Titelbild Osteuropa 9-10/2003

Aus Osteuropa 9-10/2003

Die Stadt im Zeitalter ihrer touristischen Reproduzierbarkeit

Boris Groys

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Abstract

Die ursprüngliche Idee der Stadt ist die Isolation, innerhalb derer sie sich ständig zerstört und wieder erneuert. Diese Stadtidee ist jedoch überholt. Sie wurde von einem konservativen Tourismus abgelöst, der durch Betrachtung Monumente für die Ewigkeit schuf. Die globale Vernetzung setzt die Stadt nun wieder in einen geographischen Kontext. Der postmoderne totale Tourismus homogenisiert die Städte. Sie werden weltweit reproduziert. Ort der Utopie ist nicht mehr die Stadt, sondern die Zukunft. In der Zukunft wird der Kosmos zum neuen Utopos.

(Osteuropa 9-10/2003, S. 1378–1385)

Volltext

Die Stadt entstand ursprünglich als Zukunftsprojekt: Man zog vom Land in die Stadt, um sich den alten Mächten der Natur zu entziehen und eine neue Zukunft aufzubauen, die man selbst bestimmen und kontrollieren konnte. Die ganze bisherige menschliche Geschichte ist durch diese Bewegung vom Land in die Stadt bestimmt – von dieser Bewegung erhält sie eigentlich ihre Richtung. Zwar wurde das Leben auf dem Lande immer wieder als das goldene Zeitalter der Harmonie und des „natürlichen“ Glücks stilisiert. Aber diese verschönerten Erinnerungen an das vergangene Leben in der Natur hinderten die Menschen keineswegs, den einmal eingeschlagenen historischen Weg weiterzugehen.

Die Stadt als solche hat also eine immanente utopische Dimension, weil sie sich jenseits der natürlichen Ordnung situiert. Der Ort der Stadt ist der Utopos. Früher umrissen die Stadtmauern den Ort, an dem die Stadt gebaut war, und markierten dadurch seinen utopischen Charakter deutlich. Und übrigens: Je utopischer eine Stadt sein sollte, desto schwieriger mußte es sein, diese Stadt zu erreichen und zu betreten, sei es das tibetische Lhasa, das himmlische Jerusalem oder das indische Shambala. Die traditionelle Stadt isolierte sich von der übrigen Welt, um ihren eigenen Weg in die Zukunft zu gehen. Die genuine Stadt ist also nicht nur utopisch, sondern auch anti-touristisch: Sie isoliert sich vom Raum und bewegt sich in der Zeit.

Der Kampf gegen die Natur hörte freilich auch innerhalb der Stadt nie auf. Schon Descartes stellt am Anfang seiner „Untersuchung über die Methode“ fest, daß die Städte, die historisch gewachsen sind und sich deswegen der Irrationalität der natürlichen Ordnung nicht vollkommen entziehen konnten, eigentlich vollständig niedergerissen werden sollten, um am leer gewordenen Ort eine neue, vernünftige, vollkommene Stadt aufzubauen. Später forderte Le Corbusier, die historischen Städte inklusive Paris zu sprengen, um an ihrer Stelle neue Städte der Vernunft zu bauen. Der utopische Traum von der  vollständigen Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der städtischen Umwelt führt also zur Entfaltung einer historischen Dynamik, die sich im permanenten Umbau aller Bereiche des städtischen Lebens manifestiert. Das Streben nach der Utopie zwingt die Stadt zur permanenten Selbstüberwindung und Selbstzerstörung. So ist die Stadt zum Ort der Revolutionen, der Umbrüche, der ständigen Neuanfänge, der flüchtigen Mode, der permanent wechselnden Lebensstile geworden. Als geschützter Ort der Sicherheit gebaut, wurde die Stadt somit zur Bühne der Kriminalität, der Unsicherheit, der Zerstörung, der Anarchie und des Terrorismus. Demnach präsentiert sich die Stadt als eine Mischung aus Utopie und Dystopie, wobei die Moderne zweifelsohne mehr das Dystopische als das Utopische an der Stadt schätzt und liebt – die Dekadenz, die Gefahr, das Unheimliche.

