Titelbild Osteuropa 9-10/2003

Aus Osteuropa 9-10/2003

Editorial
Europäische Gymnastik

Mischa Gabowitsch, Il’ja Kalinin, Irina Prochorova, Manfred Sapper, Volker Weichsel, Anton Zolotov

(Osteuropa 9-10/2003, S. 1212–1214)

Volltext

Dieses Heft ist eine gymnastische Herausforderung. Der Akrobat auf dem Titelblatt steht kopf. Für ihn sieht die Welt gewiß ein bißchen anders aus als für die zweite Figur auf demselben Podest. Wer mehr Standfestigkeit beweist, ist ebenso eine offene Frage wie die, wer dabei mehr sieht. Der andere Blick auf die Welt ist Programm, schließlich führt nur er zu ungewohnten Perspektiven, aus Ansichten können Einsichten und aus neuerlicher Reflexion kann Erkenntnis werden. Vor allem bei einem Thema, in dem „Rußland“ und „Europa“ in einem Atemzug genannt werden und das nach zweihundertjähriger Debatte nur noch Verteidigungsreflexe auslöst: Was soll man dazu noch sagen? Wir meinen: einiges, wenn man andere Wege einschlägt, neue Fragen stellt und die Zeitläufte berücksichtigt. Deshalb haben sich die beiden Periodika Osteuropa und Neprikosnovennyj zapas für das vorliegende Heft zusammengetan. Neprikosnovennyj zapas ist in den knapp fünf Jahren seines Erscheinens zu einer der besten europäischen Zeitschriften für Politik und Kultur gereift, Osteuropa gehört seit über fünf Jahrzehnten zu den renommiertesten akademischen Monatszeitschriften in Europa, die Fundiertes über Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in Europas Osten zu sagen hat. Einen Anstoß für dieses Heft gab die Frankfurter Buchmesse, zweifellos eines der wichtigsten jährlichen Kulturereignisse in Europa. 2003 steht dort Rußland im Mittelpunkt. In kultureller Hinsicht ist Rußland integraler Bestandteil Europas. Das ist so banal, daß es keiner besonderen Erwähnung mehr bedarf, aber Anlaß genug, das Thema aufzugreifen und es auf andere Felder auszudehnen. Gleichzeitig geht es um mehr: Das vorliegende Heft ist der Versuch, aus den Bahnen getrennter nationaler Öffentlichkeiten auszubrechen, europäische Fragen europäisch zu diskutieren und zusammenzuführen, was zusammengehört. An die Stelle der Monologe übereinander, welche die russisch-europäischen Spiegelungen der Herbersteins, Čaadaevs oder Custines dominiert haben, tritt der gemeinsame Dialog. Deshalb erscheint das Heft gleichzeitig in einer deutschen und einer russischen Variante. Es ist das Ergebnis einer monatelangen, intensiven Kooperation zwischen Berlin und Moskau, die allen Beteiligten mehr als einen Spagat abverlangte: den Redakteuren jenen, daß sie sich auf unterschiedliche Textgenres, Schreibkulturen und Wissenschaftsstile einlassen und eigene Gewißheiten zur Dispositionen stellen mußten sowie den Autorinnen und Autoren jenen, daß sie sich in Argumentation und Stil auf zwei unterschiedliche akademische Kulturen und Lesegewohnheiten einzulassen hatten. Nun ist es an Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, zu überprüfen, inwiefern der Spagat gelungen ist. Der andere Blick auf „Rußland in Europa“ fällt in drei Räume: in den kulturellen Raum, den städtischen Raum und auf den kontinentalen Raum. Im kulturellen Raum stehen Fragen nach den wechselseitigen Perzeptionen (und Fehlperzeptionen!) im Vordergrund: Was fällt einem zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller wie Jurij Andruchovyč zu Rußland ein, und wie war das früher, als prominente europäische Literaten Stalins Moskau besuchten? Was lehrt die Geschichte für Rußlands Zukunft in Europa, fragen sich Historiker – und wir uns, wie konkret funktionierte vom 18.–20. Jahrhundert jener Dialog der Kulturen in der klassischen Musik und welche Folgen haben der Markt und die Einbindung Rußlands in internationale und globale Kommunikations- und Kulturmärkte für die Literatur und den Buchmarkt eben in Rußland. Um den zweiten Raum überhaupt in den Blick zu bekommen, stellen sich Osteuropa/Neprikosnovennyj zapas auf den Kopf. Denn von oben, dort, wo die vermeintlich hohe europäische Politik „gemacht“ und in Szene gesetzt wird, auf den Gipfeltreffen und „Begegnungen auf höchster Ebene“, sind die Niederungen des kommunalen Alltags scheinbar nicht zu erkennen; zumindest sind sie in Strategiepapieren