Titelbild Osteuropa 12/2003

Aus Osteuropa 12/2003

Zur Einführung

Dietrich Beyrau

(Osteuropa 12/2003, S. 1790–1792)

Volltext

Unter dem Titel „Das Ende der Lügen“ legte Sonja Margolina vor über zehn Jahren ein irritierendes Buch vor.[1] Sie zog gegen das Selbstmitleid und gegen das Stereotyp zu Felde, Juden nur als Opfer des sowjetischen Regimes zu sehen. Sie bezog sich hierbei auf Autoren der jüdisch-bürgerlichen Emigration aus den 1920er Jahren. Diese hatten davor gewarnt, daß ein zu auffälliges Engagement von Juden für die bolschewistische Sache nur den allgemeinen Haß auf die Juden steigern werde. Darüber hinaus verwies die Autorin darauf, daß Juden als Juden keineswegs zu den ersten Opfern des Bolschewismus und Stalinismus gehörten. Zumindest bis 1947/48 seien Juden maßgeblich sowohl an den guten wie an den bösen Taten des sowjetischen Regimes beteiligt gewesen. Erst die Antikosmopolitismus-Kampagne habe seit 1948 Juden erneut stigmatisiert, nun unter dem Etikett von „Zionismus“ und „Kosmopolitismus“.

Die Antikosmopolitismus-Kampagne und die sie begleitenden Schauprozesse vor allem in Ungarn und der Tschechoslowakei sowie die Ärzte-Verschwörung in Moskau machten deutlich, daß in der KPdSU und in maßgeblichen Teilen der sowjetischen Bevölkerung seit Mitte der 1930er Jahre ein dramatischer Wechsel des Selbstverständnisses stattgefunden hatte. Die einst – scheinbar so klaren – Klassenkriterien, nach denen Freund und Feind sortiert worden waren, waren ergänzt, wenn nicht ersetzt worden durch ethnische Kriterien. Diese konnten einerseits dazu genutzt werden, auch Ethnien kollektiv als Feinde zu stigmatisieren, andererseits aber auch dazu dienen, unter den Völkern der Sowjetunion eine Art von Fortschritts- und Heldenkonkurrenz zu inszenieren. Stalins Toast vom 24. Mai 1945 auf das russische Volk als „die hervorragendste Nation unter allen zur Sowjetunion gehörenden Nationen“[2] ist hierfür Beispiel. Es setzte insofern Maßstäbe, als im Augenblick des Triumphes die besondere Tragödie der jüdischen Bevölkerung nicht einmal erwähnt wurde.

Ebenso wichtig wie die Neuorientierung der ideologischen Semantik politischer Eliten war der Wandel der Wahrnehmung im Parteivolk wie in der breiten Bevölkerung. In dem Maße, in dem schon vor, dann besonders aber während und nach dem Zweiten Weltkrieg der Umgang mit der Bevölkerung auf allen Seiten Kriterien folgte, die sich an nationalen Zuschreibungen orientierten, konstruierten und verfestigten sich nationale Stereotype und Zugehörigkeiten immer aufs Neue.

Sie waren besonders in den Regionen, die Gegenstand der folgenden Aufsätze sind, Teil eines noch in der Formierung befindlichen Prozesses der Nationsbildung mit seinen In- und Exklusionsmechanismen. Angesichts der ethnischen Gemengelage kämpften die oft genug selbst ernannten Repräsentanten der verschiedenen Völker um die politische und kulturelle Hegemonie, auch um Territorien, ein Kampf, der von außen angeheizt und verstärkt wurde. Aus den Erfahrungen des Ersten und besonders des Zweiten Weltkrieges, in denen sich die „großen“ Kriege der von außen kommenden Eroberer mit den „kleinen“ Kriegen konkurrierender lokaler Verbände verschränkten, resultierten gespaltene, manchmal sogar polarisierende Erinnerungen und Meistererzählungen. Sie fanden ihre Verfestigung in „nationalen“ Historiographien und ihren Mythen von Opfer und Befreiung – und dem Beschweigen all jener Aspekte, die nicht in die Meistererzählung als heroisches Nationalepos paßten.

Zu dem vor allem in den Sowjetrepubliken beschwiegenen Thema gehörte die Geschichte der Juden, der Juden sowohl als konstitutiver Teil der Regionalgeschichte als auch speziell der Geschichte des Holocausts. Etwas anders gestaltete sich die Situation in Polen, wo die Juden als Teil der polnischen Geschichte aus der Historiographie, vielleicht auch aus dem historischen Gedächtnis zwar weitgehend verschwunden waren, der Holocaust aber als Teil der deutschen Verbrechen bearbeitet und als Teil des polnischen Martyriums in mancher Hinsicht „entthematisiert“ wurde.[3]

Mit Blick auf das hier interessierende Themenfeld der Interaktionen zwischen Nicht-Juden und Juden im östlichen Europa wird man zwischen drei Ebenen unterscheiden müssen: der Ebene der Wahrnehmungen und ihren historisch wirkungsmächtig gewordenen Stereotypen, dem Feld der Interaktionen zwischen den Juden wie zwischen Juden und Nicht-Juden und dem Wandel des Judentums. Dieses hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg aufgehört, eine ethnisch-kulturelle Gemeinschaft zu bilden. Wenn Zeitgenossen und Historiker dennoch von „den Juden“ sprachen, schrieben oder schreiben, so befinden sie sich immer in der Gefahr, Stereotype zu transportieren, statt sie zu analysieren und zu „dekonstruieren“.