Diese Stadt der ewigen Vorläufigkeiten ist oftmals literarisch beschrieben und kinematographisch inszeniert worden: Es ist die Stadt, wie sie zum Beispiel in „Blade Runner“ oder in „Terminator“ dargestellt wird, in der alles ständig der Sprengung und der Verbrennung freigegeben wird, weil immer erneut versucht wird, für das Kommende, für das Zukünftige einen freien Platz zu schaffen – und immer wieder wird die Ankunft des Zukünftigen verhindert und verschoben, weil die Überreste des schon Gebauten sich nicht vollständig abtragen lassen und die laufende Vorbereitungsphase nie zum Abschluß kommen kann. Wenn es in unseren Städten im Endeffekt überhaupt etwas Dauerhaftes gibt, dann nur diese ständige Vorbereitung zur Schaffung von etwas Dauerhaftem, eine ständige Verschiebung der endgültigen Lösung, ein ständiges Umbauen, eine dauerhafte Reparatur und eine bruchstückhafte Anpassung an neue Notwendigkeiten.

Nun wurde aber dieser utopische Impuls, dieses Streben nach einer idealen Stadt in der Moderne mit der Zeit schwächer und schwächer – und allmählich von der Faszination des Tourismus abgelöst. Wenn wir heute mit dem Lebensangebot in unserer eigenen Stadt nicht mehr zufrieden sind, dann versuchen wir nicht, diese Stadt zu ändern, zu revolutionieren oder umzubauen, sondern wir fahren einfach in eine andere Stadt – für kurze Zeit oder für immer –, um dort das zu finden, was wir in unserer Stadt vermissen. Die Mobilität zwischen den Städten – in allen Formen des Tourismus und der Migration – hat sowohl unser Verhältnis zur Stadt wie auch unsere Städte selbst grundsätzlich verändert. Globale Vernetzung und Mobilität haben nämlich den utopischen Charakter der Stadt grundsätzlich in Frage gestellt – sie haben den städtischen Utopos wieder in die Topographie eines globalisierten Raums eingeschrieben. Nicht zufällig sprach McLuhan in Bezug auf diese globale Vernetzung nicht von einer Weltstadt, sondern von einem Weltdorf. Für einen Touristen wie auch für einen Migranten wird das Land, auf dem die Stadt steht, wieder zum Hauptthema.

Vor allem die erste Phase des modernen Tourismus, die ich als Phase des romantischen Tourismus bezeichnen möchte, hat eine dezidiert anti-utopische Haltung in bezug auf die Stadt produziert. Der romantische Tourismus im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts führte nämlich zu einer gewissen Erstarrung der Stadt, die als Summe der touristischen Sehenswürdigkeiten interpretiert wurde. Der romantische Tourist sucht nicht nach universalistischen utopischen Entwürfen, sondern nach kulturellen Differenzen und lokalen Identitäten. Sein Blick ist nicht utopisch, sondern konservativ – nicht in die Zukunft gerichtet, sondern an der Herkunft orientiert. Der romantische Tourismus ist eine Maschine zur Verwandlung des Vorläufigen ins Endgültige, des Zeitlichen ins Ewige, des Vergänglichen ins Monumentale. Wenn der Tourist eine Stadt auf seiner Durchreise besucht, präsentiert sich diese Stadt seinem Blick als ungeschichtlich, ewig, als eine Summe von Bauten, die immer schon da waren und auch immer so bleiben, wie sie jetzt sind – denn der Tourist kann den geschichtlichen Wandel einer Stadt nicht verfolgen und den utopischen Impuls, der die Stadt in die Zukunft trägt, nicht nachvollziehen. So kann man sagen, daß der romantische Tourismus die Utopie dadurch abschafft, daß er sie realisiert. Der touristische Blick romantisiert, monumentalisiert und verewigt alles, worauf er gerichtet ist. Und die Stadt paßt sich an diese realisierte Utopie an – an den Medusen-Blick des romantischen Touristen.