und geschliffen Kommuniqués der Regierungen und Ministerien höchst selten ein Thema. Doch unten, im städtischen Raum, liegen die Wurzeln der Vergangenheit Europas und entscheidet sich auch seine Zukunft. Der Marktplatz ist die Wiege der bürgerlichen Öffentlichkeit, die Stadt schuf die Demokratie, hier entstanden Verbände und organisierten sich Interessen, woraus Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze erst erwachsen kann. Es ist die kommunale Ebene, auf der sich die Steuerungsfähigkeit und die Legitimität des Staates und seiner Institutionen erweisen: Funktionieren die Schulen, die Krankenhäuser und die Infrastruktur? Es ist der lokale öffentliche Raum, in dem der Mensch agiert, Kultur schafft und seine Identität bildet. Der Bogen des zweiten Raumes ist breit: Er reicht vom mittelalterlichen Novgorod als res publica über die gefährdete kommunale Selbstverwaltung in Rußland bis zu Fallstudien über die dynamische Stadtentwicklung in Moskau, Sankt Petersburg, die nicht frei von Ambivalenzen ist, bis hin zu Karl Schlögels luzidem kulturhistorischen Vergleich der beiden Hauptstädte Berlin und Moskau, die im 20. Jahrhundert aus dem Kreis der Weltstädte herausgefallen waren und nun wieder Anschluß finden. Schließlich werfen wir mehr als einen Blick auf den kontinentalen Raum und nehmen politische und religiöse Werte, europäische Institutionen, Politikfelder und die Struktur der Wirtschaftsbeziehungen unter der Prämisse „Rußland in Europa“ unter die Lupe. Wahrscheinlich ist es dieser Raum, wo die Präposition „in“ die meisten Irritationen auslöst – zu Recht, denn sie macht gegenüber der traditionellen Gegenüberstellung „Rußland und Europa“ den Unterschied ums Ganze. Was ist die Substanz dieses „in“? Es geht um mehr als um Rußlands Mitgliedschaft in europäischen Organisationen wie der OSZE und dem Europarat. Die Beziehungen zwischen Rußland und den westeuropäischen Ländern, die wirtschaftliche Interdependenz, die Verflechtung der Gesellschaften, die Mobilität der Menschen, selbst die Annäherung der Wertekodizes waren noch nie so hoch wie heute. Gleichzeitig sind im letzten Jahrzehnt nicht nur Rußland und Westeuropa zusammengewachsen. Der ganze Globus ist kleiner geworden, die Kontinente sind näher zusammengerückt. Der technische Fortschritt im Bereich der Kommunikation und des Verkehrswesens hat es ermöglicht, die Ökonomie hat es gefordert und die Politik hat sich nicht widersetzt. Rußland ist nicht nur Europa nähergerückt, auch mit China und den USA sind die Verflechtungen gewachsen. Das kommt in der Teilhabe an der um Rußland erweiterten G–8 sowie im angestrebten Beitritt zur Welthandelsorganisation zum Ausdruck. Gleichzeitig gibt es auch eine scheinbar gegenläufige Tendenz: Vorderhand ist Rußland mit dem Zerfall der Sowjetunion geographisch nach Osten gerückt, sein Einfluß in Ostmitteleuropa auf ein Minimum gesunken. Zudem befinden sich erstmals die Ukraine und Belarus zwischen Rußland und Westeuropa. Die baltischen und die ostmitteleuropäischen Staaten stehen vor der Mitgliedschaft in der EU. Die Europäische Union gewinnt zunehmend die Form eines Staatenverbundes. Rußland, das einen EU-Beitritt weder anstrebt noch nach geltenden Beitrittskriterien in näherer Zukunft erreichen kann, sieht sich erstmals einem politischen Europa gegenüber, das mehr ist als das historische Konzert der europäischen Nationalstaaten. Doch es ist gerade das um die anderen slawischen Staaten verschlankte und machtpolitisch „entschlackte“ Rußland, das in Westeuropa als integraler Teil Europas akzeptiert wird und sich als solcher verstehen kann. Dies um so mehr, wenn Rußlands Europäisierung nach außen nicht mit einer politischen und kulturellen Restauration im Inneren einhergeht, sondern mit der Umsetzung dessen, was aus der Mitgliedschaft in OSZE und Europarat folgt: die Selbstverpflichtung auf Rechtstaatlichkeit, die Geltung der Menschenrechte und auf eine demokratische Ordnung. Die politische Aufgabe der Zukunft besteht darin, eine europäische Ordnung zu finden, in der Rußland unter Gleichen ist, ohne daß dabei ein Kreis von Gleichen entsteht, die gleicher sind als andere. Auch das ist eine Form der europäischen Gymnastik.