Gegenstand der vorliegenden Aufsätze ist die Macht des Stereotyps vom Juden, hier vornehmlich vom „jüdischen Bolschewismus“ oder vom „bolschewistischen Juden“. Das Mißverständnis, oft genug auch das gewollte Mißverständnis, liegt darin, daß in der öffentlichen und manchmal selbst in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unterschieden wird zwischen dem Stereotyp als einer immer vereinfachenden Vorstellung von Realität, und der Vielfalt und Uneindeutigkeit historischer Verhältnisse. Wenn nicht nur Antisemiten, sondern auch um Ernsthaftigkeit bemühte Autoren dem vermeintlichen Zusammenhang zwischen Judentum und Bolschewismus nachspüren, so operieren sie mit Vorannahmen und Verallgemeinerungen, die nur in die Sackgasse führen können. Das Beispiel einer kontextlosen Untersuchung, die aus einer Zusammenstellung von Zitaten besteht, liefert Johannes Rogalla von Biebersteins „Jüdischer Bolschewismus. Mythos und Realität“.[4] Der Autor analysiert nicht den Mythos vom „Jüdischen Bolschewismus“, sondern er will seine Realität durch eine Fülle von Selbstaussagen jüdischer Aktivisten nachweisen. So wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen jüdischer Herkunft und revolutionärer oder bolschewistischer Orientierung. Daß jüdische Herkunft und „das Judentum“ schon im 19. Jahrhundert und mehr noch im 20. Jahrhundert ein sich ständig wandelndes Konstrukt waren, das in unendlichen Varianten interpretiert werden konnte, findet hier ebenso wenig Berücksichtigung wie die gänzlich unterschiedlichen Situationen, in denen revolutionäre Gesinnung ausgelebt wurde. Zudem müßte, um das angeblich spezifisch Jüdische herauszufiltern – wenn es denn existiert –, ein Vergleich mit Revolutionären und Bol’ševiki nicht-jüdischer Herkunft angestellt werden – sicher ein reizvolles, aber auch schwieriges Unternehmen.

Genauso gut ließe sich ein Titel denken wie „jüdischer Kapitalismus“, mit dem nicht nur suggeriert wird, daß der Kapitalismus eine jüdische Erfindung ist, sondern auch, daß Juden eine besondere Disposition zu Profit und Kommerz besitzen. Ansätze hierzu von seriösen Historikern wie Werner Sombart[5] hat es sogar gegeben; sie führten aber doch in eine Sackgasse und förderten nur antisemitische Stereotypen. Dabei wäre die eigentlich interessante Frage, warum die Existenz von Bankiers und von Bol’ševiki jüdischer Herkunft so panische Reaktionen hervorrief und offenbar immer noch hervorruft, nicht aber die gleichzeitige Existenz englischer, amerikanischer oder deutscher Bankiers oder deutscher, ungarischer und russischer Bol’ševiki und Kommunisten?

Eine ganz andere Frage wäre, was Minderheiten in der jüdischen Population und in anderen Teilen der Bevölkerung in Osteuropa dazu veranlaßt haben könnte, sich dem Bolschewismus oder später dem Kommunismus stalinistisch-sowjetischer Prägung zuzuwenden. Bezogen auf das Zarenreich wird man sicher auf die revolutionäre Gegenkultur als Anziehungsfeld verweisen können ebenso wie auf den sich auf diese Tradition berufenden Bolschewismus. Heikler, aber bisher kaum zu beantworten, ist die Frage nach der oft übertriebenen, aber zeitweilig doch überproportionalen Präsenz von Aktivisten jüdischer Herkunft in den Gewaltapparaten der frühen Sowjetunion,[6] ebenso wie in den 1950er Jahren vor allem in Ungarn,[7] aber offenbar auch in Polen.[8] Unterschieden sich deren Bewußtsein und Selbstverständnis von Angehörigen anderer ethnischer Herkunft? Läßt sich dieses Engagement mit Hinweis auf den Judenhaß der vorhergehenden Regime und auf die Pogrome des Bürgerkrieges erklären? Ähnliche Fragen stellen sich für die Generation von Kommunisten jüdischer Herkunft in Ungarn und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Rechtfertigten sie ihre Tätigkeit mit Bezug auf den Vorkriegs-Antisemitismus oder auf den Holocaust? Oder gilt nicht für beide Gruppen, daß sie Gefangene der polarisierenden, ganz auf Antikapitalismus fixierten Realitätswahrnehmung waren, die das besondere Drama der jüdischen Bevölkerung als solches kaum zu realisieren wußte?

Das sind offene Fragen, die noch intensiver Forschung bedürfen. Fürs erste jedenfalls ist es einfacher – und die folgenden Aufsätze stellen sich dieser Aufgabe –, Stereotypen und dem Mythos vom Juden und speziell vom jüdischen Bolschewismus nachzugehen.

Dietrich Beyrau

 


[1]   Sonja Margolina: Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Berlin 1992.

[2]   Helmut Altrichter (Hg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 1. München 1986, S. 325–326.

[3]   Michael C. Steinlauf: Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust, Syracuse/N.Y. 1997.

[4]   Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität. Dresden 2002.

[5]   Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911.

[6]   L.Ju. Kričevskij: Evrei v apparate VČK-OSPU v 20-e gody, in: O. V. Budnickij (Hg.): Evrei i russkaja revoljucija. Materialy i issledovanija. Moskva/Jerusalem 1999, S. 320–350.

[7]   Charles Gati: Hungary and the Soviet Bloc. Durham/N.C. 1986. S. 100ff.

[8]   Jeff Schatz: The Generation. The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland. Berkely 1991.