Die Monumente einer Stadt stehen nämlich nicht immer schon da und warten auf den Touristen, um von ihm gesehen zu werden, sondern erst der Tourismus schafft diese Monumente. Erst durch den Tourismus wird eine Stadt monumentalisiert – erst vor dem Blick des Touristen auf Durchreise wird der ständig fließende, ständig sich verändernde städtische Alltag zum monumentalen Bild der Ewigkeit. Und die Zunahme des Tourismus bedeutet auch eine zunehmende Geschwindigkeit der Monumentalisierung. Wir erleben heute eine Explosion der Ewigkeit oder, genauer gesagt, der Verewigung in unseren Städten. Heute sind es nicht nur anerkannte Monumente wie etwa der Eiffel-Turm oder der Kölner Dom, die uns aufbewahrungswürdig zu sein scheinen, sondern alles, bei dem wir das vertraute Gefühl haben: Ach, es war doch immer so und wird immer so sein. Auch wenn man etwa nach New York und in die South Bronx fährt und sieht, wie dort Drogendealer aufeinander schießen oder zumindest so aussehen, als würden sie gleich aufeinander schießen, bekommt diese Szene die Würde des Monumentalen. Man denkt: Ja, hier war es immer so und wird es immer so sein: diese malerischen Jungs und diese romantischen Stadtruinen und diese überall lauernde Gefahr. Und wenn man dann später in den Zeitungen liest, daß die Gegend saniert werden soll, ist man bestürzt und empfindet die gleiche Trauer, wie wenn man erfahren würde, daß der Kölner Dom oder der Eiffel-Turm gesprengt würde, um durch ein Kaufhaus ersetzt zu werden. Man denkt: Hier wird ein Stück authentischen, eigenartigen, anderen Lebens zerstört, hier wird alles erneut plattgemacht und banalisiert, hier geht das Monumentale und Ewige unwiderruflich verloren.

Aber diese Trauer ist verfrüht. Denn wenn man nach der Sanierung wieder in die gleiche Gegend fährt, denkt man: Wie ist hier alles doch wunderbar platt, häßlich, banal – hier war es offensichtlich immer schon so platt und wird es immer sein. Damit wird die Gegend re-monumentalisiert, weil das Alltägliche und Banale auf der Durchreise als genauso monumental erlebt wird wie das Außergewöhnliche. Nicht die innere Qualität eines Monuments entscheidet über seine Monumentalität, sondern diese Monumentalität ergibt sich allein aus dem ständigen Spiel der Monumentalisierung, Demonumentalisierung und Remonumentalisierung, das durch den Blick des romantischen Touristen in Gang gesetzt wird.

Zum ersten Mal wird die Figur des global reisenden Touristen auf der Suche nach ästhetischen Erlebnissen übrigens bei Kant philosophisch thematisiert – und zwar in seiner Analytik des Erhabenen (in der „Kritik der Urteilskraft“). Der romantische Tourist ist demnach derjenige, der sogar seinen eigenen Untergang als ein mögliches Reiseziel erkennt – und gleichzeitig als ein erhabenes Ereignis zu erleben imstande ist. Als Beispiele für das mathematisch Erhabene wählt Kant Berge oder Ozeane, die den normalen Maßstab des menschlichen Vorstellungsvermögens zu übersteigen scheinen. Für das dynamisch Erhabene nennt er gewaltige Naturereignisse wie Stürme, Vulkanausbrüche und sonstige Katastrophen, die durch ihre überragende Gewalt unser Leben direkt bedrohen, als Beispiele.

Nun sind diese Bedrohungen, zu denen der romantische Tourist reist, aber nicht als solche erhaben – so wie die städtischen Monumente nicht als solche monumental sind. Die Erhabenheit liegt nach Kant in „keinem Dinge der Natur“, sondern im „Vermögen, welches in uns gelegt ist“, die Dinge, die uns bedrohen, ohne Furcht zu beurteilen und zu genießen. Das Subjekt der unendlichen Vernunftideen ist also für Kant vor allem ein Tourist, der immer wieder das Ungewöhnliche, das Enorme und die Gefahr sucht, um seine Überlegenheit, seine Erhabenheit der Natur gegenüber unter Beweis zu stellen. Nun verweist Kant an einer anderen Stelle seiner Schrift aber zugleich darauf, daß etwa Alpenbewohner, die ihr ganzes Leben in den Bergen verbracht haben, diese keineswegs als erhaben betrachten und „alle Liebhaber der Eisgebirge ohne Bedenken für Narren“ halten.

