontlinie zu durchbrechen, sondern auch in den Gebieten Belgorod oder Kursk auf russländisches Territorium vorzudringen, sorgen jedoch für einen permanenten hohen Verlust an Soldaten und Material. Nach der Aufgabe von Cherson und aller Gebiete am rechten Ufer des Dnipro, könnte es der Ukraine auch gelingen, die noch unter der Kontrolle Russlands stehenden Teile der Gebiete Cherson und Zaporižžja zurückzuerobern. Russland hat dort zwar kampffähige Truppen zusammengezogen, aber der ukrainische Beschuss mit Himars-Artillerie führt bereits zu Versorgungsproblemen. Nichts käme Moskau daher gelegener als ein Waffenstillstand entlang der aktuellen Frontlinie.

Genau dies ist der Grund, warum die Ukraine gegenwärtig von Verhandlungen unter solchen Voraussetzungen nichts wissen will. Sie würde Russland eine Atempause verschaffen und die Möglichkeit, die Front zu stabilisieren. Solange die ukrainischen Streitkräfte erfolgreich kämpfen, wird die ukrainische Gesellschaft nicht einmal einen vorübergehenden „Waffenstillstand“ akzeptieren.

Ein Angebot, das möglicherweise auf mehr Gehör in der Ukraine stoßen würde, wäre ein Rückzug hinter die Linien vom 24.2.2022. Doch dies wäre nicht nur ein offenes Eingeständnis des kompletten Scheiterns. Moskau hätte zudem kaum Gewissheit, dass die Ukraine nicht von den neuen Linien aus die Angriffe fortsetzt, um auch jene Gebiete zurückzuerobern, die sie im Jahr 2014 verloren hat: die östlichen Teile des Donbass und die Krim.

Aus diesem Grund versucht Russlands Führung unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts die Ukraine mit Luftterror gegen die Zivilbevölkerung dazu zu bringen, dass sie um Frieden bittet – oder dass die Staaten, die die Ukraine unterstützen, aus Angst vor einer weiteren Flüchtlingswelle Kiew dazu bringen, sich auf einen Waffenstillstand zu Moskauer Konditionen einzulassen.

Gegenwärtig sieht es jedoch nicht danach aus, als könnte diese Strategie Erfolg haben. Die ukrainische Armee bereitet sich darauf vor, weitere besetzte Landesteile zu befreien, aus dem Westen wird sie voraussichtlich weitere Luftabwehrsysteme erhalten, und die Europäische Union verspricht, die für die Reparatur der zerstörten Kraftwerke und Umspannwerke benötigten Güter zu liefern. Die Frage ist allerdings, wann diese in der Ukraine eintreffen.

Die Kinburg-Halbinsel und der Bau von Befestigungsanlagen an den Zugängen zur Krim

Die größten Aussichten für ein weiteres Vorrücken der ukrainischen Armee bestehen weiterhin im südlichen Frontabschnitt. Die Nachrichten über eine angebliche Befreiung besetzter Gebiete am linken Ufer des Dnipro nahe Cherson haben sich als falsch erwiesen. Weder setzten in großer Zahl ukrainische Soldaten auf die ins Schwarze Meer hineinragende Kinburg-Nehrung über, noch rückten sie in die Stadt Aleški ein, ein am gegenüberliegenden Dnipro-Ufer gelegener Ausläufer von Cherson. Der kleine Trupp, der über den Dnipro übergesetzt war, erlitt schwere Verluste und hätte es ohnehin nicht vermocht, die große Kinburg-Halbinsel unter seine Kontrolle zu bringen. Generell sind an dieser Stelle keine wichtigen Kämpfe zu erwarten, denn die vom linken Ufer des Dnipro weit ins Schwarze Meer hineinragende Halbinsel kann von beiden Seiten des Flussufers leicht unter Beschuss genommen werden und kann entsprechend nur schwer kontrolliert werden. Vor allem aber hat sie keinerlei strategische Bedeutung.

Viel bedeutsamer ist, dass Russlands Streitkräfte mit der Sicherung des linken Dnipro-Ufers und der unmittelbar an die Landbrücke zur Krim grenzenden Landkreise begonnen haben. In einem 15 Kilometer breiten Streifen entlang des Dnipro wurden alle Bewohner ausgesiedelt. Von der Mündung des Dnipro ins Schwarze Meer westlich von Cherson bis zu den Vorstädten von Mariupol’ werden Befestigungsanlagen errichtet. Dies zeugt davon, wie groß die Sorge ist, dass die Ukraine bei Zaporižžja die Front durchbrechen und in der Steppe bis Mariupol’, Melitopol’, Berdjans‘k oder zu der auf die Krim führenden Landenge vorstoßen könnte. Grund ist, dass die Ukraine hier leicht überlegen ist, da sie auf den regendurchweichten Schwarzerde- und Sandböden der Region mit ihren leicht gepanzerten Fahrzeugen mobiler ist als die russländischen Streitkräfte mit ihren Panzern und schweren Lastwagen. Ob dieser Vorteil ausreicht, um in den kommenden Wochen die Front zu durchbrechen und vorzustoßen oder zumindest einige Landkreise im zentralen Teil des Gebiets Zaporižžja zu befreien, werden erst die Kämpfe der kommenden Tage und Wochen zeigen.

