Titelbild Osteuropa 6/2003

Aus Osteuropa 6/2003

Editorial
Die EU vor der Überdehnung? Einladung zur Debatte über die Zukunft Europas

Manfred Sapper, Volker Weichsel

(Osteuropa 6/2003, S. 763)

Volltext

Kein Zweifel, es tut sich was in Europa: In Brüssel tagt der Europäische Konvent, um einen Verfassungsentwurf für die Europäische Union zu erarbeiten. In Slowenien, Ungarn, Litauen und der Slowakei haben die Bürgerinnen und Bürger in Referenden für den EU-Beitritt gestimmt. Rußland und die EU planen einen Gemeinsamen Europäischen Wirtschaftsraum. Und für den Umgang mit den künftigen osteuropäischen Nachbarn jenseits der erweiterten Union kursieren erste Blaupausen der EU. Doch merkwürdig: Eine breite Diskussion in Politik und Öffentlichkeit über all das findet nicht statt. Die Diskussionen im Konvent über die Verfassung und die damit verbundenen unterschiedlichen Ordnungsmodelle erregen nicht die Gemüter. Die Substanz des Gemeinsamen Wirtschaftsraums bleibt unklar. Wieviel Erweiterung kann die EU verkraften, ohne ihre Funktions- und Handlungsfähigkeit zu verlieren? Von öffentlicher Meinungsbildung keine Spur. Das Schweigen spricht Bände: Es zeigt, wie gering der Stellenwert von Europapolitik in den Parteien und Medien ist. Selbst eine wissenschaftliche Debatte findet kaum statt. Doch diese intensive Debatte in Wissenschaft und Öffentlichkeit ist unverzichtbar, weil nur so europapolitische Konzepte auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden können. Denn Fakt ist: Europa bleibt auch nach der Erweiterung 2004 mehr als die EU. Und die Interdependenzen in Wirtschaft, Umwelt, Sicherheit und Politik sind so ausgeprägt, daß es kurzsichtig und verantwortungslos ist, Entwicklungen jenseits der EU zu ignorieren. Das sind die Lehren aus Černobyl’ und den Kriegen auf dem Balkan. Doch wer die Interdependenz anerkennt, offenbart noch nicht, wie er mit ihr umzugehen gedenkt. Idealtypisch stehen sich zwei Ansätze gegenüber: Der erste versucht, die Interdependenz zu verringern und klare Grenzen zu ziehen, um Überdehnung und Zerfall zu verhindern. Der zweite versucht die Interdependenz zu erhöhen, um Einfluß auf die relevanten Prozesse vor Ort zu gewinnen, da die wechselseitige Abhängigkeit ohnehin nicht abzuschaffen ist. Hinter beiden Versuchen stehen unterschiedliche Rationalitätsabwägungen, aber auch unterschiedliche Europabilder und Europamodelle. Es ist an der Zeit, darüber die Debatte zu führen. Osteuropa stellt dafür seine Seiten zur Verfügung. Den Auftakt macht Eckart D. Stratenschulte mit einem prononcierten Urteil über das EU-Konzept zur neuen Nachbarschaft. Er plädiert dafür, mit Illusionen aufzuräumen und einen Schlußstrich unter die Erweiterung der EU zu ziehen. Der Weisheit letzter Schluß?