Zelens’kyj gibt zentrales Kriegsziel auf
Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 144. Kriegswoche
Nikolaj Mitrokhin, 05.12.2024
Insgesamt ist es der Ukraine gelungen, die Angriffe an mehreren Abschnitten der Front etwas abzuschwächen. Bei Kupjans’k ist ihr sogar ein bemerkenswerter Erfolg geglückt. Dennoch ist die Lage in weiten Teilen heikel. Im Luftkrieg richten Raketen und Drohnen immer größeren Schaden an. Bis Jahresende werden neue westliche Luftabwehrsysteme, auch aus Deutschland, die Verteidigung des Landes entscheidend stärken. In der Ukraine setzen die russischen Geheimdienste eine neue Sabotagetaktik mit Bomben ein. In Russland geraten ausgerechnet die “Siloviki” finanziell unter Druck. Präsident Volodymyr Zelens’kyj sah sich in dieser Woche indes gezwungen, die militärische Wiederherstellung der Grenzen von 1991 infrage zu stellen. Bundeskanzler Olaf Scholz kommt nun eine Schlüsselrolle zu.
Die Lage an der Front
Im Allgemeinen konnte die russische Offensive in der vergangenen Woche erheblich abgeschwächt werden. Die russischen Streitkräfte konnten viele ihrer zuvor erstellten Pläne für größere Durchbrüche entlang der Frontlinie nicht realisieren. Dies betraf insbesondere den Kampf um Kupjans’k: An einem Abschnitt der russischen Offensive gelang sogar den ukrainischen Streitkräften ein Durchbruch. An mindestens zwei Stellen der Frontlinie (beide in Richtung Pokrovs’k) sind jedoch neue, potenziell sehr gefährliche Punkte entstanden, an denen die Besatzer vorstoßen können, um Pokrovs’k direkt zu bedrohen. Generell ist die Nervosität der ukrainischen militärischen Führung zu spüren. Sie bereitet Slovjans’k de facto bereits auf die Kapitulation vor und deutete an, dass die Bewohner möglicherweise evakuiert werden müssen.
Südlicher und zentraler Donbass
Im Gebiet um Kurachove ist es den umgruppierten ukrainischen Einheiten gelungen, den Ansturm der russischen Armee weitgehend aufzuhalten. Sie konnten sowohl die Einkreisung Kurachoves von Süden her als auch einen größeren Durchbruch im Gebiet von Velyka Novosilka verhindern. Die Okkupationsarmee drang jedoch vom östlichen Stadtrand aus in das Zentrum von Kurachove ein und stieß entlang des nördlichen Ufers des Kurachove-Stausees vor. Sie versuchte so, die Stadt nicht nur von Norden, sondern auch von Westen zu umgehen. Die Garnison in und um die Stadt wird wahrscheinlich noch einige Wochen durchhalten. Allerdings offenbart sich bereits die Agonie der ukrainischen Truppen. Im Südwesten, in der Gegend von Velyka Novosilka, stoppten die Ukrainer die russländische Armee im Laufe der Woche in ihrer Bewegung nach Norden. Gleichzeitig kamen die Besatzer nah an den östlichen Rand der Stadt und begannen, sie zu stürmen. Bisher fanden die Kämpfe am Stadtrand statt, aber es ist wahrscheinlich, dass die russischen Angreifer im Laufe der nächsten Woche in das Zentrum der Stadt vordringen werden.
Nordwestlich dieses Gebiets ist es den russischen Streitkräften gelungen, etwa zwei bis drei Kilometer nach Westen durchzubrechen. Sie sind damit etwa zehn Kilometer von Selydove entfernt. Sollte dieser Durchbruch nicht abgeschnitten werden, dürften die russischen Streitkräfte Pokrovs’k in der kommenden Woche von Süden her vollständig umgehen und einen weiteren Keil in die ukrainische Verteidigung treiben, also die Kräfte der Front bei Zaporižžja und Donec'k teilen.