Der Blick des romantischen Touristen bleibt also zu Zeiten Kants dem Blick des bäuerlichen Bergbewohners immer noch radikal fremd. Der Tourist verfügt über einen globalisierten Blick, für den etwa die Figur des Schweizer Bauern als Teil der Landschaft fungiert – und ihn deswegen gar nicht stört. Und für den Schweizer Bauern, der sich mit seiner unmittelbaren Umgebung beschäftigt und für sie Sorge trägt, ist der romantische Tourist ein Narr, ein Idiot, den er eigentlich nicht ernst nehmen kann. Inzwischen hat sich allerdings die Situation, wie wir wissen, wieder einmal völlig geändert. Auch wenn die jeweilige Bevölkerung einer Region den international reisenden Touristen nach wie vor für einen Narren hält, fühlt sich diese Bevölkerung – sicherlich vor allem aus ökonomischen Gründen – zunehmend verpflichtet, sich den globalisierten Blick, der auf sie selbst gerichtet ist, anzueignen und ihre eigene Lebensweise dem ästhetischen Geschmack des Besuchers, des Reisenden, des Touristen anzupassen. Und nicht nur das: Auch die Bergbewohner beginnen zu reisen und werden ihrerseits zu Touristen.

Die Zeit, in der wir jetzt leben, ist also eine Zeit des postromantischen, d.h. des komfortablen und zugleich des totalen Tourismus, der eine neue Phase in der Geschichte des Verhältnisses zwischen dem städtischen Utopos und der Topographie dieser Erde markiert. Diese neue Phase ist eigentlich leicht zu charakterisieren: Nicht nur einzelne romantische Touristen, sondern alle möglichen Menschen, Dinge, Zeichen und Bilder, die allen möglichen lokalen Kulturen entstammen, beginnen, ihre angestammten Orte zu verlassen und begeben sich auf eine Weltreise. Die strenge Opposition zwischen dem global reisenden romantischen Touristen und der lokal gebundenen seßhaften Bevölkerung verschwindet. Die Stadt wartet nicht mehr auf den Touristen – sie beginnt selbst, global zu zirkulieren, sich weltweit zu reproduzieren, sich in alle Richtungen auszubreiten. Und dabei bewegt und reproduziert sich die Stadt deutlich schneller, als der individuelle romantische Tourist sich zu bewegen vermag. Diese Tatsache ruft die heute weit verbreitete Klage hervor, daß sich alle Städte zunehmend ähneln, daß sie sich homogenisieren – daß man, wenn man als Tourist in eine neue Stadt kommt, dort das Gleiche sieht, was man immer schon in allen anderen Städten gesehen hat. Diese Erfahrung der Ähnlichkeit aller heutigen Städte untereinander legt dem Beobachter oft den falschen Schluß nahe, daß die lokalen kulturellen Besonderheiten, Identitäten und Differenzen im Prozeß der Globalisierung verschwunden sind. In Wahrheit sind sie nicht verschwunden, sondern haben sich ihrerseits auf die Reise gemacht – und begonnen, sich weltweit zu reproduzieren und zu verbreiten.

Längst können wir die chinesische Küche nicht mehr nur in China, sondern auch in New York, Paris und Dortmund genießen. Und wenn man sich dabei fragt, in welchem kulturellen Kontext die chinesische Küche am besten schmeckt, so muß die Antwort nicht unbedingt „China“ lauten. Wenn wir also heute nach China kommen und die chinesischen Städte meistens nicht als exotisch erleben, dann liegt es keineswegs allein daran, daß diese Städte etwa von der internationalen modernen Architektur westlichen Ursprungs geprägt sind, sondern auch daran, daß vieles „authentisch Chinesisches“, was man dort sieht, einem Besucher aus Amerika oder Europa ebenfalls immer schon gut vertraut ist, weil er dieses Chinesische in seiner eigenen Stadt erleben konnte. Das Lokale verschwindet also nicht – vielmehr wird es global. Die Unterschiede zwischen den Städten werden zu innerstädtischen Unterschieden. Es entsteht eine globale Weltstadt, die das globale Dorf ersetzt.