Schwere Kämpft bei Soledar, Bachmut, Donec’k und Vuhledar

Bislang konzentrieren sich die Kämpfe allerdings weiter auf die Gebiete Luhans’k und Donec‘k. Im Gebiet Luhans’k kommt die ukrainische Armee seit dem letzten größeren Vorstoß Anfang Oktober nur noch sehr langsam voran, im Durchschnitt um die 100 Meter pro Tag. Leicht nördlich von Kreminna hat sie jedoch die von dort nach Svatove führende Straße fast erreicht. Weiter südlich, im Zentrum des Donec-Bogens im Gebiet Donec’k, finden vor allem nahe der Städte Soledar und Bachmut sowie der westlichen Vororte von Donec’k und Uhledar schwere Kämpf statt. An all diesen Orten werden die ukrainischen Soldaten von unterschiedlichen Gruppierungen angegriffen: von Kämpfern der „Wagner“-Miliz, darunter viele jener 23 000 Strafgefangenen, die in den letzten Monaten zu diesem Zweck aus Gefängnissen in Russland entlassen wurden; von Truppen der sogenannten „Volksmilizen“ der „Volksrepublik Doneck“; schließlich von der russländischen Armee, darunter von Marineinfanteristen und sogar Panzertruppen der russländischen Pazifikflotte. In den Truppen der regulären Armee sind Teile der seit Ende September im Zuge der Mobilmachung eingezogenen Reservisten eingesetzt. Die Kämpfe sind äußerst heftig – vor allem in Bachmut, wo Wagner-Söldner das im Osten der Stadt gelegene Industriegebiet sowie die südlichen Vorstädte angreifen, und in Vuhledar, wo Russlands Luftwaffe Phosphorbrandsätze abgeworfen hat, um ein Vorrücken der Marineinfanteristen der Pazifikflotte vorzubereiten. Die Ukraine hat dort schwere Verluste zu beklagen und rotiert permanent die unmittelbar an der Front eingesetzten Gruppierungen. Bachmut dürfte mittlerweile ebenso vollständig zerstört sein wie das nordöstlich davon gelegene Severodonec’k. Russlands Truppen erleiden ebenfalls schwere Verluste und erzielen dabei minimale Geländegewinne von rund 50–100 Meter pro Tag.

Angriff auf Novorossijsk

Neben den Kämpfen an Land geht auch der Seekrieg im Schwarzen Meer weiter, in dem es um die Störung der Versorgungswege des Gegners geht. In der Nacht vom 16. auf den 17. November hat die Ukraine mit einer Seedrohne den russländischen Ölhafen von Novorossijsk angegriffen, wo Erdöl von Feldern in Russland, Kasachstan und Aserbaidschan zum Transport auf den Weltmarkt auf Tanker verladen wird. Nach russländischen Angaben zog der Angriff keine schweren Schäden nach sich, der Betrieb des Hafens sei nicht gestört worden. Zweifellos handelte es sich aber um einen Probeangriff wie jener am 21. September auf Sevastopol’, auf den ein schwerer Angriff am 29. Oktober folgte. Die Seedrohnen mit einer Reichweite von 800 Kilometern sind eine Bedrohung für alle russländischen Häfen entlang der Schwarzmeerküste und eventuell auch am Asowschen Meer, auf die Russland bislang keine Antwort hat.

Raketeneinschlag in Polen

Die größte internationale Aufmerksamkeit zog der Einschlag einer Rakete am Nachmittag des 15. November im ostpolnischen Przewodów auf sich. Ersten Berichten zufolge handelte es sich um eine von Russland abgefeuerte Rakete – eine jener über Hundert, die an diesem Tag auf die gesamte Ukraine niedergingen. Die NATO rief auf Ersuchen Polens eine Dringlichkeitssitzung der Botschafter ein. Den veröffentlichten Ergebnissen erster Untersuchungen zufolge handelte es sich jedoch um eine vom ukrainischen Luftabwehrsystem S-300 abgeschossene Rakete, die eine russländische Rakete abfangen sollte, ihr Ziel jedoch verfehlte und sich anschließend aufgrund eines technischen Fehlers nicht selbst zerstörte, sondern 70 Kilometer weiter flog, wo sie in einem Agrarbetrieb einschlug und zwei Menschen tötete.

Während die Ukraine weiter darauf beharrte, es habe sich um eine von Russland abgefeuerte Rakete und damit um einen direkten Angriff auf NATO-Gebiet gehandelt, erklärten die NATO-Staaten, Russland trage zwar insgesamt wegen seines Angriffskriegs Verantwortung für den Vorfall, habe aber im konkreten Fall nicht polnisches Territorium beschossen.

Der Fall zeigt – ebenso wie das in der gleichen Woche ergangene Urteil im Prozess um den Abschuss des Passagierflugzeugs der Malaysia-Airlines im Sommer 2014 – dass die westlichen Staaten und die Justiz dieser Länder nicht geneigt sind, sich auf politische Deutungen krimineller Taten einzulassen. Jeder Fall wird einzeln untersucht, mit äußerster Akribie, und die Beurteilung richtet sich nach den tatsächlichen Ereignissen, nicht nach den Deutungen und Interessen der Beteiligten.

20.11.2022

Aus dem Russischen von Volker Weichsel

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.