Časiv Jar berichtet über den langsamen, aber sicheren Vormarsch der russischen Truppen in verschiedenen Abschnitten im zentralen und südlichen Teil der Stadt. Auch meldet sie die Einkreisung des Hauptverteidigungspunktes der ukrainischen Streitkräfte in jenem Teil der Stadt, der unter der Kontrolle Kiews geblieben ist: die Feuerfest-Fabrik (Herstellung von feuerfesten Materialien). Die militärische Bedeutung von Časiv Jar besteht zum einen darin, dass es die letzte große Festung an der Biegung der Frontlinie ist und in relativer Nähe zu Horlivka und Donec’k liegt. Zum anderen befindet sich das Industriegebiet Kostjantynivka an der Fernstraße Donec’k-Slovjans’k nur rund zehn Kilometer südwestlich von Časiv Jar. Es ist die letzte größere Stadt im zentralen Teil der Region Donec’k, die noch vollständig unter der Kontrolle Kiews steht.
Entsprechend wurde in der vergangenen Woche in den ukrainischen, internationalen und russischen Medien über das Schicksal des nordwestlichen Teils der Region Donec'k spekuliert. Hier befinden sich die Großstädte Kramators’k und Slovjans’k. Die Überlegungen fanden auch vor dem Hintergrund möglicher bevorstehender Friedensgespräche statt. Ob die ukrainischen Streitkräfte den westlichen und nördlichen Teils der Region Donec’k bis zum Abschluss eines hypothetischen Friedensabkommens halten können, ist unklar. Am 30. November kündigte der Bürgermeister von Slovjans’k (der nordwestlichsten Stadt der Region Donec’k) allerdings bereits an, dass er „wegen der Verschärfung der Sicherheitslage“ alle Schulen schließen und öffentliche Veranstaltungen absagen werde. „Alle Schulen in der Stadt und andere Bildungseinrichtungen gehen online“, hieß es. Es ist in der nächsten Stadt der Beginn des “normalen” Kriegsalltags. Obwohl die russischen Streitkräfte beim jetzigen Tempo der Offensive theoretisch frühestens in ein oder zwei Jahren die Mauern der Stadt erreichen werden, haben Kriegsberichterstatter bereits diskutiert, ob die Aggressoren in der Lage sein werden, Slovjans’k bis zum 9. Mai 2025 einzunehmen.
Kampf um Kupjans’k
Nach der Vertreibung der Angreifer aus Kupjans’k meldeten die dortigen ukrainischen Truppen am 3. Dezember, sie hätten die russischen Truppen auch aus dem Dorf Novomlyns’k vertrieben. Dieses befindet sich 25 Kilometer nördlich der Stadt am Westufer des Flusses Oskil und ist ein Brückenkopf für die russische Offensive. Die verteidigende Armee wandte hier die gleiche Taktik wie zuletzt die Russen an. Sie landete mit gepanzerten Fahrzeugen im Dorf und die Truuppen schlugen den Gegenangriff zurück. Es handelt sich um einen bemerkenswerten, weil seltenen Erfolge für die ukrainischen Streitkräfte im vergangenen Jahr
Zaporižžja- und Dnipro-Front
Interessanterweise erwarten beide Kriegsparteien eine drastische Verschärfung der Kampfhandlungen an diesem Abschnitt. So befürchtet die ukrainische Armee beispielsweise einen Durchbruch der Front in Zaporižžja. Die russischen Streitkräfte ihrerseits verstärken ihre Stellungen auf der Halbinsel Kinburn, wo der Dnipro ins Meer mündet, deutlich.
Luftkrieg
Die Angriffe auf die militärische und die Energieinfrastruktur beider Seiten sind seit Anfang der November stark intensiviert worden. Die vergangene Woche markiert in dieser Hinsicht einen weiteren Rekord. Dies betrifft sowohl die Anzahl der von beiden Seiten eingesetzten Drohnen und Raketen als auch die Wirksamkeit der Angriffe. Am 28. November führten die russischen Streitkräfte den elften Großangriff auf das ukrainische Energiesystem und militärische Anlagen durch. Sie setzten dabei seit längerer Zeit wieder zuvor gesammelte Kalibr-Raketen und Drohnen ein. Umspannwerke wurden zerstört, rund eine Million Bürger hatten keinen Strom. Die Stromversorgung in vielen Regionen war auch eine Woche später nicht wieder vollständig hergestellt. Schon am nächsten Tag haben die russischen Streitkräfte nach offiziellen, auch ukrainischen Angaben weitere 132 Drohnen über die Ukraine geschickt.