Diese Weltstadt fungiert als eine Maschine der Reproduktion, die alles Lokale, das in einer bestimmten Stadt entsteht, relativ schnell in allen anderen Städten der Welt reproduziert. So werden sich unterschiedliche Städte mit der Zeit mehr und mehr ähnlich, ohne daß dabei eine bestimmte Stadt für alle anderen Städte als Modell dienen würde. Wenn in einem bestimmten Stadtteil von New York eine neue Variante von Rap Music auftaucht, beginnt sie schnell, den Klangraum anderer Städte zu beeinflussen – aber auch eine neue Sekte in Indien reproduziert ihre Ashrams schnell und verbreitet sie über die ganze Welt.

Vor allem aber verbringen die Künstler und Intellektuellen von heute ihre meiste Zeit auf Durchreise – von einer Ausstellung zur anderen, von einem Projekt zum anderen, von einem Vortrag zum anderen, von einem lokalen kulturellen Kontext zum anderen. Von jedem einzelnen aktiven Teilnehmer der heutigen Kulturszene wird erwartet, daß er seine Produktion einer globalen Öffentlichkeit anbietet und bereit ist, ständig von einem Ort zum anderen zu ziehen und seine Arbeit überall gleich überzeugend zu präsentieren. Mit diesem Leben auf Durchreise sind sowohl Hoffnungen wie auch Ängste verbunden. Zunächst einmal bietet sich dem Künstler die Möglichkeit, dem Druck eines lokal herrschenden Geschmacks auf relativ schmerzlose Weise zu entgehen. Dank der heutigen Kommunikationsmittel kann der Künstler nach Gleichgesinnten überall auf der Welt suchen, statt zu versuchen, sich dem Geschmack und den kulturellen Orientierungen seiner unmittelbaren Umgebung anzupassen.

Damit ist übrigens auch der Zustand einer gewissen Entpolitisierung der heutigen Kunst zu erklären, der heutzutage so oft beklagt wird. Der Künstler von früher, der kein Verständnis für sein Werk innerhalb seiner lokalen Kultur finden konnte, projizierte seine Hoffnungen vor allem auf die Zukunft – auf politische Veränderungen, die einen neuen, zukünftigen Betrachter ins Leben rufen sollten. Heute hat der utopische Impuls seine Richtung gewechselt: Man sucht nach Anerkennung nicht in der Zeit, sondern im Raum. Die Globalisierung hat die Zukunft als Ort der Utopie abgelöst. Statt einer avantgardistischen Politik der Zukunft praktiziert man heute eine Politik der Reise, der Wanderung, des Nomadentums, die aber die utopische Dimension wieder einführt, die in den Zeiten des romantischen Tourismus verloren zu sein schien.

Und das bedeutet: Als Reisende beobachten wir heute nicht so sehr unterschiedliche lokale Kontexte, sondern vielmehr andere Reisende im Kontext einer globalen, permanenten Reise, die mit dem Leben in der Weltstadt identisch geworden ist. Auch die heutige  städtische Architektur beginnt schneller zu reisen als ihre Betrachter. Sie ist fast immer – oder zumindest meistens – schon da, wo die Touristen erst noch ankommen müssen. Im Geschwindigkeitswettbewerb zwischen Tourist und Architektur verliert heute der Tourist. So ärgert den Touristen die Tatsache, daß er überall auf die gleiche Architektur trifft, doch gleichzeitig beobachtet und bewundert er, wie erfolgreich sich eine bestimmte Architektur in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten durchzusetzen vermag. Wir sind heute bereit, vor allem diejenigen künstlerischen Strategien ästhetisch reizvoll und überzeugend zu finden, die imstande sind, eine Kunst zu produzieren, die sich weltweit, in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten und unter den unterschiedlichsten Bedingungen der Wahrnehmung gleichermaßen gut behaupten kann. Was uns heute fasziniert, sind gerade nicht die lokal bedingten Differenzen und kulturellen Identitäten, sondern die künstlerischen Formen, die ihre eigene Identität und Integrität überall gleich behaupten können. Da wir alle zu Touristen geworden sind und somit nur andere Touristen beobachten können, bewundern wir bei allen Dingen, Bräuchen und Verfahren vor allem ihre Fähigkeit zur Reproduktion, zur Verbreitung, zur Selbsterhaltung, zum Überleben unter unterschied­lichsten lokalen Bedingungen.

Die Strategien des postromantischen, totalen Tourismus lösen heute somit die alten Strategien der Utopie und der Aufklärung ab. Überkommene Architektur- und Kunststile, politische Vorurteile, religiöse Mythen und traditionelle Bräuche sind heute nicht mehr dazu da, um im Namen des Universalen überwunden, sondern um touristisch reproduziert und weltweit verbreitet zu werden. Die heutige Weltstadt ist homogen, ohne universal zu sein. Früher glaubte man, daß man erst dann universal denken und schaffen könne, wenn man sich als imstande erweist, seine eigene, lokale Tradition im Namen des Universalen und Allgemeingültigen zu transzendieren. Deswegen war die Utopie der radikalen Avantgarde reduktionistisch: Zunächst einmal wollte sie zu einer reinen, elementaren Form kommen, die alles Historische und Lokale abstreift, um dann für diese Form eine universale, globale Geltung zu beanspruchen. So ist die Kunst des klassischen Modernismus verfahren – erst die Reduktion auf das Wesentliche, dann die weltweite Verbreitung. Die heutige Kunst und Architektur verbreitet sich dagegen global, ohne eine solche Reduktion auf das Wesentliche und Allgemeingültige zu vollziehen.

Die Möglichkeiten der globalen, universalen Vernetzung, Mobilität, Reproduktion und Verbreitung haben die traditionelle Forderung nach der Universalität der Form oder des Inhalts obsolet gemacht. Heute kann sich jede kulturelle Form verbreiten, ohne daß von ihr verlangt wird, von sich selbst einen Anspruch auf Universalität zu erheben. Die Universalität des Denkens wird durch die Universalität der medialen Verbreitung eines jeden lokalen Gedankenguts ersetzt. Die Universalität der künstlerischen Form wird durch die globale Reproduktion einer jeden lokalen Form ersetzt. Als Folge wird der heutige Betrachter ständig mit der gleichen urbanen Umgebung konfrontiert, ohne daß man zugleich sagen könnte, daß die formale Beschaffenheit dieser Umgebung in irgendeinem Sinne „universal“ wäre. In den Zeiten der Postmoderne wurde die Architektur, die in der Nachfolge des Bauhauses praktiziert wurde, als eine monotone und reduktionistische kritisiert – als eine Architektur, die alle lokalen Identitäten einebnet und auslöscht. Heute verbreitet sich aber jeder lokale Stil genauso global, wie früher sich allein der internationale Stil verbreitet hat. So entsteht infolge des totalen Tourismus eine Homogenität ohne Universalität – eine wirklich neue, eine genuin gegenwärtige Entwicklung.

Wir haben es also im Kontext des totalen Tourismus erneut mit einer Utopie zu tun, aber mit einer Utopie, die sich von der statischen Utopie der Stadt radikal unterscheidet, die sich von der übrigen Topographie, vom übrigen Land abgrenzt. So leben wir nämlich heute in einer Weltstadt, in der Wohnen und Reisen identisch geworden sind – und der Unterschied zwischen Bewohnern und Besuchern nicht mehr wahrnehmbar ist. Die Utopie der ständigen globalen Bewegung hat die Utopie einer ewigen universalen Ordnung abgelöst. Dementsprechend hat sich auch die dystopische Dimension dieser Utopie geändert – terroristische Zellen und neue Drogen reproduzieren sich in allen Städten der Welt genauso schnell wie etwa Prada-Boutiquen.