Die ukrainischen Streitkräfte griffen ihrerseits zwischen dem 27. und 29. November die Krim an. Dabei setzten sie nach Angaben des Militärs bis zu vier Radaranlagen verschiedener Typen in Brand. Wenn dies der Wahrheit entsprechen sollte, ist das ein großer Erfolg, der allerdings in den folgenden Tagen nicht ausgebaut werden konnte. Insgesamt scheint die ukrainische Armee mit westlichen Langstreckenraketen auf Luftabwehrsystemen, die sie auf die Schwarzerde-Region abgefeuert hat, das russische Luftabwehrsystem erheblich erschüttert zu haben. Am 28. November wurde bei diesen Angriffen auch der staatliche Reservestützpunkt “Atlas” (Rosreserva) in der Region Rostow getroffen. Dieser führte zu einem Brand mehrerer großer Tanks, der zwei Tage nicht gelöscht werden konnte.
Gleichzeitig erhält die Ukraine bis Ende des Jahres mehrere Luftabwehrsysteme aus dem Westen, darunter drei Patriot-Systeme aus den Niederlanden und mindestens vier aus Deutschland. Damit wird es langfristig möglich sein, den Luftraum des Landes, einschließlich der wichtigsten Einrichtungen, besser abzudecken. Natürlich wird sie nicht gegen Putins neue rätselhafte Rakete “Orešnik“ schützen. Gegen die meisten russischen Raketen ist die Reichweite aber vollkommen ausreichend.
Nord- und Südkorea im Krieg
Die Propaganda der ukrainischen und internationalen Öffentlichkeit über die Anwesenheit nordkoreanischer Soldaten an der Front hat nicht dazu beigetragen, dass der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerov bei seinem Besuch in Südkorea schwere Waffen herausverhandeln konnte. Er hatte etwa auf eine Lieferung der südkoreanischen Flugabwehrraketen Cheon-gung (KM-SAM/Cheolmae-2/Iron Hawk) mit 155-mm-Granaten sowie auf Radarstationen gehofft. Die Gesetzgebung des asiatischen Landes verbietet allerdings Waffenlieferungen an kriegführende Länder. Gleichzeitig soll Nordkorea nach Angaben des ukrainischen Militärnachrichtendienstes mehr als 100 Artilleriesysteme, darunter die Kanonenhaubitze M-1989 SAU und den Mehrfachraketenwerfer M-1991 MLRS sowie mehr als fünf Millionen Artilleriegranaten und 100 ballistische Kurzstreckenraketen KN-23/24 an Russland geliefert haben.
An der Front sind weiter keine nordkoreanischen Soldaten gesichtet worden. Dafür tauchen immer neue zweifelhafte Beweise auf: Die populäre Kiewer Website Censor.net hat ein Video veröffentlicht, in dem ein Mann in einer nicht zu identifizierenden Militäruniform mit bandagiertem Kopf zwei Minuten kaum verständlich über die Kämpfe gegen die Ukrainer spricht. Er verurteilt das russische Militär, das ihn und seine Kameraden in den sicheren Tod geschickt habe. Der Qualität des Videos nach zu urteilen, handelt es sich jedoch um ein überarbeitetes Fragment eines Videofilms aus den 1980er Jahren. Zuvor ging das Bild eines angeblich getöteten nordkoreanischen Soldaten mit großen aufgestickten Porträts eines asiatischen Führers auf der Uniform viral. Skeptiker halten ein Computerspiel für die Quelle des Bildes. Keiner der vermeintlichen Beweise für kämpfende Nordkoreaner gibt indes an, an welcher Frontlinie sie operieren. Es gibt auch keine Bestätigung von Drohnenführern oder anderen üblichen Verifizierungsmethoden.