Nun haben interessanterweise schon einige radikale Utopisten der russischen Avantgarde am Anfang des vergangenen Jahrhunderts Projekte für Städte der Zukunft entworfen, in denen alle Wohnungen und Häuser erstens gleichförmig und zweitens beweglich sein sollten. Auf eine wunderbare Weise wird hier die touristische Reise selbst zum Reiseziel. So schlug der Dichter Velimir Chlebnikov vor, alle Bewohner Rußlands in bewohnbare gläserne Zellen auf Rädern zu plazieren, damit sie überall hinfahren und alles sehen – und zugleich auch ungehindert gesehen werden können. Der Tourist und der Stadtbewohner werden dadurch identisch – und alles, was ein Tourist überhaupt betrachten kann, sind andere Touristen. Kasimir Malevič hat übrigens das Projekt von Chlebnikov insofern weitergeführt, als er suggerierte, jeden Menschen in ein individuelles kosmisches Schiff zu setzen, so daß er ständig im Kosmos schweben und von einem Planet zum anderen fliegen kann. Der Mensch wird hier endgültig zu einem ewigen Touristen, der ständig auf Reisen ist und dadurch selber – isoliert in seiner individuellen und stets sich selbst identischen Zelle – zu einem Monument wird. Das ist eine Vision, die man z.B. auch in der bekannten Fernsehserie „Raumschiff Enterprise“ findet, wo das Raumschiff zu einem sich ständig bewegenden, utopischen oder monumentalen Raum wird, der sich über die unzähligen Episoden dieser Serie hinweg nie ändert, obwohl – oder gerade weil – er sich ständig mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Die Utopie tritt hier auf als Überwindung der Opposition zwischen Bleiben und Reisen, Seßhaftigkeit und Nomadentum, Komfort und Gefahr, Stadt und ländlicher Umgebung – als Schaffung eines totalen Raums, in dem die Topographie der Erdfläche mit dem Utopos der ewigen Stadt identisch wird.

Diese utopische Überwindung der Topographie wurde übrigens auf sehr eindrucksvolle Weise bereits in der Zeit der Romantik gedacht. Das belegt eine Stelle aus der Schrift „Ästhetik des Häßlichen“ (1853) des Hegelschülers Karl Rosenkranz:

Nehmen wir zum Beispiel unsere Erde, so würde sie, um als Masse schön zu sein, eine vollkommene Kugel sein müssen. Das ist sie aber nicht. Sie ist angeplattet an den Polen und geschwellt am Äquator, außerdem auf ihrer Oberfläche von der größten Ungleicheit der Erhebung. Ein Profil der Erdrinde zeigt uns, bloß stereometrisch betrachtet, das zufälligste Durcheinander von Erhebung und Vertiefung in den unberechenbarsten Umrissen. So können wir auch von der Oberfläche des Mondes nicht sagen, daß sie mit ihrem Gewirr von Höhen und Tiefen schön sei.

Die Menschheit war in der Zeit, als dieser Text entstand, von der Möglichkeit der Raumfahrt technisch noch weit entfernt. Das Subjekt der globalen ästhetischen Betrachtung wird hier aber trotzdem im Geiste einer avantgardistischen Utopie oder eines Sci-Fi-Films als ein Außerirdischer dargestellt, der mit einem Raumschiff aus dem All kommt und aus einer komfortablen Distanz heraus das Aussehen unseres Sonnensystems ästhetisch beurteilt. Dabei wird diesem Außerirdischen freilich unterstellt, daß er einen ausgesprochen klassizistischen Geschmack hat und deswegen unsere Erde und ihre unmittelbare Umgebung nicht als besonders schön empfindet. Doch wie auch immer sein ästhetische Urteil ausfallen mag, eines ist klar: Hier manifestiert sich bereits der Blick eines vollendeten Stadtbewohners, der sich im Utopos des schwarzen kosmischen Raums ständig bewegt und auf die Topographie dieser Welt aus einer touristischen, ästhetischen Distanz schaut.

 

 


Boris Groys (1947), Professor für Philosophie und Kunstwissenschaft an der Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe

Der Beitrag erschien in einer kürzeren Version zuerst in: Wolfgang Eichwede/Regine Kayser (Hg.): Berlin – Moskau. Metropolen im Wandel. Berlin 2003, S. 136–139.

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