Zelens’kyj gibt Ziel auf, Grenzen von 1991 militärisch wiederherzustellen
Der Druck auf den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelens’kyj ist in dieser Woche gestiegen. Die kommende Präsidentschaft in den USA von Donald Trump wirft ihre Schatten voraus, Bundeskanzler Olaf Scholz reiste als Vermittler an, die ukrainische Armee zieht sich im Osten des Landes weiter zurück. So sah Zelens’kyj sich in einem am 2. Dezember veröffentlichten Interview mit Kyodo News gezwungen, unangenehme Realitäten für das Land und ihn persönlich einzugestehen. Er sagte, dass „die ukrainische Armee nicht die Kraft hat, alle besetzten Gebiete allein zurückzuerobern, also werden wir nach diplomatischen Wegen suchen, um das Problem zu lösen“. Einer der Hauptgründe dafür ist laut einem weiteren Zelens’kyjs-Interview bei Sky News, dass die Verbündeten der Ukraine zu wenig versprochene Waffen geliefert hätten. Dies habe dazu geführt, dass nur „zweieinhalb“ der zehn neuen Brigaden bewaffnet seien. Russischen Quellen zufolge haben die Brigaden 155 bis 159 vor kurzem erneut den Status von mechanisierten Brigaden erhalten. Sie verfügen somit immerhin wieder über einen gewissen Schutz durch Panzerung, in Abgrenzung zur nur motorisierten Infanterie. Insbesondere die 155. mechanisierte Brigade der ukrainischen Armee, die 2500 Mann umfasst, ist dabei ins Land zurückgekehrt, nachdem sie auf französischen Übungsplätzen ausgebildet wurde. Zelens’kyjs Kritiker im eigenen Land meinen, dass die Strategie, immer mehr Brigaden zu schaffen, an sich schon ein falscher Weg sei. Dies sei kostspielig und die bestehenden Einheiten stünden ohne Rekruten da. Siesollten mit erfahrenen Kämpfern in bestehenden Stellungen Kampferfahrung sammeln, anstatt in schlecht geplanten Offensiven getötet zu werden.
Ein weiterer Grund dafür, das Ziel der militärischen Wiederherstellung der Grenzen von 1991 ist wahrscheinlich Zelens’kyjs entschiedene Ablehnung einer Wehrpflicht ab 18, zu der er von seinen Verbündeten gedrängt wird. Sie wundern sich, dass sich ukrainische junge Männer unter 25 Jahren angesichts des Mangels an Soldaten dem Militärdienst entziehen können. Erst jetzt wurde der Kampf gegen eine beliebte Form der „Umgehung“, die wiederholte bezahlte Einschreibung an den Universitäten, aufgenommen. Wie sich nach fast drei Jahren Krieg herausstellte, hatten sich Universitätsmitarbeiter bereichert. Einige von diesen Unis nahmen viel mehr Studenten auf, als sie überhaupt hätten fassen können. Sie handelten de facto schlicht mit Studienbescheinigungen. Wie der stellvertretende Bildungsminister Mikhail Vinnits’kyj am 26. November erklärte, wurden zuletzt mehr als 23 448 Studenten über 30, die sich dem Militärdienst entzogen hatten, von den Universitäten verwiesen. Gegen acht beteiligte Angestellte der Hochschulen wurden Strafverfahren eingeleitet.
Der wichtigste Grund dürfte jedoch die massenhafte Desertion von Militärangehörigen aus ihren Stellungen sein. In den vergangenen Monaten hat dieser Verlust an Kämpfern stark zugenommen. Offiziellen ukrainischen Angaben zufolge haben mindestens 120 000 Personen, das heißt mindestens ein Siebtel der aktiven Armee, „unerlaubtes Verlassen von Einheiten“ begangen. Der größere Teil von ihnen kehrte nach dem Urlaub einfach nicht an die Front zurück. Der kleinere Teil floh vor den Angriffen der russischen Truppen. Evgen Dykyj, ein ehemaliger Offizier des Ajdar-Bataillons und in den ukrainischen Medien beliebter ultrapatriotischer Blogger, stellte unterdessen fest, dass sogar die Panzerbesatzungen, die seit drei Jahren nicht ersetzt wurden und psychisch erschöpft sind, die Front verlassen. In der abgelaufenen Woche unterzeichnete Zelens’kyj ein Gesetz, das es Personen, die zum ersten Mal eine solche Fahnenflucht begangen haben, erlaubt, an den Standort ihrer Einheit zurückkehren. Sie dürfen auch einen anderen Standort wählen. Wenn sie vor dem 1. Januar 2025 ins Kampfgebiet zurückkehren, behalten sie zudem ihre Ansprüche.
Der Ukraine-Plan von Trumps Sonderbeauftragtem
Am selben Tag veröffentlichte Generalleutnant a.D. Keith Kellogg, der Sonderbeauftragte des künftigen US-Präsidenten Donald Trump, seinen Ukraine-Plan. Dieses zumindest wahrscheinlicher werdende Szenario sieht ein Einfrieren der jetzigen Frontlinie vor, die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland sowie die Zusage, die Ukraine in einer Zehnjahresperspektive nicht in die NATO aufzunehmen. Weitere militärische Unterstützung für die Ukraine soll es demnach nur dann geben, wenn das Land diesen Bedingungen zustimmt. Es scheint, dass entsprechende Verhandlungen aktiv geführt werden. Olaf Scholz, der kürzlich mit Putin telefonierte und nun Kiew einen persönlichen Besuch abstattete, dürfte dabei eine Schlüsselrolle spielen. Auch aus der russischen Führung soll es Signale geben, den Krieg bald beenden zu wollen und den „Sieg“ zu erklären. Insbesondere soll die Präsidialverwaltung bereits Gespräche mit den Vertretern der Regionen über die anstehende Aufgabe der Normalisierung der Lage nach dem Ende des Krieges geführt haben. Präsident Zelens’kyj äußerte sich zu solchen Vorschlägen auf der Pressekonferenz mit Scholz im Anschluss an die Gespräche ungehalten: „Russland soll zu den drei Buchstaben gehen“.
Änderungen in der Kommandostruktur der ukrainischen Armee
Die Misserfolge bei Kurachove und Pokrovs’k führen nicht wenige darauf zurück, dass Präsident Volodymyr Zelens’kyj nicht genügend Informationen von der Front erhält. Am 29. November, kurz nach seinem Besuch in den Frontgebieten im Osten des Landes reagierte Zelens’kyj darauf. Er tauschte einige kommandierende Offiziere aus. Generalmajor Mychajlo Drapatyj, der zuvor die Verteidigung in Richtung Charkiv organisiert hatte, wurde zum neuen Kommandeur der Bodentruppen ernannt. Oberst Oleg Apostol, davor Kommandeur der 95. unabhängigen Luftlandebrigade, ist nun stellvertretender Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Oberst Pavlo Palisa, der ehemalige Kommandeur der 93. Brigade „Cholodnyj Jar“ (eine der besten in der Armee), stieg zum stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration auf.
Der Krieg schwächt die russischen „Siloviki“
Wie am 2. Dezember bekannt gegeben wurde, ist die durchschnittliche Bezahlung für einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium im Laufe des Jahres um das 5,3-fache gestiegen. Die Behörden von 17 Regionen haben die Zahlungen in Jahresfrist um das Zehnfache oder mehr erhöht. In der Region Sverdlovsk verdient ein Soldat 75-mal mehr als vor einem Jahr, 1,5 Mio. statt 20 000 Rubel. In der Region Ivanovo wurde die Bezahlung um das 32-fache erhöht, von 50 000 auf 1,6 Millionen Rubel. Zusammen mit dem föderalen Teil erhalten nun alle, die sich bei der Armee verpflichten, eine Pauschale von mehr als einer Million Rubel. Der konkrete Betrag variiert aber: zum Beispiel in den Regionen Belgorod und Nižnij Novgorod erhalten Vertragssoldaten drei Millionen Rubel, davon übernehmen 2,6 Millionen die Regionen. Auch im militärisch-industriellen Komplex ist ein starker Anstieg der Gehälter zu verzeichnen. Fachkräfte in den russischen Provinzen können inzwischen mit einem Gehalt von 300 000 Rubel rechnen, in Moskau sind es bis zu 500 000 Rubel.
Das Mediangehalt im Land liegt hingegen nur bei etwas mehr als 80 000 Rubel. Vor dem Hintergrund stark steigender Preise gerät selbst der bestbezahlte Teil der „Ordnungshüter“, etwa die Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Bewachung (Federal’naja Služba Ochrany), die 80 000 Rubel verdienen, in finanzielle Schwierigkeiten. Sie sind immer öfter gezwungen, sich nach Nebenjobs etwa als Kuriere umzusehen, die in Moskau bis zu 120 000 Rubel verdienen. Noch schlimmer ist die Situation im Innenministerium. Dort fehlten zum 1. November 173 000 Mitarbeiter, fast jede fünfte Stelle war offen. Nach Angaben der Sprecherin des Ministeriums, Irina Volk, habe sich die Zahl im Laufe des Jahres fast verdoppelt. Gleichzeitig verlassen pro Monat 3000 bis 5000 Mitarbeiter den Dienst, was in etwa dem Personal einer regionalen Abteilung entspricht, wie der pensionierte Generalmajor der Polizei Wladimir Worožcow in einem Interview mit dem Radiosender „Komsomolskaja Pravda“ sagte. Sie würden in der Regel durch ungeschulte Mitarbeiter ersetzt.
Der Hauptgrund sind die niedrigen Gehälter, die in den Provinzen 20 000 Rubel betragen können. Um das Personal aufstocken zu können, hat das Innenministerium in der vergangenen Woche von der Staatsduma Gesetzesänderungen erwirkt, die nun die Einstellung von Bürgern erlauben, die wegen kleinerer Vergehen (einschließlich Körperverletzung) verurteilt wurden. Und das ist erst der Anfang. Nach Ansicht von Experten gibt es zu wenige solcher Personen, um das Problem zu lösen, selbst wenn sie alle bei der Polizei arbeiten würden. Das Innenministerium wird die Grenzen des Erlaubten unweigerlich weiter ausdehnen müssen. Es scheint gut möglich, dass schon im nächsten Jahr Personen, die wegen schwerer Straftaten verurteilt sind, in den Diensten des Innenministeriums stehen.
Neue Sabotagestrategie der Russen in der Ukraine
In den vergangenen zwei Wochen haben Spezialdienste in den ukrainischen Regionen im Landesinneren mindestens vier Gruppen oder Einzelpersonen festgenommen, die versuchten, Beamte des Innenministeriums zu töten. Sie deponierten improvisierte Sprengsätze an einem Ort, riefen anschließend Polizeibeamte dorthin und ließen die Sprengsätze detonieren. Ukrainische Medien berichteten bereits am 24. November von einer Welle solcher Vorfälle in Kiew. Bei der Untersuchung einer Tasche mit Sprengstoff war etwa ein Polizist getötet worden. Am 26. November wurde ein 43-jähriger Mann in Kiew festgenommen, weil er in einer Wohnung im Stadtzentrum einen Sprengsatz angebracht und Ordnungskräfte zu dem Ort gerufen hatte. Am 27. November wurden fünf Personen verhaftet, weil sie die Polizeistation in Žytomyr in die Luft gesprengt hatten. Einen Tag später wurden zwei ehemalige „Berkut“-Kämpfer (OMON) verhaftet, weil sie Munitions- und Sprengstoffdepots angelegt hatten. Am 3. Dezember wurden Jugendliche im Bezirk Vyšhorod in der Region Kiew festgenommen, wiederum weil sie eine Bombe in einer Polizeibehörde zünden wollten. In allen Fällen waren die Täter von den russischen Sicherheitsdiensten angeheuert worden und folgten deren Anweisungen.
Es ist davon auszugehen, dass dies eine Vergeltung sein soll für die erfolgreiche Aktion der ukrainischen Sicherheitsdienste, die am 13. November in Sevastopol' den Kommandeur der 41. Brigade von Raketenschiffen und -booten der Schwarzmeerflotte, Kapitän I. Rang Valeryj Trankovskij, in die Luft sprengten. Nach einer Woche war bekannt geworden, dass die Bombe unter seinem Auto von zwei angeheuerten arbeitslosen Anwohnern platziert worden war. Augenscheinlich wollen die russischen Sicherheitsdienste dafür Rache nehmen.
Aus dem Russischen von Felix Eick, Berlin
Hinweis zu den Quellen: Die Berichte stützen sich auf die Auswertung Dutzender Quellen zu den dargestellten Ereignissen. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.
Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen wie jene von Deep State (https://t.me/DeepStateUA/19452) – werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter „Rybar’“ (https://t.me/rybar), Dva Majora (https://t.me/dva_majors), und „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonel cassad. livejournal.com/). Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift